Sieben Theoreme gegen die Demokratie

Das System der demokratischen Widersprüche #4

Die Krise demokratischer Politik ist zu einem nicht unerheblichen Teil ein Defekt der Entscheidungsregeln. Demokratie kann weder liberal noch wirklich funktionsgerecht sein.
Dies bezieht sich auf die Kennzeichnung der Demokratie als Entscheidung durch die Mehrheit in einem Zwangsterritorium (das Territorium kann die ganze Welt umfassen, wenn es einen Staat geben sollte, der die ganze Welt zu beherrschen versteht), nicht auf die Kennzeichnung der Demokratie als Minderheitenschutz oder als Garant von Menschen- oder Grundrechten.
Beide Kennzeichnungen, obwohl heute idealtypisch als Einheit verstanden, stehen in einem absoluten und unversöhnlichen Gegensatz zueinander, weil die Mehrheit jederzeit den Minderheitenschutz sowie die Menschen- oder Grundrechte negieren kann. Gegen die Demokratie als Entscheidungsverfahren in einem Zwangsterritorium sprechen sieben wichtige, einander ergänzende Gründe:

1. Das Tolstoi-Theorem. Die Mehrheit hat kein Recht über die Minderheit. Der Literat, Pazifist und Anarchist Leo Tolstoi (1828-1910) fragte, welchen Unterschied es mache, ob ein Mensch über 99 Menschen herrsche oder 51 über 49 Menschen herrschten. Dass die Frage nicht abstrakt ist, zeigt die Geschichte: Im Falle eines Juden-Pogroms ist es weniger bedeutsam, ob er vom Marxarchen Stalin oder von dem demokratisch gewählten Reichskanzler Hitler befehligt wurde.
Liberale Denker erkannten die Gefahr in Mehrheitsentscheidungen früh und drangen darauf, dem Staat mit der Verfassung enge Grenzen zu stecken. Da die Verfassungen jedoch von der Mehrheit geändert werden können, ist das kaum mehr als ein Notbehelf.

2. Das Nozick-Theorem. Die Tolstoi’sche Formulierung, in der Demokratie herrschten 51 über 49, setzt voraus, dass jeder Einzelne wirklich über gleich großen Einfluss verfüge.
Der objektivistische Philosoph Robert Nozick (1938-2002) entwickelte hierzu ein bestechend einfaches Modell, das sogar ohne eine soziologische Annahme über die Meinungsbildung auskommt: Teilen wir die Bevölkerung in die drei Segmente von Ober-, Mittel- und Unterschicht. Stellen wir uns vor, die Unterschicht wollte zusammen mit der Mittelschicht ein Gesetz durchsetzen, das sie gegenüber der Oberschicht begünstige. Die finanzkräftige Oberschicht könnte der Mittelschicht immer ein Koalitionsangebot machen, das besser ist als das der Unterschicht.
Mit diesem Modell lässt es sich erklären, warum in der repräsentativen Demokratie zwar stets davon gesprochen wird, der Staat habe den Schwachen und Armen zu helfen, in Wirklichkeit jedoch die Maßnahmen des Staats immer zugunsten der «Besserverdienenden» ausfallen. Die soziologischen und ökonomischen Studien, die die Effekte von der Umverteilung untersuchen, kommen durchweg zu dem Ergebnis, dass nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben umverteilt werde.

3. Das Wolff-Theorem. Im Theorem von Nozick steckt noch die Illusion, dass jede gesellschaftliche Schicht «ihre eigenen Interessen» vertrete. Der Philosoph der Neuen Linken Robert Paul Wolff (*1933) wies jedoch darauf hin, dass der pluralistische Staat organisierte Interessengruppen begünstige. Um eine Absicht politisch durchsetzen zu können, bedarf es organisatorischer Anstrengungen: Vorhaben müssen von Juristen formuliert, in der Öffentlichkeit von PR-Experten dargestellt sowie bei den Abgeordneten durch Lobbyisten vertreten werden.
Wer seine Interessen nicht auf diese Weise vertreten lassen kann, erhält kaum die Möglichkeit, wahrgenommen zu werden. Das Nozick- ist mit dem Wolff-Theorem zu kombinieren: Eher Ober- und Mittelschicht-Interessen sind organisiert. Ihr Einfluss ist ungleich größer. Hinzu kommt, dass Interessenvertreter selbst dann zu der Mittel- oder Oberschicht zählen, wenn sie Unterschichtsinteressen vertreten sollen. Gewerkschaftsfunktionäre, die in Aufsichtsräten sitzen und über Aktienpakete verfügen, zählen soziologisch gesehen zur Oberschicht und nicht zur Arbeiterschaft.

4. Das Tullock-Theorem. Die Nozick- und Wolff-Theoreme setzen voraus, dass Wähler rational ihre Entscheidungen treffen. Viele der Ergebnisse demokratischer Abstimmungen lassen jedoch eher eine Irrationalität vermuten, so zum Beispiel wenn ein sozialdemokratischer Staatspräsident gewählt und ihm eine konservative Regierung an die Seite gestellt wird, mit der er nicht gut zusammen arbeiten kann, oder wenn aufgrund der Wahlergebnisse keine Regierungsmehrheiten entstehen, oder wenn Wähler sowohl für Steuersenkungen als auch für Ausgabensteigerungen stimmen.
Mit dem führenden Vertreter der Ökonomischen Theorie der Politik (Public Choice) Gordon Tullock (1922-2014) lässt sich die Irrationalität der Wahlergebnisse auf zwei Gründe zurückführen:
A. Die Wähler werden nicht direkt mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen konfrontiert. Die sachlogischen Zusammenhänge – zum Beispiel: mehr Ausgaben = höhere Steuern – sind zumeist aus den politischen Fragestellungen verbannt.
B. Wahlen differenzieren nicht zwischen Stimmen, die eine bestimmte Entscheidung durchdacht haben oder intensiv herbeisehnen, und denjenigen, die sich aus einer Augenblickslaune heraus entscheiden oder die eine Alternative der anderen bloß geringfügig vorziehen.
Beide Bedingungen laufen einem verantwortungsbewussten Entscheiden zuwider: Dieses verlangt, dass der Entscheider die Konsequenzen kenne und bereit sich zeige, sie auch selber zu tragen. Und verantwortungsbewusstes Entscheiden setzt voraus, dass der Entscheider sich kundig gemacht hat und dass er sich seiner Entscheidung gewiss ist.

5. Das Niskanen-Theorem. Jener Punkt im Tullock-Theorem, der das Fehlen eines Zusammenhangs von Steuereinnahmen mit Ausgaben thematisiert, lässt sich noch ergänzen mit einem Modell des Bürokratieforschers William Niskanen (1933-2011). Er untersuchte die Bestimmungsgröße für die staatliche Ausgabenpolitik.
Da die Benutzung öffentlicher Güter wie Straßen, Schulen usw. gebührenfrei ist, werden diese Güter nachgefragt, als würden sie objektiv nichts kosten (d.h. keine Ressourcen – Arbeit, Zeit, Material – aufzehren). Die öffentlichen Güter sind «scheinkostenlos», denn sie erscheinen dem Benutzer zwar kostenlos, müssen aber dennoch von allen Steuerzahlern finanziert werden.
Aus der Scheinkostenlosigkeit resultiert eine überhöhte Nachfrage. Gerade Entscheidungsgremien, die sich als bürgernah und demokratisch begreifen, tendieren dazu, überhöhte Nachfrage mit weiteren Ausgaben für die öffentlichen Güter zu beantworten.
Die Tullock- und Niskanen-Theoreme zusammen erklären, warum in der Demokratie Entscheidungen meist zu mehr Staatsausgaben führen. Dagegen gestaltet es sich schwieriger, eine Rückführung der Staatsquote durchzusetzen.

6. Das Hayek-Theorem. F.A. Hayek (1899-1992) fragte sich, warum am Beginn der liberalen Ära so große Politiker wie Thomas Jefferson oder Wilhelm von Humboldt standen, während es in der nachfolgenden Zeit immer weniger integre Menschen anzog, sich für Politik «herzugeben».
Sein Theorem besagte: Die Bedingungen, in einer etablierten Demokratie Amt und Würden zu erlangen, gehen gegen das Ideal intelligenter und ehrlicher Menschen: Derjenige Politiker, der Erfolg haben will, muss jeder Interessengruppe Zugeständnisse machen, auch wenn sie sich gegenseitig ausschließen oder wenn sie für die Gesellschaft als Ganzes negativ sind; er muss in der eigenen Partei machtbewusst handeln; er muss den Wählern versprechen, dass er sowohl mehr Ausgaben veranlassen als auch Steuern senken werde; er muss, um eigene Programmpunkte durchsetzen zu können, sachlich unsinnige Kompromisse eingehen; er muss, um von seinen Wählern akzeptiert zu werden, stets auf Stimmungsschwankungen reagieren.
Die diesen «Haltungen» entsprechenden Charaktereigenschaften sind wohl Machthunger, Skrupel- und Prinzipienlosigkeit, fehlende Wahrheitsliebe sowie ein ausgeprägter Populismus. Es versteht sich, dass ehrliche, begabte, gradlinige, kreative Menschen von vornherein geringe Chancen haben.

7. Das Arrow-Theorem. Der Mathematiker Kenneth Arrow (1921-2017) formulierte das «Wahlparadox». Das Theorem: Ergebnisse von Wahlen können, wenn es mehr als zwei Alternativen gibt, so ausfallen, dass niemand sie gewollt hat.
Lassen wir die mathematischen Feinheiten. Nehmen wir die Bundestagswahl 2021. Vermutlich hat die Mehrheit der Grünen-Wähler eine Koalition mit der FDP ausgeschlossen, während eine Mehrheit der FDP-Wähler eine Koalition mit den Grünen (und ebenso mit der SPD) ablehnten. Wahlsysteme, die wie in den USA und in Frankreich dazu tendieren, durch Vorwahlen oder mehrere Wahlgänge schließlich in eine Wahl zwischen Alternativen zu münden, stellen zwar kein mathematisches Problem dar, enden meist aber in ein zähneknirschendes Akzeptieren – und das auch nur durch diejenigen, die tatsächlich eine gültige Stimme abgeben. Die Nichtwähler werden in den Betrachtungen meist notorisch ausgeschlossen. Es ist leicht nachzurechnen, dass in parlamentarischen Demokratien meist keine Regierung zustande kommt, hinter der tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung steht.

Ein weiteres, von mir selbst beigesteuertes Theorem gegen die Demokratie als Mehrheitsherrschaft stelle ich in der nächsten Folge dieser Serie dar: Es gibt nicht nur einen absoluten und unversöhnlichen Gegensatz zwischen Demokratie als Mehrheitsherrschaft und Demokratie als Minderheitenschutz, sondern auch einen zwischen Demokratie als Repräsentation der (idealtypischen) Mehrheit und der Regel des «freien Mandats», die in den real existierenden parlamentarischen Demokratien aus wohl theoretischen als auch praktischen Erwägungen heraus durchgängig gilt.

Dieser Beitrag basiert auf: Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung: Demokratie und Faschismus, Berlin 2013.

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