Thukydides revisited

Ein Vorteil hat das Chaos bei der Deutschen Bahn: Es wirkt als massiver Bildungsstimulus, da der vorsichtige Reisende auf keinen Fall weiß, wann er sein ins Auge gefasstes Ziel erreichen wird (auf jeden Fall kaum in der vorgesehenen Zeit). Daher tut er gut daran, sich mit Speis und Trank, Kreditkarte und ausreichender Lektüre zu versehen, um ungeplante Aufenthalte auf fremden Bahnhöfen, die auch nicht unbedingt als Gourmettempel ausgelegt sind, zu überstehen – und das möglichst bei guter Laune. Zeit hat man ja als Rentner, und die braucht man auch als Deutschlandticketfahrer. 

Klassiker lesen

Die Zeit will nun gefüllt werden, und bei mir sind es die Klassiker, die in zugigen Hallen und Bahnsteigen verschlungen werden. Man gönnt sich ja sonst nichts. Momentan lese ich von Thukydides das Werk „Der große Krieg”. – Zu Pennälerzeiten mussten wir, wenn ich mich recht erinnere, die Totenrede des Perikles lesen. Meine Erinnerungen sind aber äußerst vage. Rausgeholt habe ich das Buch, weil ich las, dass gerade in angelsächsischen Ländern der Text eine wichtige Rolle in den politischen Wissenschaften spielt. Jeder Think-Tanker muss ihn kennen, man will ja nicht in die Thukydides-Falle laufen! 

Worum es beim Peloponnesischen Krieg ging, ist vielen noch bekannt. Die Landmacht Sparta fühlte sich von der sich immer weiter ausdehnenden Seemacht Athen bedroht. Die Waffenbrüderschaft in den Perserkriegen war lange her, und die Übergriffe der Athener auf Bundesgenossen Spartas gaben Anlass zur Klage. Hier kommt nun die Thukydides-Falle.

Für Sparta war klar: Wenn Krieg mit Athen, dann jetzt, denn in Zukunft schien ein Waffengang nicht mehr erfolgversprechend bei der ständigen Zunahme der athenischen Macht. Wie das Ganze ausging, ist bekannt. Die Kämpfe zogen sich dreimal neun Jahre hin. Athen wurde durch eine Pestepidemie und die Katastrophe des sizilianischen Feldzuges entscheidend geschwächt. Am Ende verbündeten sich die Spartaner mit den Ex-Feinden, den Persern. Das war das Ende von Athen, interessanterweise auch das des entscheidend geschwächten Sparta, das über kurz oder lang in die Abhängigkeit der makedonischen Halbbarbaren unter Philipp und Alexander geriet. 

Die Analogien zur Gegenwart drängen sich geradezu auf: Hier die reiche, kapitalistische, aber auch leichtsinnige demokratische Seemacht Athen, ständig auf Expansion und Ausbeutung ihrer „Bündner” orientiert, dort die asketischen, sklavenhaltenden und Blutsuppe löffelnden Spartaner, eine rein auf das Militär ausgerichtete Gesellschaft, unbeweglich, hierarchisch strukturiert, aber effektiv. 

Ratio oder Emotio?

Hier möchte ich auf eine Rede des spartanischen Königs Archidamos, vor dem eigentlichen Beginn der Feindseligkeiten, eingehen. Der König, eigentlich nur oberster Heerführer der Spartaner, rät vom Krieg ab, und das mit interessanten Argumenten. Später wird er dem Beschluss seiner Stadt gehorchend in den Kampf ziehen, keine Frage. Er ist keineswegs grundsätzlich gegen Krieg, das wäre für einen spartanischen Strategen, dessen Lebenszweck geradezu der Kampf ist, nicht denkbar. Für ihn geht es ausschließlich um die Frage, ob der Krieg mit einiger Sicherheit zu gewinnen sei. Also, Krieg ja, aber wenn, dann muss er gewonnen werden, sonst wäre er sinnlos. 

Gegen den Krieg führt er einmal an, dass den Spartanern die entsprechenden Finanzmittel fehlten, die die Athener im Überfluss hätten. Dann geht er auf die Einschränkungen ein, die sich durch die beherrschende Seemacht der Athener ergeben. Man müsse erst Verbündete suchen, seien es nun Barbaren oder Griechen. Dann spricht er von Zufall, dem unkalkulierbaren Kriegsglück und fürchtet, der Krieg könne länger dauern, als angedacht und die Kapazitäten der Lakedaimonier überfordern. 

Interessant ist, dass er von Erwägungen der Ehre, des subjektiven Rechts und der gleichen absieht und rein rational sich über die zur Verfügung stehenden Mittel Gedanken macht.

Natürlich wurde er in der Volksversammlung überstimmt. Appelle an Emotionen und Aufrufe zum Heroismus ziehen eben mehr, als so empfundene Erbsenzählerei. Dasselbe wiederholte sich historisch an anderen entscheidenden Punkten des Peloponnesischen Krieges. 

Aufstieg und Fall

Auftritt des bekannten jugendlichen Strategen Alkibiades. Wikipedia schreibt: „Alkibiades gewann … immer mehr Einfluss auf die Volksversammlung und begeisterte die Athener für einen gefährlichen Plan: den Sizilienfeldzug. Ziel waren sowohl das Getreide der Insel als auch Pläne für eine Ausdehnung des athenischen Einflussgebiets. Vorgeschobener Grund war ein Hilferuf aus Segesta, das sich so wie einige andere örtliche Poleis im Konflikt mit Selinunt und Syrakus befand, dem mächtigsten sizilischen Stadtstaat, welcher zugleich eine gemäßigte Demokratie war. Alkibiades setzte gegen die Empfehlungen des Nikias, der zur Vernunft riet und den ganzen Plan für zu gewagt hielt, die Expedition durch.“

Also setzt sich die Irrationalität erneut gegen nüchterne Abwägung durch, auch hier mit fatalsten Folgen, der nachfolgende Katzenjammer war zumindest nicht auszuschließen. 

Der Spartaner Archidamos führt im Wesentlichen ökonomische Gründe gegen einen Kriegseintritt Spartas an und könnte hier als Vorläufer der Thesen des britischen Historikers Paul Kennedy gelten, der im Jahr 1987 unter dem englischen Originaltitel „The Rise and Fall of the Great Powers” eine spektakuläre Untersuchung veröffentlichte. Der deutsche Untertitel „Ökonomischer Wandel und militärische Konflikte von 1500 bis 2000” umreißt die Schwerpunkte von Kennedys Untersuchung. 

Er beginnt mit dem Haus Habsburg, das im 16. Jahrhundert die Hegemonie in Europa anstrebte und im 17. Jahrhundert von den französischen Königen darin abgelöst wurde. Im 18. Jahrhundert begann der Aufstieg Großbritanniens zur führenden Kolonialmacht und im 20. Jahrhundert stand das Deutsche Reich für eine kurze Zeit an der Spitze der Hegemonialmächte, bevor sich nach dem Zweiten Weltkrieg das bipolare System zwischen USA und Sowjetunion herausbildete. Bei allen diesen Mächten sieht Kennedy den immer gleich bleibenden Rhythmus:

  1. Aufstieg
  2. Überdehnung
  3. Erschöpfung
  4. Abstieg 

Das Buch liefert viele Indizien für die umstrittene These, dass die Macht und der Einfluss von Staaten im Wesentlichen durch ihre Ökonomie (und den Erfolg derselben) bestimmt werden. Bei den gegenwärtigen Konfliktherden scheint der Westen irgendwo zwischen Überdehnung und Erschöpfung zu stehen. Militärische Ressourcen stehen nicht mehr unbegrenzt zur Verfügung, Geldmittel sind knapp, zwar kann gedruckt werden, aber mit der Konsequenz inflationärer Entwicklungen. 

Die Rohstoffe der Welt befinden sich zu einem nicht unerheblichen Teil in den Händen der potenziellen und realen Gegner. Ein Beispiel ist sicher das Öl und seine kritischen Lieferwege. Was also tun? 

Archidamos war für Verhandeln und gleichzeitig Aufrüsten. Und man sollte den Kreis der Verbündeten ausweiten, nicht einschränken. Vielleicht hatte er nicht unrecht. 

Auf jeden Fall: Thukydides lohnt sich!

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1 Kommentar. Leave new

  • Stefan Wietzke
    28. Februar 2024 10:19

    “Das Buch liefert viele Indizien für die umstrittene These, dass die Macht und der Einfluss von Staaten im Wesentlichen durch ihre Ökonomie (und den Erfolg derselben) bestimmt werden.”
    Wieso ist das “umstritten”? Denn es ist einfachste Logik. Krieg ist ökonomisch ein maximal konsumptiver Akt. Man produziert Güter ausschließlich um nicht nur sie selbst, sondern auch die Güter des Gegners kaputt zu machen. Parallel werden dabei dann auch noch die wirtschaftlichen Subjekte eliminiert. Auch indirekte Machtausübung muss man sich “leisten” können (z.B. durch Bestechung anderer Eliten). Psychologische Effekte spielen da nur im taktischen Bereich eine Rolle. Man kann auch gegen einen unterlegenen Gegner mal eine Schlacht verlieren. Entscheidend ist aber der Ausgang des Krieges.

    Auch die mit zunehmendem Wohlstand einsetzende Verweichlichung (man hat halt mehr zu verlieren, sprich die Fallhöhe wird größer) ist ein Aspekt. So steigt man von Wehrpflicht- auf Berufsarmeen um (der Vergleich zwischen Rom und den USA ist da durchaus interessant, siehe auch das osmanische Reich) die sich dann entweder verselbständigen oder irgendwann nicht mehr finanziert werden können.

    P.S.: “Die Rohstoffe der Welt befinden sich zu einem nicht unerheblichen Teil in den Händen der potenziellen und realen Gegner. ”
    Das gilt nur für Europa. Aber das ist eh eine sterbende Region, die in näherer Zukunft nicht aussehen wird wie Kalkutta, sondern wie Beirut.

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