Seien Sie doch nicht beleidigt!

Vielfach hören wir heute von „Hass und Hetze im Netz“. Die Begriffe werden dabei so schwammig verwendet, dass oft nicht klar ist, was genau gemeint ist. Hass ist ja zunächst nur ein Gefühl, Wut auf jemand anderen etwa, oder sehr starke Wut. Da Gefühle subjektiv sind, gibt es keinen objektiven Standard, sondern man kann sie nur in vagen Begriffen umschreiben. 

Darüber hinaus muss man sich von seinen Gefühlen nicht mitreißen lassen, das heißt, man kann auf jemanden sehr wütend sein und dies auch äußern, etwa „Ich hasse Dich!“, ohne dass dies notwendigerweise bedeutet, dass man den anderen dadurch „in der Ehre herabzusetzen“ gedenkt – man beschreibt einfach nur sein inneres Erleben. 

Es kann zig Gründe geben, warum Menschen andere hassen. Es kann zum Beispiel auch Neid sein, also dass man dem anderen etwas nicht gönnt. Es soll Menschen geben, die „Reiche“ hassen.

Im Folgenden geht es – wie stets in dieser Kolumne – um eine handlungslogische (praxeologische) Einordnung, nicht um eine juristische Betrachtung. Beleidigung ist de lege lata strafbar nach positivem, also gesetztem beziehungsweise – praxeologisch betrachtet – aufgezwungenem Recht, aber aus handlungslogischer Sicht handelt es sich bei der schlichten Beleidigung nicht einmal um ein sogenanntes „Victimless Crime“ („Opferloses Verbrechen“), sondern das „Opfer“ einer Beleidigung wäre eher als „Crimeless Victim“ zu bezeichnen. 

Herabsetzendes Werturteil

Bei einer Beleidigung geht es – anders als bei übler Nachrede oder Verleumdung – nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile, die geeignet sind, den anderen in seiner Ehre herabzusetzen. Aus der subjektiven Wertlehre der Praxeologie wissen wir aber, dass ein Werturteil nur etwas über den Bewertenden aussagt und nichts über das oder den Bewerteten, was unmittelbar für einen Dritten Gültigkeit haben müsste. Wert ist nicht intrinsisch in Sachen oder anderen Personen, sondern im Bewertenden. 

Wert ist subjektiv und situativ, das heißt, ein Glas Wasser kann für einen in der Wüste Verdurstenden einen höheren Wert haben als ein Diamant– es sei denn, ihm macht das Verdursten nichts aus (die subjektive Komponente eben). 

Der Mensch handelt, heißt: Er setzt Mittel ein, um Ziele zu erreichen. Wie er die Mittel bewertet, leitet sich davon ab, wie er die damit verfolgten Ziele bewertet, und das letzte Ziel des Handelns ist stets ein inneres: die Zunahme der Zufriedenheit. 

Wenn beispielsweise Anton den Karl eine „Ratte“ nennt, dann sagt das nur etwas über Antons subjektive Meinung in der konkreten Situation über Karl aus. Wir erfahren etwas darüber, was Anton von Karl hält, mehr nicht. Ob sich Karl damit „unzufrieden“ oder unglücklich machen möchte, hängt ganz allein von Karls Haltungen zu sich und der Welt ab. Hat Karl eher infantile Haltungen, wird er Antons Äußerungen unter Umständen zum Anlass nehmen, sich schlecht zu fühlen oder er könnte Anton dafür „hassen“. Karl kann es aber auch völlig gleichgültig sein, welche Meinung Anton über ihn hat. Karl kann es auch ganz amüsant finden, zu beobachten, wie Anton sich aufregt und den untauglichen Versuch unternimmt, Karl mit einer bloßen Äußerung eines Unwerturteils „ungute Gefühle“ machen zu wollen.

Ob jemand „Opfer“ einer Beleidigung wird, hängt also nicht von der Beleidigung ab, sondern von den Einstellungen und Überzeugungen des Beleidigten. Widersprechen dessen Einstellungen den Schlussfolgerungen der Praxeologie und wähnt er, dass es so etwas wie „objektiven Wert“ geben könnte oder dass das Werturteil eines anderen etwas Allgemeingültiges über ihn selbst aussagen könnte und nicht lediglich etwas über den Aussagenden, dann kann er sich damit unzufrieden machen. Das ist aber dann seine Sache. 

Bei einer „erfolgreichen“ Beleidigung handelt es sich also nicht um den Fall eines „opferlosen Verbrechens“, sondern um den Fall eines „verbrechenslosen Opfers“, denn es fehlt an einer feindlichen Tathandlung. Der Beleidigende setzt weder Drohung oder Zwang noch Täuschung ein, um einen anderen zu einer Handlung oder Unterlassung zu bringen, noch setzt er tatsächliche Gewalt ein, um einen anderen an dessen Körper oder Besitz zu schädigen.

Die öffentliche Debatte, dass Menschen anderen Menschen durch die Äußerung von Werturteilen Gefühle „machen“ könnten, führte dazu, dass von „Snowflakes“ (Schneeflocken) die Rede war. Jede beliebige Handlung, selbst eine friedliche oder freundliche, kann eine andere Person zum Anlass nehmen, sich damit Gefühle zu machen, die sie selbst als negativ bewertet, wie etwa Wut oder Niedergeschlagenheit.

Jemand kann sich darüber aufregen, welche Kleidung ein anderer trägt oder ob er eine Tätowierung hat oder gar wegen einer Hautfarbe, die ihm nicht passt, etwa über „alte weiße Männer“. Gefühle sind die Folge von Einstellungen und Überzeugungen des Fühlenden und nur mittelbar die Folge von Geschehnissen der Außenwelt. Entscheidend ist die mentale Beschaffenheit des Fühlenden, nicht was „außen“ vor sich geht.

Tätliche Beleidigung

Eine Beleidigung kann auch durch eine unmittelbare körperliche Einwirkung begangen werden, etwa anspucken oder eine – sehr leichte – Ohrfeige, also wenn nicht die körperliche Einwirkung im Vordergrund steht, sondern die Handlung im Kern ein Unwerturteil darstellt. Die Grenzen zur Körperverletzung sind allerdings schwammig, da Leid eben subjektiv ist, und angespuckt oder geohrfeigt zu werden, ist für manche Menschen eine sehr ekelerregende oder unangenehme körperliche Einwirkung. 

Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Jesus-Wort aus dem Evangelium „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ (Mt. 5, 39) Freilich etwas außerhalb des Gesamtkontexts interpretiert kann dies bedeuten, eine Beleidigung nicht ernst zu nehmen, weil sie eben „kein Ding“ ist. Schließlich führt Jesus als Beispiele (Streit um einen Rock, eine Meile mitgehen) Lappalien an, so dass man an den Ausspruch „de minimis non curat lex“ denken könnte, also dass sich das Recht nicht um Kleinigkeiten kümmert. Der Sinn wäre dann, dass man wegen Kleinigkeiten keine Händel anfangen sollte. Schließlich sagt Jesus ja nicht, wenn dir jemand deinen linken Oberschenkel absägt, biete ihm auch den rechten dar, sondern die Rede ist von einer Ohrfeige.

Unwahre Tatsachenbehauptungen

Etwas anderes als Beleidigungen sind die Fälle der „üblen Nachrede“ oder „Verleumdung“, bei denen es nicht um bloße abschätzige Werturteile geht, sondern um falsche Tatsachenbehauptungen, die geeignet sind, den anderen in der Wertschätzung seiner Mitmenschen „herabzuwürdigen“. Allerdings gibt es einen Graubereich, was Tatsachenbehauptungen sind und was Werturteile. Man denke nur an Begriffe wie „Kriegstreiber“ oder „Krimineller“. Diese können sich – je nach Kontext – sowohl auf überprüfbare Tatsachen beziehen als auch lediglich eine herabwürdigende Meinungsäußerung darstellen.

Die Aussage Joschka Fischers 1984 zum damaligen Bundestagsvizepräsidenten „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, war beispielsweise eine Beleidigung, aber keine verleumderische Beleidigung. Es lag ein Unwerturteil vor, aber keine überprüfbare Tatsachenbehauptung. Da Joschka Fischer jedoch Abgeordneter des Deutschen Bundestages war, konnte er für sich „Indemnität“ in Anspruch nehmen, das heißt, einfache Beleidigungen werden in den hohen Häusern des Bundestages und der Landtage nicht bestraft, sondern es müsste sich schon um „verleumderische Beleidigungen“ handeln.

Aus dem Elfenbeinturm der Politik zurück in die normale Wirklichkeit. Wenn Anton wissentlich fälschlicherweise behauptet, Bäcker Karl würde seine Rechnungen nicht bezahlen oder stelle seine Brötchen unhygienisch her, dann setzt er das Mittel der Täuschung ein, um andere zu einer Handlung oder Unterlassung zu bewegen. Geschädigt sind hier sowohl die Kunden und Lieferanten des Karl, die ansonsten mit Bäcker Karl Verträge abgeschlossen hätten, als auch Karl selbst. Weil Verträge nach der Vorstellung der Beteiligten stets auf eine Win-win-Situation abzielen, sind sie mittelbar in ihrem Besitz an Sachen geschädigt. Sie besitzen nun jeweils Sachen, die ihnen weniger wert sind, als ohne die Täuschung. Bäcker Karl behält sein Brötchen und erhält keine 40 Cent vom Kunden hierfür, die ihm mehr wert gewesen wären, und umgekehrt.

Der Schaden, der dem Verleumdeten unmittelbar entsteht, ist, dass ihm das Wohlwollen entzogen wird, und zwar aufgrund einer Lüge oder Täuschung. Das Wohlwollen der anderen Menschen ist ein wichtiges Kapital für jede Firma, aber auch für alle nichtgeschäftlichen Unternehmungen von Menschen. Es ist für die meisten Menschen keineswegs eine Lappalie, wenn ihnen das Wohlwollen ihrer Mitmenschen durch eine Verleumdung entzogen wird. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Intrigen, übler Nachrede, Hetze und Lügen, um anderen Menschen Schaden an deren Ruf zuzufügen und diesen das Wohlwollen anderer zu entziehen. 

Schlussbetrachtung

In der heutigen Zeit erleben wir, dass manche außerordentlich empfindlich auf bloße „ehrenrührige“ Werturteile anderer reagieren, obwohl sie das handlungslogisch – wie dargelegt – nicht müssten. Es soll Politiker geben, die auch wegen einfachen Beleidigungen Strafanzeigen stellen. 

Andererseits ist beobachtbar, dass von Medienschaffenden Tatsachen „geframt“ oder „frisiert“ und bis zur Unkenntlichkeit mit Interpretationen von Tatsachen vermischt werden. Dann wird vorgeschützt, man habe doch gar keine unwahre Tatsachenbehauptungen vorgebracht, sondern lediglich Tatsachen „interpretiert“. 

Wir haben gesehen, dass aus handlungslogischer Sicht die „einfache“ Beleidigung keine feindliche Handlung ist. Ein Vorgehen gegen eine bloße Beleidigung mit Zwang stellt daher handlungslogisch weder eine Verteidigung noch eine Vergeltung dar, sondern ist selbst eine Aggression.

Wer sich seinen Mitmenschen gegenüber friedlich verhalten möchte, der kann sich an zwei praxeologischen Prinzipien friedlichen Handelns orientieren: „Primum non nocere!“, also „Zuallererst füge kein Leid zu!“, und „In dubio pro reo“, also „Im Zweifel für den Angeklagten“, zusammengefasst etwa „Im Zweifel füge kein Leid zu!“. Das würde dann einerseits bedeuten, bei bloßen Beleidigungen vom Einsatz von Zwang abzusehen, und andererseits, andere nicht zu verleumden. 

Dass diese Grundsätze friedlichen Zusammenlebens im heute tobenden „Kampf um die öffentliche Meinung“ oftmals missachtet werden, ist bezeichnend für eine Gesellschaft, in der viele Menschen keine friedliebenden Einstellungen zu sich und der Welt haben, sondern feindselige Haltungen dominieren.

Quellen:

Das sind die derbsten Beschimpfungen im Bundestag (RND)

Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke)

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David Engels Blog

Frithjof Schuon, Prophet der Tradition

Der Sandwirt Televisor

Demokratie früher und heute

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