Stadtluft macht frei – Teil 1

Alte und neue Vorbilder 

Nicht für alles Gold dieser Welt werden wir unsere Freiheit verkaufen.
(Wahlspruch des Stadtstaates Ragusa, 1358–1808)

Es gibt wenig wirklich Neues unter der Sonne. Die freien Städte und Stadtstaaten der Antike und des Mittelalters sind genauso Vorläufer und Vorbild für Freie Privatstädte wie heutige, erfolgreiche Stadtstaaten. Das gilt natürlich nicht für alle Aspekte. Aber im Hinblick auf die besprochenen Grundprobleme menschlicher Gemeinschaften finden wir doch einiges, das als Anhaltspunkt für die Praxis in Freien Privatstädten dienen kann.

Griechische Stadtstaaten der Antike (ca. 800 v. Chr.–700 n. Chr.)

Zur Hochzeit der antiken griechischen Kultur, zwischen 800–300 v. Chr. gab es im Mittelmeerraum über 1.000 Siedlungen des griechischen Typs Polis. Einerseits waren diese Gemeinwesen ähnlich organisiert und aufgebaut, hatten dieselbe Sprache und Religion, man traf sich zu gemeinsamen Wettkämpfen, wie etwa den Olympischen Spielen, und ging auch das eine oder andere Zweckbündnis ein. Andererseits waren alle diese Stadtstaaten auf ihre vollständige politische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung erpicht; sie definierten sich über die Gemeinschaft ihrer Bürger und deren Ideen. Ein kleiner Junge soll in einem der griechischen Stadtstaaten seinen Vater gefragt haben: „Haben andere Orte ihren eigenen Mond?“ „Natürlich“, habe der Vater geantwortet, „jeder hat seinen eigenen Mond.“ 

Das vor allem in Nordgriechenland vorherrschende Gegenmodell zur Polis war die Éthnos, die Stammesgemeinschaft, die größere Siedlungsgebiete umfasste. Die berühmteste Éthnos war Makedonien, das zur damals stärksten Militärmacht emporstieg und unter Alexander dem Großen ein Weltreich eroberte, das freilich nicht lange Bestand hatte. Die griechische Kultur, die zu jener Zeit in den Poleis entstand, bildet dagegen noch heute einen der Eckpfeiler europäischer Zivilisation. Aristoteles, der etwa die Begriffe Theorie und Praxis geprägt hat und neben anderen Dingen Biologie, Physik, Logik und Staatstheorie als Lehrfächer begründete, wurde in der unabhängigen Kleinstadt Stageira geboren, bevor er später ins größere, ebenfalls unabhängige Athen ging. Insofern bleibt festzuhalten, dass eine Vielzahl autonomer Gemeinwesen trotz ihrer Kleinheit eine ungeheure Leistung in kultureller Hinsicht erbracht hatte, obwohl die allermeisten dieser Gesellschaften überwiegend agrarisch geprägt waren. Freilich war es auch die Fähigkeit zur Seefahrt und zum entsprechenden Seehandel, wirtschaftliche Spezialisierung und Austausch, ständige Innovationen und hohe Mobilität, welche die Explosion an neuen Gemeinwesen im Mittelmeer- und Schwarzmeerraum möglich machte. Rein geografisch ist der Mittelmeerraum dafür auch besonders geeignet und wenn es zu einer Renaissance unabhängiger Städte kommt, dann wäre das Mittelmeer auch heute ein idealer Platz dafür. 

Es ist bei den griechischen Stadtstaaten allerdings auch zu beobachten, dass sich politische Herrschaftssysteme nach einem bestimmten Muster entwickeln. Es begann mit einer Herrschaft der Grundeigentümer, die untereinander gleichgestellt waren und die Ämter unter sich ausmachten, eine Art Aristokratenrepublik. Später kamen dann weitere Kreise der Bevölkerung hinzu, schließlich entwickelte sich eine umverteilende Massendemokratie, gefolgt von einer Diktatur. Die besprochenen Probleme der Demokratie waren auch im griechischen Raum eingetreten. Namentlich haben Demagogen nach und nach unter der Flagge der Gleichheit die Macht übernommen; der Wandel von einer „gemäßigten Demokratie“ mit aristokratischen Elementen hin zu einer „radikalen Demokratie“ mündete schließlich in ein Jahrhundert der Hegemonialkriege. Tatsächlich folgte dann die Periode der Tyrannen, bis Makedonien und schließlich das Römische Reich die Macht in Griechenland übernahmen. Konservative Stadtstaaten wie Sparta entwickelten sich nicht zu Demokratien und hatten in der Folge auch nicht unter Tyrannen zu leiden. Sie behielten ein aristokratisches System, verzichteten zum Erhalt dieser Machtverhältnisse jedoch bewusst auf eine arbeitsteilige Gesellschaft und gerieten so wirtschaftlich ins Hintertreffen. Gleichwohl behielten auch zu römischen Zeiten die griechischen Stadtstaaten eine gewisse Unabhängigkeit und erfreuten sich ihres Wohlstandes. Der endgültige Niedergang der griechischen Polis erfolgte erst mit der islamischen Expansion, beginnend im siebten Jahrhundert. Eine Polis war in der Regel wie folgt organisiert:

  1. Die Stadt war unabhängig (heute würde man sagen: souveränes Völkerrechtssubjekt) und gab sich sämtliche Gesetze selbst. Dieser Wille zur Selbstbestimmung schien ein wichtiger Grundkonsens auch kleiner Städte zu sein und ging mit einem entsprechenden Wehrwillen einher. Es herrschte allgemeine Wehrpflicht und die Pflicht zur Selbstausrüstung.
  2. In der Regel gab es Volksversammlungen, Rat und Magistrat, also eine Trennung von Legislative und Exekutive. Daneben gab es eine davon unabhängige Gerichtsbarkeit, die häufig die Form von gewählten Geschworenengerichten annahm. Die Ämtervergabe erfolgte entweder durch Wahl oder auch durch Los, was als besonders demokratisch galt.
  3. Aktiv und passiv wahlberechtigt waren nur die volljährigen, männlichen, wehrfähigen Bürger (Politen). Frauen, Kinder, von außerhalb stammende Bewohner und Sklaven waren von der Mitbestimmung und der Beteiligung an der Selbstverwaltung ausgeschlossen. Bürger wurde man in der Regel durch Abstammung von anderen Bürgern bei vorhandener wirtschaftlicher Unabhängigkeit.
  4. Frauen und Kinder eines Politen waren zwar nicht wahlberechtigt, verfügten aber über das Bürgerrecht. Es galt die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.
  5. Die einzelnen Politen waren weitestgehend wirtschaftlich unabhängig durch ihr Eigentum an einer Parzelle, die sich landwirtschaftlich bearbeiten ließ und mit ihren Erträgen den Unterhalt der Familie sicherstellen konnte. Das Eigentum an Grund und Boden war prinzipiell frei veräußerlich, beleihbar und vererblich.
  6. Es gab öffentliche Gebäude und einen zentralen Versammlungsplatz, die Agora. Es gab eigene Feiertage und eigene Gottheiten, die den griechischen Hauptgöttern beigestellt wurden. Daneben hatten die Städte eigene Münzen, eigene Streitkräfte und zuweilen sogar eine eigene Flotte.

Die griechischen Stadtstaaten und die dazugehörige politische Organisationsform haben bis heute den Begriff des Bürgers in westlichen Staaten geprägt. Der Historiker Ober nennt als Gründe für die lange Blütezeit und die bis heute andauernde Wirkung der kulturellen Leistungen jener Periode: den Wettbewerb zwischen den Systemen, der zu ständigen technischen wie institutionellen Innovationen führte, die dezentralisierte Struktur der Gemeinwesen, die politische Gesamtstabilität auch ohne zentrale Führungsinstanz gewährleistete, verlässliche Regeln und Bürgerrechte, die Investitionen ermöglichten und Transaktionskosten niedrig hielten. Alles dies sind Gesichtspunkte, die in einer Welt Freier Privatstädte erneut zum Tragen kämen.

Aber auch der Gedanke, dass nur diejenigen, die zur Verteidigung beitragen und sich selbst unterhalten können, die Geschicke des Gemeinwesens mitbestimmen sollen, hat sich über Jahrhunderte bewährt. Ein weiterer Aspekt, der noch heute Gültigkeit beanspruchen kann, ist, dass der Wille vorhanden sein muss, für seine Unabhängigkeit notfalls auch zu kämpfen. Andernfalls ist eine Selbstbestimmung nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Freie Reichsstädte des Mittelalters (ca. 1100–1800)

Im Mittelalter waren die Menschen in Mitteleuropa eingeengt durch Landesherren, Lokalfürsten und Bischöfe, die hohe Steuern forderten und das tägliche Leben bis ins Kleinste regulierten. Der Kaiser war fern und hatte wenig Macht. Wer Freiheit, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Verbesserung suchte, für den gab es nur einen Weg. Er musste in eine Freie Reichsstadt gelangen. Denn der Spruch „Stadtluft macht frei“ galt zu jener Zeit wörtlich. Der Leibeigenschaft konnte entgehen, wer entfloh und nach einer Frist von einem Jahr und einem Tag nicht wieder gefasst wurde. Am besten verließ man die Stadt während dieses Zeitraums nicht; „nach Jahr und Tag“ galt man als freier Mann.

Wieso konnten Freie Reichsstädte überhaupt existieren? Wieso ließen die Fürsten das zu? Tatsächlich waren „Freie und Reichsstädte“ das Ergebnis eines langen Kampfes ihrer Bewohner um mehr Selbstbestimmung. Dieses Abtrotzen von Rechten vom jeweiligen Stadtherrn, von vielen Rückschlägen gezeichnet, mündete schließlich in eine Art Stadtverfassung bis hin zur weitgehenden Unabhängigkeit (Freie Städte) bzw. Direktunterstellung unter kaiserliche Hoheit (Reichsstädte). Auch Letzteres war faktisch mit einer Autonomie gleich zu setzen, denn der Kaiser war schwach und die wenigen Institutionen auf Reichsebene spielten keine Rolle für das tägliche Leben. Die Macht des Kaisers war nicht zu vergleichen mit der des Regierungschefs eines heutigen zentralen oder föderalen Staates, sie lag weit darunter. Es gab weder ein Besteuerungsrecht noch eine stehende Armee oder sonstige Polizeigewalt, die der Kaiser hätte abrufen können.

In der Stadt Köln fand erstmals 1074 ein größerer Aufstand gegen den herrschenden Erzbischof statt, wegen dessen Ungerechtigkeiten gegenüber Kölner Kaufleuten. Dieser wurde brutal niedergeschlagen. Aber der Drang zu mehr Eigenständigkeit war nicht aufzuhalten. 1103 ist ein eigenes Gericht erwähnt, das Schöffenkolleg, das vom erzbischöflichen Stadtherrn unabhängig war. Ab 1130 bezeichneten sich die Schöffen nach römischem Vorbild als Senatoren. 1216 konnte erstmals ein Stadtrat gegen den Widerstand des Erzbischofs eingerichtet werden. Schließlich verbündeten sich die Kölner 1288 mit einem der umliegenden Territorialfürsten gegen ihren Erzbischof, und besiegten diesen in der Schlacht von Worringen. Seitdem verwalteten sich die Kölner selbst.

Die Kölner konnten sich in der Folgezeit behaupten, weil die wirtschaftliche Macht der Stadt auch zu einer militärischen Macht führte. Dies wurde erleichtert durch die militärtechnische Situation, dass man sich hinter starken Mauern mit ausreichend Vorräten praktisch jedes Angreifers erwehren konnte. Da stehende Heere teuer waren, wurden die Bürger zum Wehrdienst in Notzeiten verpflichtet. So war jedem wehrfähigen Mann eine Position auf der Stadtmauer entsprechend seinem Wohnviertel zugewiesen. Ähnliche Entwicklungen fanden anderswo statt. Die Freien Reichsstädte blühten auf und zogen scharenweise neue Siedler an. Davon profitierte auch das Umland. 

Und dann geschah etwas Überraschendes. Die bisherigen Stadtherren versuchten auf einmal nicht mehr, die städtische Unabhängigkeit zu verhindern, sondern versprachen im Gegenteil Ansässigen und Neusiedlern verbriefte Stadtrechte auf ihrem Territorium. Sie wussten um die wirtschaftliche Prosperität freier Städte und rechneten sich dadurch einen eigenen Vorteil aus. Sie vergaben entsprechende Privilegien und orientierten sich dabei an den Regeln, die sich die etablierten freien Städte über lange Zeiträume erkämpft hatten. Weniger weitsichtige Landesherren konnten durch Ämterkauf von der jeweiligen Einwohnerschaft dazu bewegt werden, deren Gebiete faktisch in freie Territorien umzuwandeln. In einigen süddeutschen Gegenden gab es sogar reichsunmittelbare Dörfer. Dieses Freikaufen aus bestehenden Herrschaftsgebieten könnte möglicherweise auch ein Modell für die Zukunft sein.

Was das Recht anging, übernahmen viele Städte erprobte Rechtsordnungen von anderen freien Städten, besonders verbreitet waren das Recht von Lübeck und das Magdeburger Stadtrecht. Nicht selten wurde sogar geregelt, dass in unklaren Rechtsfragen der sogenannte Magdeburger Schöffenstuhl als Obergericht angerufen werden konnte. All dies geschah aufgrund freiwilliger Vereinbarung der jeweiligen Stadtbewohner. Das Magdeburger Gericht selbst hatte keine Macht, seine Entscheidungen in anderen Städten durchzusetzen. 

Diese Stadtrechte waren Gesamtpakete, welche sowohl das Rechtssystem mit Regelungen zur Prozessordnung als auch die innere Verfassung der Stadt mit den verschiedenen Organen regelten. Sie hatten ihren Ursprung nicht nur in römischem und lokalem Recht, sondern auch im Marktrecht. Wer einen Markt ausrichtete, der bot den anreisenden Kaufleuten nicht nur einen sicheren Marktplatz, sowie eine leichte und sichere An- und Abreise, sondern auch ein Marktgericht. Oft wurde dieses so gebildet, dass die Kaufleute zu Beginn des Marktes Marktgeschworene wählten. Über dieses Verfahren wurde garantiert, dass die Kaufleute einen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Rechtsrahmen hatten und ihre Schuld oder Unschuld im Fall eines Streits nicht über ansonsten noch verbreitete Gottesurteile durch Feuerproben und Ähnliches beweisen mussten. Durch das gesamte Mittelalter hinweg spielten private Schiedsgerichte eine wichtige Rolle, insbesondere dort, wo das lokale Recht Kaufleuten schlechte Bedingungen bot. Markt- und Messeorte stellten damit frühe Formen der Sonderwirtschaftszonen dar. Im ältesten deutschen Stadtrecht bestimmte der Freiburger Lehensherr Konrad von Zähringen:

So verspreche ich allen, die meinen Markt aufsuchen, Frieden und freies Geleit in meinem Macht- und Herrschaftsbereich. Wenn jemand in diesem Gebiet ausgeraubt wird und mir den Täter namhaft macht, werde ich die Rücküberstellung des Geraubten veranlassen oder selbst für den Schaden aufkommen.

Diese Sicherheitsgarantie mit Schadenersatzanspruch aus dem Jahre 1120 geht übrigens weit über das hinaus, was heutige Staaten ihren Bürgern in diesem Punkte bieten. Das zeigt Freien Privatstädten einen möglichen Wettbewerbsvorteil auf.

Die damaligen Freien Reichsstädte wurden quasi-demokratisch regiert, indem ein von den stimmberechtigten Bürgern gewählter Rat einen Vorsteher oder Bürgermeister ernannte. Die Frage der Wahlberechtigung war Quelle häufiger Auseinandersetzungen. Die Zahl derjenigen Bürger, die stimmberechtigt waren und einen Vertreter in den Rat wählen durften, wuchs im Laufe der Zeit aber immer weiter an, ähnlich wie in den Stadtstaaten der Antike. Schnell kam es jedoch durch die meist kaum beschränkte Rechtsetzungsbefugnis des Rats zu einem großen Wust an Regeln für alle Lebensbereiche, welche das Leben in der Stadt verkomplizierten und mächtigen Familien erhebliche Vorteile verschafften. Überschuldung folgte und wurde zum flächendeckenden Problem der Städte des 15. Jahrhunderts. Insbesondere wohlhabende Personen mussten darauf achten, sich in der Stadt nicht unbeliebt zu machen, um ihr Hab und Gut nicht durch Proteste und anschließende Schauprozesse vor dem Gericht der Bürgergemeinschaft zu verlieren. Auch Vermögenssteuern wurden im Wesentlichen erst durch die Stadträte eingeführt. Das sind freilich auch heute noch typische Probleme von Mitbestimmungsmodellen, deren Regelungsbefugnis im Prinzip unbeschränkt ist und die keine Haftung der Organe vorsehen. 

Interessant ist auch, wie die Städte Fragen der Einwanderung, der Kriminalität und der Besteuerung regelten. Aufgrund der Vielzahl der Stadtneugründungen und der dünnen Besiedelung im Mittelalter gab es einerseits eine Konkurrenz um Siedler. Besonders Fachkräfte verschiedenster Art, hauptsächlich Handwerker und Spezialisten aus dem florierenden Textilgewerbe wie die Weber, aber auch Kaufleute aller Art, waren gefragt. Die Städte benötigten sie, um sich wirtschaftlich weiterzuentwickeln, mehr Steuern einzunehmen und sich gegen äußere Feinde besser zur Wehr setzen zu können. Andererseits wurden Arme oder Kriminelle von außerhalb gar nicht erst in die Stadt gelassen. Mancherorts durften Arme nur als Tagelöhner in der Stadt arbeiten und mussten diese verlassen, wenn sie keine Anstellung fanden.

Ihre Einnahmen erzielten Städte zum einen über einen Grundzins, zum anderen über Zölle, welche oft zur Erhaltung der Straßen in und um die Stadt genutzt wurden und den sogenannten Marktfrieden finanzierten. Hinzu kam häufig eine allgemeine Vermögenssteuer auf die Vermögen aller Stadtbewohner, welche meist nicht mehr als 1 Prozent pro Jahr betrug. Daneben gab es vielerorts Anerkennungs- und Aufnahmegebühren für Neubürger, die als Preis für die zur Verfügung stehenden öffentlichen Güter der Stadt verstanden wurden. In besonderen Krisensituationen oder für besondere Großprojekte wie den Bau einer neuen Stadtmauer wurden außerdem indirekte Steuern auf Getränke und ähnliche Verbrauchsgüter erhoben, weil deren breite Basis sie ertragreich machte. Schließlich verdienten Städte an den Strafen, die für Regelverstöße gezahlt wurden oder den Arbeiten, die dafür verrichtet werden mussten.

Bei schwereren Vergehen oder einheimischen Verbrechern erfolgte die Bestrafung durch Strafzahlungen, Schmerz (wie Hiebe), Bloßstellung (wie Pranger) oder Tod (z. B. am Strang) durch selbstständig arbeitende Henker. Das Gefängnis war nur für die Untersuchungs- und Prozesszeit gedacht, während der auch Folter nicht unüblich war. Verbrecher, die nicht der Stadt entstammten, wurden meist verbannt. Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf das Strafrecht als Gemeinsamkeit der mittelalterlichen Rechtsordnungen, wie auch des früheren römischen Zwölftafelgesetzes festhalten, dass leichte oder unbeabsichtigte Vergehen fast immer mit Kompensation und monetären Strafen, schwere fast immer mit Schmerz oder Tod bestraft wurden. Außerdem fällt auf, dass die Regeln bezüglich Selbstverteidigung, Hilfeleistung, Festnahmerecht für jedermann sowie bezüglich des Prozesses und auch der Bestrafung so ausgelegt waren, dass mit minimalem finanziellen und personellen Aufwand Recht und Ordnung wiederhergestellt werden konnte. 

Die Städte bildeten im Laufe der Zeit mächtige Bündnisse wie den Süddeutschen Städtebund oder die Hanse, welche in ganz Nordeuropa Mitgliedsstädte hatte und auch Großmächten trotzen konnte. Die meisten freien Reichsstädte verloren aber im Zuge der Napoleonischen Kriege spätestens mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 ihre Selbstständigkeit, Frankfurt am Main überdauerte bis 1866, Lübeck bis 1871. Die Hansestädte Hamburg und Bremen sind bis heute eigenständige Stadtstaaten innerhalb des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Der gebürtige Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe sah Anfang des 19. Jahrhunderts den Bedeutungsverlust voraus:

Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.

Die Stadt Lübeck, einst stolzer Hauptort der Hanse, ist heute zu einer unbedeutenden deutschen Regionalstadt herabgesunken. 

Die Hanse (ca. 1150–1669)

Als aus einem vormaligen Kaufmannsverbund nach und nach der Städtebund der Hanse (auch Deutsche Hanse oder Hansa Teutonica genannt) entstand, waren viele zeitgenössische Beobachter verwirrt. Was war das eigentlich für ein Gebilde? Ein Staat war es nicht, nicht einmal ein Staatenbund. Denn die ihm zugehörigen Städte waren nicht souverän, sondern Bestandteil anderer staatlicher Gebilde, überwiegend des Heiligen Römischen Reichs. Ziel der Hanse war zunächst die Sicherheit der ihr angeschlossenen Seehandelskaufleute und die Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen, besonders im Ausland. 

Die Hanse entwickelte sich im Laufe der Zeit nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf politischem und kulturellem Gebiet zu einem wichtigen Faktor. Dies lag darin begründet, dass die Freien Städte zulasten der Territorialstaaten zunehmend Bedeutung erlangten und in den Stadträten die Hansekaufleute meist das Sagen hatten. Die Hanse hatte das Prinzip der freien Einung, sodass Kaufleute, die sich zur Hanse zählten, über die Stadträte selbst entscheiden konnten, inwiefern sie sich den anderen Hansestädten anschlossen, etwa was Zölle oder bestimmte Handelsregeln anging. 

Die Blütezeit der Hanse war zwischen 1250 und 1400. In den Zeiten ihrer größten Ausdehnung waren nahezu 300 See- und Binnenstädte des nördlichen Europas in der Hanse zusammengeschlossen, und sie beherrschte den damals wichtigsten Seehandelsraum in Nord- und Ostsee. Durch Freihandel gelangten viele Hansestädte zu großem Reichtum, was sich bis heute an zahlreichen bedeutenden Bauwerken ablesen lässt, etwa dem Lübecker Holstentor.

Der Hansetag war die oberste Instanz und das Organ der Gemeinschaft, auf dem die Interessen der Gemeinschaft ausgehandelt, beschlossen und durchgesetzt wurden. Hierzu zählten insbesondere die Ratifizierung von Verträgen, das Aushandeln von Handelsprivilegien, Verhandlungen mit ausländischen Herrschern, Entscheidungen über Frieden, Krieg und Wirtschaftsblockaden, Festlegungen von wirtschaftlichen Vorschriften und die Aufnahme oder der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Neben dem Hansetag gab es keine weiteren Organisationsstrukturen der Hanse, keine Verfassung, keinen Finanzhaushalt oder Beamte. Die entsandten Vertreter der Städte, die Tagfahrer, kehrten mit dem Ergebnis des Hansetages in ihre Stadt zurück, wo es beim Rat der Stadt lag, ob der Beschluss angenommen wurde, oder nicht. Versuche, Mitgliedsgebühren und eine klare Führung zu etablieren, scheiterten. Trotz aller Führungslosigkeit war der Konsens in der Hanse oft stark genug, um Sicherheit auf See zu gewährleisten, Embargos durchzusetzen oder Kriege zu führen, etwa gegen Dänemark oder die Seeräuber in Nord- und Ostsee.

Die meisten Städte übernahmen das sogenannte Lübische Recht von der Hansestadt Lübeck, die allgemein als Hauptort der Hanse anerkannt war. Bei rechtlichen Streitigkeiten in anderen Hansestädten diente das Gericht in Lübeck häufig als Berufungsinstanz. Niederlassungen der Hanse hatten ihr eigenes Gericht (z. B. im norwegischen Bergen), wo die Prozesse zeitnah und nach den Normen der Hansekaufleute entschieden wurden. Diese legten großen Wert darauf, sich im Falle von Anschuldigungen vor eigenen Gerichten freisprechen zu lassen, um ihren Ruf unter Kaufleuten zu wahren. Gleichzeitig konnte es sein, dass die gleichen Kaufleute zu Anhörungen der ortseigenen Gerichte gar nicht erst erschienen und sich deren Zugriff entzogen, weil sie und ihre Handelspartner ihnen keine Autorität zuerkannten.

Ab dem 16. Jh. begann sich die Hanse unter der Führung Lübecks in zahlreiche Kriege in Nordeuropa zu verstricken, welche die militärische und politische Kraft der Hanse verringerten. Viele Städte waren es mit der Zeit leid, Geld und Soldaten für die zahlreichen politischen Abenteuer und Kriege des Zentrums Lübeck aufzubringen. Der endgültige Machtverlust der Hanse begann mit dem Erstarken der landesherrlichen Territorialgewalten, welche viele Städte zwangen, aus der Hanse auszutreten. In ihrer Schlussphase bestand die Hanse faktisch nur noch aus den freien Städten Hamburg, Lübeck und Bremen, der letzte Hansetag fand 1669 statt. Die 1980 begründete Neue Hanse, der nur ehemalige Hansestädte angehören dürfen, hat bislang eher touristisch-kulturelle Bedeutung.

Die Übernahme bewährter Rechtsordnungen, die freie Rechtswahl, wirksame Schutz- und Trutzbündnisse ohne zentralistische Strukturen, Freihandel sowie die gegenseitige Unterstützung waren Merkmale der Hanse, die auch heute noch beispielhaft sind.

Venedig (697–1797)

Besonders erfolgreiche Städte wurden selbst zu unabhängigen Großmächten, neben Genua gilt dies für allem für Venedig, das über tausend Jahre seine Eigenständigkeit bewahren konnte. Venedig war bis 1797 Hauptstadt der gleichnamigen Republik und lange Zeit eine der größten europäischen Städte. Bis ins 16. Jahrhundert hinein war Venedig zudem eine der weltweit bedeutendsten Handelsmetropolen und hatte zeitweilig die größte Handels- und Kriegsflotte der Welt! Trotz geringer eigener Ressourcen und relativ kleinem und verstreuten Herrschaftsgebiet konnte Venedig über lange Zeit eine führende Rolle im Mittelmeerraum spielen. Das lag neben diplomatischem Geschick vor allem an der wirtschaftlichen Stärke der Stadt, die im Handel mit dem Orient insbesondere für Salz und Getreide jahrhundertlang eine quasi-Monopolstellung besaß. 

Das sagenhafte Gründungsdatum im Jahre 421 fällt in die Zeit, als die umliegenden Bewohner vor den Westgoten und Hunnen in die Lagune von Venedig flüchteten und sich dort ansiedelten, da diese leichter verteidigt werden konnte. Venedig war ursprünglich Teil des oströmischen (byzantinischen) Reiches und behielt diesen Status formell noch etwa bis zum Jahre 900 bei. Faktisch war Venedig aber spätestens mit der Ernennung des ersten Dogen im Jahre 697 unabhängig.

Bemerkenswert ist, dass Venedig es schaffte, sich mit Diplomatie, eigener Militärmacht und wechselnden Bündnissen über einen Zeitraum von elfhundert Jahren (!) zwischen den Groß- und Regionalmächten manövrierend als selbstständiges Gemeinwesen zu halten. Das waren keine ruhigen Zeiten in jener Region. Die Liste der Mächte und Konkurrenten, mit denen Venedig sich auseinanderzusetzen hatte und die es fast alle überdauerte, umfasst Langobarden, Byzantiner, das Heilige Römische Reich, den Papst, freie Städte wie Genua, Bologna und Pisa, die Normannen, Ungarn, Kroaten, Habsburger und Osmanen sowie schließlich Spanien und Frankreich. Ein venezianischer Patrizier soll im 16. Jahrhundert auf das Geheimrezept der Stadt verwiesen haben: 

In diesem grausamen Krieg, in dem alle Könige der Welt gegen uns kämpften, wurde kein Bürger dieser Stadt getötet. Alles wurde mit Geld und dem Leben fremder Soldaten erreicht.

Außenpolitisch setzte die Republik auf Diplomatie, effiziente Informationsbeschaffung und Pragmatismus. Aus ideologischen und religiösen Streitigkeiten hielt Venedig sich möglichst heraus. Das wirtschaftliche Wohlergehen der Stadt ging der Ausdehnung politischer Macht vor. Im Inneren wurde sorgfältig auf das Austarieren der Macht zwischen den verschiedenen Gruppen und das Bestehen gegenseitiger Kontrollen der Staatsorgane geachtet; dazu gab es ein extrem kompliziertes Wahlsystem, welche eine Parteienbildung und Einflussnahme durch Lobbys unmöglich machte. Dies gilt als einer der Gründe für die einzigartige Stabilität dieses Staates im unruhigen Europa: in den elfhundert Jahren wurde keine einzige Regierung gestürzt! Die Vorherrschaft einer einzigen Familie, wie in den anderen Stadtstaaten Oberitaliens üblich, sollte verhindert werden. Das funktionierte nicht immer ohne Auseinandersetzungen und wahlberechtigt waren nur Angehörige der Oberschicht; insgesamt aber gelang es, zu große Machtkonzentration zu verhindern und die Nicht-Wahlberechtigten für das System zu gewinnen. Auch hatte Venedig den Ruf, seinen Bürgern politische Stabilität und persönliche Freiheit zu gewähren, was im Europa des ausgehenden Mittelalters die Ausnahme war. Der Historiker Gilmour schreibt:

Der Patrizier und der Gondoliere lebten zwar in unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, aber rechtlich waren sie gleichgestellt. Juristische Privilegien für den Adel waren unbekannt. Die Zivil- und die Strafgerichtsbarkeit war insgesamt gerecht, und Frauen genossen einzigartige Rechte Die ausländische Propaganda über Verliese, in denen politische Gefangene schmachteten, war pure Verleumdung Die Religion war zwar wichtig, aber sie blieb dem Staat untergeordnet: Die Dogen und nicht die Bischöfe waren die Garanten der Republik Venedig. Veneziani, poi cristiani, so pflegten sich die Bewohner selbst zu bezeichnen: zuerst Venezianer und dann erst Christen. Solches Selbstbewusstsein ärgerte natürlich die Päpste, die mehrmals ein Interdikt gegen Venedig aussprachen Die Errungenschaften Venedigs waren für das restliche Europa schwer zu ertragen. Zu krass und zu glanzvoll war der Erfolg der Republik, als dass eifersüchtige Rivalen dies einfach hinnehmen konnten. Man nannte die Venezianer habgierig und hinterhältig, weil sie mit den Osmanen Handel trieben, solange kein Krieg herrschte.

Erst mit dem Aufkommen des Atlantik- und Indienhandels sowie dem Erstarken der Territorialstaaten verlor Venedig zumindest relativ an Handelsmacht und sank zur Lokalgröße ab. Aus jener Zeit stammt der Ansatz, über die massenhafte (Glasperlen) und kunstvolle Herstellung von Glas zu diversifizieren. Für Letzteres ist die Region noch heute bekannt. Venedig konnte sich bis 1797 seine Unabhängigkeit bewahren, als die Stadt von Napoleon besetzt wurde.

Dies ist ein Ausschnitt aus der soeben erschienenen, erweiterten Neuauflage des Buchs Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt.

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