Gegen den Strich gelesen: Thomas von Aquin

Die politische Theorie im engeren Sinne beginnt erst mit der Neuzeit, in der die Legitimität der Herrschaft ernsthaft in Frage gestellt wurde (ausgenommen die griechische und römische Antike, wo die Herrschenden sich bis zu einem gewissen Grad rechtfertigen mussten). Dennoch gibt es Vorläufer. Zu ihnen gehörte der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274). 

Allerdings machte er sich nicht viele Gedanken über die Sozialstruktur, denn seine Wirkung fällt in die Zeit des Interregnums, der von Friedrich Schiller sogenannten schrecklichen kaiserlosen Zeit, die er als Liberaler aber als Ideal hätte ansehen sollen. Das Interregnum ist gekennzeichnet von dem weitgehenden Fehlen einer Zentralinstanz. Doch leider fehlte auch das Selbstbewusstsein, dies sei eine vorteilhafte Lage der Dinge, und Thomas von Aquin lieferte es ebenfalls nicht. Es war einfach nicht nötig, sich politische Gedanken zu machen.

Es gibt eine kleine (und unvollendete) Schrift von ihm, die sich mit der politischen Führungslehre befasst, de regime principum. Bereits die Datierung der Schrift bereitet Schwierigkeiten. Die Schrift ist dem König von Zypern gewidmet und im Vorwort wird angedeutet, dass es sich um ein Geschenk handele. Warum wollte oder sollte der Magister Thomas, der zwischen Paris und Köln pendelte, dem König von Zypern ein Geschenk machen? Das ist ebenso ungeklärt wie die Frage, um welchen König es sich gehandelt hat. Vermutet wird Hugo II., der von 1252 bis 1267 lebte und bereits als Kleinkind zum König gekrönt wurde, vertreten zunächst von seiner Mutter und dann von seinem Vetter, der nach dem Tod von Hugo II. König wurde, Hugo III. 

Eine Schrift zur Läuterung des jungen Königs, als er in das Alter der Verständigkeit kam? Freilich enthält die Schrift Hinweise auf die Lektüre der Politik des Aristoteles, die Thomas nicht vor 1270 abgeschlossen hatte. Meine Vermutung ist, dass Thomas die Schrift für Hugo II. begonnen hatte und dann, als er vom Tod des Adressaten erfuhr, nur sporadisch fortsetzte, um sie schließlich ganz abzubrechen. Nichts im Leben von Hugo III. gibt einen Grund ab, dass Thomas ihm eine Schrift hätte widmen sollen. Dass ich diese Umstände hier so ausführlich behandele, hat einen Grund, der gleich deutlich werden wird.

Diese kleine Schrift von Thomas entfaltete eine immense Wirkung im Übergang des Mittelalters zur Neuzeit, denn sie wurde so gelesen, dass sie die Tötung eines Tyrannen rechtfertigt. Das klingt so verstörend für die herrschende Meinung (Meinung der Herrschenden), der katholische Glaube verpflichte zur bedingungslosen Unterwerfung unter jedwede politische Herrschaft, dass bis heute immer wieder versucht wird, diesen Aspekt wegzuinterpretieren.

Oberflächlich gelesen, enthält der Text nichts Sensationelles: Ausgehend von Aristoteles’ Kennzeichnung des Menschen als sozialem Wesen, geht er scheinbar leichthändig über dazu, dass hieraus unmittelbar folge, es bedürfe eines Anführers, und das sei natürlich der rechtmäßige Fürst oder König. Das wird mit einer Reihe von biblischen und außerbiblischen Beispielen und Zitaten garniert. 

Doch sobald man genauer schaut, tun sich erstaunliche Einsichten auf. Es gibt auch Beispiele für Anführer, die das Gemeinwesen nicht zum Besten Aller organisieren, sondern die sich bereichern oder die Gelüste nach Unterdrückung schamlos ausleben, Beispiele, die sich ebenso in den biblischen wie in den historischen Annalen finden. Nicht nur das: Die Beispiele von Tyrannen sind zahlreicher als die für gute Könige. Wenn ein gewisses Maß an Tyrannei überschritten werde, so Thomas, verwundert es nicht, wenn einer aus dem geknechteten Volk aufsteht und es vom Tyrannen befreit oder das Volk sich zusammenrottet, um ihn zu beseitigen. 

Dies schreibt Thomas wie ein unbeteiligter Beobachter und ohne Bewertung; an manchen Stellen freilich hält er nicht an sich und bemerkt, wenn Gott weit geringere Verbrechen bestrafe oder die weltliche Obrigkeit dazu ermächtige, über Verbrecher zu richten, wie könnte es sein, dass Tyrannen, deren Verbrechen die von individuellen Übeltätern begangenen Verbrechen um ein Vielfaches übersteigen, straflos ausgehen?

Die ideengeschichtlich größte Sensation sind Thomas’ Überlegungen, dass ein Tyrann den Vertrag mit dem Volk breche. Der Vertrag besagt, dass der Anführer das Gemeinwesen zum Vorteil Aller gestalten möge. Hier also taucht erstmalig die Vertragsidee auf, die dann speziell bei Thomas Hobbes («Gegen den Strich gelesen …» #1) und Jean-Jacques Rousseau («Gegen den Strich gelesen …» #3) zur vollen Blüte kommt.

Doch wer formuliert und wer schließt den Vertrag? In einer kryptischen Passage sagt Thomas, das Volk möge sich bei der Wahl des Königs vorsehen, gerade weil es so oft und so leicht passiere, dass ein Anführer zum Tyrannen werde. Heute würde diese Passage einfach zu verstehen sein, wenn man statt «Fürst» oder «König» «Präsident» einsetzt. Doch ein König wird meist nicht gewählt, und selbst ein sogenannter Wahlkönig nicht vom Volk. Und was heißt «vorsehen»? 

Thomas gibt Beispiele für Herrscher, die zunächst gütig erschienen, und dann zu Tyrannen wurden. Sogar Gott hat sich bei denen, die er zu Königen berief, geirrt. Wie sollten Menschen unfehlbar sein? Wie läuft die Wahl ab? Einstimmig oder mehrheitlich? Wie wird sie organisiert? Alles das bleibt im Dunkeln.

Kehren wir für einen Moment zurück zu dem vermuteten Adressaten der Schrift, dem minderjährigen König von Zypern. Er wurde vom Adel als Kleinkind zum König gewählt, also nicht vom Volk. Aber egal, wer ihn gewählt hat, da er ein Kleinkind war, konnte niemand sich «vorsehen», denn niemand konnte absehen, welchen Charakter er annehmen würde. Gesetzt, Hugo II. wäre älter geworden, gesetzt, er hätte die Schrift erhalten und gelesen, er müsste sich verhöhnt vorkommen. Die Schrift des Thomas ist alles andere als so harmlos, wie sie daherkommt, und wie sie bei oberflächlichem Lesen heute erscheint: Sie ist ein Akt des Widerstands gegen die herrschenden Umstände.

Meine Vermutung ist, dass Thomas sich überhaupt nicht wirklich auf die seinerzeitigen, die biblischen und antiken politischen Verhältnisse bezog, sondern auf das klösterliche Leben, das einzige, von dem er eine deutliche Vorstellung hatte, war er doch als Jugendlicher in den Dominikanerorden eingetreten. Die Wahl des Abtes durch die Klosterbrüder war das, was er vor Augen hatte! Die Klosterbrüder sollten sich bei der Wahl vorsehen, denn die Wahl galt auf Lebenszeit. 

Dennoch blieb nicht nur der Eintritt ins Kloster ein Akt der Freiwilligkeit. Bei nicht überbrückbaren Unstimmigkeiten zwischen den Klosterbrüdern war es im Mittelalter üblich, dass es zu einer Abspaltung kam: Es gab ein (implizites) Sezessionsrecht, nicht als verbrieftes Recht, aber als gewohnheitsrechtliche Tatsache. Thomas’ Schrift ist vergleichbar mit den Führungslehren wie sie in heutigen Managementbüchern vorliegen. Auf die politische Struktur angewandt würde sie nur den Anarchokapitalismus als Modell zulassen.

Hinweis: Ich habe eine lateinisch-deutsche und ausführlich kommentierte Version des Textes vorgelegt mit Thomas von Aquin, Jede Macht ist illegal: Vom Prinzip der Führung (edition g. 121).

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