Auf dem Plattenspieler: Soul Asylum

Künstler: Soul Asylum

Song: Runaway Train – veröffentlicht auf dem Album Grave Dancers Union, 1993 Columbia Records

Der Song „Runaway Train“ von Soul Asylum markiert mit seinem Musikvideo einen besonderen Moment der jüngeren Musikgeschichte – für mich einen der berührendsten. Es ist eines der seltenen Beispiele, in denen Musik ganz unmittelbar gesellschaftlich eingreift – mit konkreten Folgen, die über indirekte Wirkung weit hinausgehen.

Es war nichts Ästhetisches, nichts künstlich Provokantes, das die Band zeigte – sondern die Gesichter vermisster Kinder und Jugendlicher, die über das Video verteilt immer wieder eingeblendet wurden. Nicht als Metaphern, sondern als reale Menschen – mit Namen, Alter und dem Datum ihres Verschwindens. Und diese Bilder waren keine bloße dramaturgische Gestaltung, sondern kamen mit einem eindringlichen Appell: Helft mit. Haltet Ausschau. Und handelt, wenn ihr könnt!

Laut dem Regisseur, Tony Kaye, wurden durch das Musikvideo 21 Kinder und Jugendliche tatsächlich gefunden; andere Quellen sprechen sogar von bis zu 26. Die Zahlen variieren je nach Zählweise (ob nur direkt durch das Video oder auch durch Folgeeffekte) – doch klar ist: Es wurden dadurch Leben verändert, gerettet – und fatale Schicksale umgekehrt …

Wer Anfang der 1990er-Jahre an die grelle, verspielte Ästhetik von MTV gewöhnt war, dürfte kaum darauf vorbereitet gewesen sein, plötzlich mit den Gesichtern vermisster Minderjähriger im Programm konfrontiert zu werden. Für mich, der das Musikvideo zu Soul Asylums „Runaway Train“ erst Jahrzehnte später zum ersten Mal sah, und in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen ist, ist es wahrscheinlich schwer wirklich zu begreifen, was für ein Riesen-Schock sich damals in Wohnzimmern und Köpfen ausgebreitet haben muss. 

Soul Asylum brachten die Botschaft obendrein auf eine höchst persönliche Ebene: Das Video wurde regional angepasst, sodass, je nach Ausstrahlungsort, Vermisste aus dem jeweiligen Land gezeigt wurden. Dadurch entstand beim Zuschauer eine unmittelbare Nähe zur eigenen Lebenswelt, ein deutliches „das passiert nicht irgendwo, sondern genau hier, vielleicht sogar in meiner Nachbarschaft“. Auch die Einblendung am Anfang des Videos wurde angepasst – in den USA begann es beispielsweise mit dem Hinweis:

There are over one million youth lost on the streets of America.

Während die britische Version wie folgt startete:

100,000 youth are lost on the streets of Britain.

Und die Botschaft am Ende jeder Version lautete:

If you’ve seen one of these kids, or you are one of them, please call this number

… begleitet von einer der Kontakttelefonnummern für Vermisste des jeweiligen Landes. Wow!

Dass Soul Asylum, eine Rockband – keine Stiftung, keine Behörde – so etwas kreierte, finde ich äußerst bewundernswert. Ich meine, wie viele Künstler nutzen schon ihre Reichweite für so etwas? Dabei war Soul Asylum eine Band, die eigentlich ganz „anders“ angefangen hatte … 

Bereits Anfang der 1980er-Jahre formierten sich die Mitglieder in Minneapolis – zunächst unter dem Namen Loud Fast Rules. Frontmann Dave Pirner übernahm Gesang und Gitarre, Dan Murphy spielte hauptsächlich Gitarre und trug gelegentlich ebenfalls Gesang bei, Karl Mueller war am Bass, und Michael Bland am Schlagzeug.

Die Musikszene in Minneapolis jener Zeit war geprägt von einer rohen Energie, einem fast schon verzweifelten Hunger – Armut, Alkohol, Drogen und das ständige Musizieren bildeten den Alltag. Die Szene war überfüllt und chaotisch; ein Sammelbecken vermeintlich asozialer junger Menschen, die zwischen dem Traum vom großen Durchbruch und dem Abgrund balancierten. Es dauerte Jahre, bis Soul Asylum überhaupt Aufmerksamkeit erlangten. Trotz mehrerer veröffentlichter Alben blieb der Erfolg zunächst mehr als ein ganzes Jahrzehnt aus …

Doch gerade diese Phase offenbarte ihre besondere Stärke: Es war nicht der bloße Ehrgeiz, der sie antrieb, sondern eine unbeirrbare Hartnäckigkeit. Wie Thomas Alva Edison mal sagte: „I have not failed. I’ve just found 10,000 ways that won’t work.“ – diese Einstellung unterschied sie von den anderen Bands um sie herum. Sie trug Soul Asylum durch alle Widrigkeiten und formte sie zu der Gruppe, die letzten Endes nicht nur im musikalischen Mainstream, sondern auch gesellschaftlich bedeutende Spuren hinterließ. Geduld ist eben alles!

„Runaway Train“ ist 1992, auf dem Album „Grave Dancers Union“ erschienen, wurde 1993 auch als Single veröffentlicht – und wurde der so lang erwartete Durchbruch der Band. Der Track stach sofort heraus, auch fernab des Musikvideos, einfach aufgrund seiner Intensität allein – es ist ein Lied über die Suche nach Halt, über das Gefühl, sich selbst zu verlieren, über Depressionen auf dem Höhepunkt: 

Can you help me remember how to smile?

Make it somehow all seem worthwhile

How on Earth did I get so jaded?

Life’s mystery seems so faded

Dave Pirner spricht hier nicht über andere – er spricht von sich selbst. Es war seine persönliche Gefühls- und Gedankenwelt, die er zu Papier brachte und einsang. Und genau das ist vermutlich der Grund, warum es so tief trifft. Weil es echt ist – und das hört man: Pirners Stimme klingt unfassbar verletzlich und schonungslos ehrlich.

Die Instrumentierung von „Runaway Train“ klingt auf den ersten Blick unspektakulär – eine ruhige, fast melancholische Melodie, getragen von sanften Gitarrenklängen und einem unaufdringlichen Schlagzeugrhythmus. Doch gerade in dieser Schlichtheit liegt seine Kraft. Kein besonders lauter Ausbruch, kein dramatischer Höhepunkt – stattdessen ein beständiger, fast hypnotischer Fluss, der den Hörer mitnimmt auf eine stille Reise zwischen Hoffnung und Verzweiflung. So wird der Song zu einem Spiegel innerer Kämpfe, der weit über die Oberfläche hinaus berührt.

Einen so riesigen Erfolg wie „Runaway Train“ konnte die Band nicht mehr erreichen. Weitere Alben folgten zwar regelmäßig, auch mit Achtungserfolgen – aber nie wieder gab es solch einen großen Moment. Und genau das finde ich irgendwie total faszinierend.

Soul Asylums Geschichte, ihre Haltung, der Text des Songs, seine melancholische Tonalität, das Video mit seiner eindringlichen Botschaft – all das fügte sich bei „Runaway Train“ zu einem seltenen Gleichklang, der Gutes bewirkt hat. Fast magisch.

Sehen Sie hier das Musikvideo zu „Runaway Train“ von Soul Asylum auf Youtube.

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Der nächste Gang …

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