Treibhaus der Narzissen

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Wer fiele Ihnen auf Anhieb als besonders selbstgefällig ein? Ein Filmstar? Eine Diva? Ein Fußballer oder Tennisspieler? Jemand aus Ihrer näheren Umgebung, mit dem Sie Ihren Alltag teilen? Gar teilen müssen? 

Hier wird es heikel. Selbstgefällige – womöglich in sich selbst verliebte – Menschen können unterhaltsame, anregende Zeitgenossen sein, vor Wissen, Ideen, Pointen sprudeln und durchaus aufmerksam zuhören: egal ob im Dialog oder in Gesellschaft. Sie sind hilfsbereit, großzügig, bisweilen opfern sie sich auf. Aber manche von ihnen sind süchtig, gefallsüchtig, mit allen Symptomen des Entzugs, wenn die erheischte Dosis von Aufmerksamkeit und Anerkennung ausbleibt. Der Leidensdruck kann unerträglich werden, dann neigt die attraktive Diva zu bizarren Ausbrüchen, der Sportler giftet gegen Schiedsrichter, der Künstler gegen Rezensenten, der Politiker hetzt seine Anhänger zum Rufmord, der Feldherr seine Truppen in den Krieg gegen den vermeintlichen Feind.

So beginnen Konflikte, sie können eskalieren, der in seinem Selbstbild gekränkte, beschädigte Mensch geht darin unter – nicht selten mit ihm Subalterne und Verbündete. Je nach seiner gesellschaftlichen Stellung, seiner Macht, geht der Verlust des Ansehens, also der informellen Dimension von Macht, mit dem der materiellen einher: Vermögen, Unternehmen, Staaten versinken in der Katastrophe.

Mythos und privates Schicksal

Der Mythos vom in sich selbst verliebten Narcissus speist sich aus mehreren Quellen der Antike – sein Schicksal ist tragisch, die Schönheit der nach ihm benannten Narzissen erinnert daran. Wie das Drama des Ödipus wurde es zu einem Modellfall der Psychiatrie mit ebenso vielen abweichenden Interpretationen und Gewichtungen. Sie füllen Bibliotheken. 

Der vor allem von Sigmund Freud popularisierte Vatermörder Ödipus, der sich selbst blendete, nachdem er des vollendeten Inzests mit der Mutter inne wurde, füllte (und füllt wohl immer noch) als „Komplex“ Praxen von Psychologen und Psychiatern, wurde zum Filmtitel „Ödipussi“, zum Kalauer – „Ödipus, Schnödipus, Hauptsache du hast deine Mama lieb!“. Die „narzisstische Störung“ aber ist inzwischen eine weit verbreitete, oft und wirkungsvoll gebrauchte Invektive – also ein Schmähwort – namentlich in den Social Media. 

Weder kann noch will ich mich mit den therapeutischen Aspekten befassen, nur einen Blick auf die Interaktionen werfen, die bei „narzisstischem Verhalten“ zu beobachten sind, weniger auf sein Entstehen als auf begünstigende Faktoren und mögliche Gegenwehr.

Wie sich eine Persönlichkeit entwickelt, hängt von der genetischen Ausstattung ab, von insbesondere frühen Interaktionen mit Eltern, Geschwistern, sonstigen Bezugspersonen und einem sich mit dem Heranwachsen immer mehr erweiternden Netz sozialer Kontakte – so weit, so allgemein bekannt. Seine Impulse, charakteristischen Verhaltensmuster, Strategien, Fähigkeiten durchlaufen ein Wechselspiel aus Stabilität, Selbsterhaltung, Labilität und Anpassung auf dem Weg zu einem Selbst, dessen Schicksal niemals konfliktfrei verläuft. Es ist ein Geschehen von wahrhaft kosmischen Dimensionen, das unverwechselbar, einzigartig, unersetzlich, unvorhersagbar bleibt und buchstäblich erst mit dem Tod endet, wenn alle sozialen Bindungen erlöschen. Dann bleiben Erinnerungen, die von der Wahrnehmung der anderen geprägt sind, vielleicht auch ein Werk, eine Wirkung als Vorbild, an dem sich Gedächtnis, gar soziale Rituale der Nachwelt orientieren.

Das Leben der anderen 

Kein Mensch kann lange in völliger sozialer Isolation leben, ohne an Leib und Seele zu erkranken, selbst mit bester körperlicher und geistiger Vorgeschichte. 

Psychologie, Soziologie, Kunst und Literatur haben sich damit ebenso ausgiebig befasst, wie mit unzähligen Varianten, Beispielen und Analysen isolierender gesellschaftlicher Umfelder. Dort wird dem Individuum die Bewegungsfreiheit genommen, es wird zum Objekt fremder Interessen, und in jedem Fall stellt sich die Frage, ob das nur der Betroffene so wahrnimmt oder der Konflikt beiden Seiten geschuldet ist. Wem von beiden kann man vertrauen? Dem Ausgegrenzten oder denjenigen, die für die Psychophysik anderer blind und taub sind, weil sie sich höherer Bestimmung sicher wähnen oder gewohnheitsmäßig im Kollektiv mitschunkeln?

Wer wollte leugnen, dass es immer noch zu den übelsten Verbrechen totalitärer Regime gehört, Menschen wegen unangepasster Meinungen oder Lebensweise zu psychiatrisieren? Und nein, es sind nicht nur Scharlatane und Karrieristen in den Kliniken, die sich dazu hergeben – es sind in Fachkreisen durchaus angesehene Leute. Aber sie sind Teil korporativ organisierter Berufsfelder, und das Selbstbewusstsein der meisten reicht nicht aus, fair und unvoreingenommen über das Leben der „anderen“ zu urteilen. Kollektiv nehmen sie für sich in Anspruch, „gemeinschaftsschädliche“ Menschen auf ein vermeintlich „gesundes“, „normales“ Verhalten hin umzuerziehen.

Das geschah oder geschieht nicht nur in der Sowjetunion, Russland, dem Iran und China: Ken Keseys Drama „Einer flog übers Kuckucksnest“ hob es ins öffentliche Bewusstsein des Westens. Wir erleben wieder, wie das risikolose, moralische Schunkeln im Rhythmus medialer Gewöhnung übergangslos zum Prangerritual in den Medien wird – zum „Shitstorm“ in den „sozialen“ – mit dem Ziel, den Ruf eines Menschen, womöglich seine Existenz zu ruinieren. Corona war die Nagelprobe.

Mozart wäre heilbar gewesen

Goethe hatte an seinem Drama „Torquato Tasso“ acht Jahre lang gearbeitet, ehe es 1790 veröffentlicht wurde – da genoss er bereits literarischen Ruhm und bekleidete ein Ministeramt am Sachsen-Weimarischen Hof. Der Konflikt, zugleich Künstler und Fürstendiener zu sein, war ihm bewusst. 

Tasso durchlebt und durchleidet diesen Konflikt zwischen dichterischem Höhenflug und Bindung an soziale Rollenmuster im Streit mit Antonio Montecatino, dem Staatssekretär des Herzogs Alfons von Ferrara. Einerseits ganz seiner Dichtung zugewandt, andererseits vom Lob der Fürstenschwester Leonore beflügelt, in die er sich verliebt hatte, überschätzt er seine Chancen politischer Einflussnahme. Er gerät mit Antonio aneinander. Das Zerwürfnis hält das Fürstenhaus in Atem, alle wollen den verehrten Dichter beruhigen, aber als Tasso, von wahnhaftem Misstrauen, aufwallender Leidenschaft und Verzweiflung getrieben, sich der Prinzessin in die Arme wirft, weist sie ihn harsch zurück. Herzog Alphons und Antonio kupieren gnadenlos Tassos Selbstgefühl und -verständnis: Goethe löst am Ende des Dramas dessen künftiges Geschick nicht auf. 

Tassos Sturz ins Selbstmitleid ist der einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit, die mit der Realität kollidiert. Er resultiert aber auch aus der privilegierten Stellung am Hofe von Ferrara: Tasso war als hoch begabter Dichter das Hätschelkind – besonders der Prinzessin Leonore und Ihrer Freundin Leonore Sanvitale.

Nicht aus jedem Hätschelkind – Goethe sah sich selbst als eines – wird ein Narziss. Der fast gleichaltrige Mozart ging bei seinem Vater durch eine strenge Schule. Inwiefern seine Alfanzereien, seine Unbotmäßigkeit gegenüber Autoritäten, Arbeitswut, Geltungsdrang, Eigensinn zu klinischem Befund „Narzisstische Störung nach ICD-10“ reichten, ist Spekulation. Etliche Autoren haben es versucht, schon um von der Berühmtheit des Genies zu profitieren.

Bewertungstabellen in „Karrierebibeln“, mit denen Narzissten erkannt werden sollen, deuten eher auf ein gestörtes Verhältnis der Verfasser zu Menschen hin, die nicht konform agieren. Allein in der Beschreibung der Symptome offenbart sich bei genauem Hinsehen oft Voreingenommenheit. Auch dafür hat die WHO-Nomenklatur inzwischen einen Begriff: die „Normopathie“ ebenfalls als ICD-10 klassifiziert: den zwanghaften Drang nach Konformität. Mir sind nicht wenige Menschen begegnet, in deren Verhalten sich narzisstische, konformistische und normopathische Züge deutlich ausprägten.

Geltung durch Anpassen

Fordert die Arbeitsorganisation der Informationsgesellschaft dem Individuum nicht genau das ab? Steckt nicht hinter dem Schlagwort „Selbstoptimierung“ womöglich die Quadratur des Kreises: das sich beliebig an seine Umgebung anpassende Genie? Springt da nicht Jack in the Box, das Springteufelchen als mit KI gefütterter Humanoide aus dem Ratgeber für die Karriere?

Schauen Sie sich ruhig daraufhin Ihre Umgebung etwas genauer an, möglichst aber erst dann, wenn Sie sich mit der eigenen Lebensgeschichte, vor allem mit deren Konflikten, Brüchen, Niederlagen und deren genaueren Begleitumständen befasst haben. Wer war außer Ihnen beteiligt? Wie stark war in den jeweiligen Situationen Ihr Verlangen nach der Aufmerksamkeit anderer, und womit versuchten Sie, sie auf sich zu lenken?

Ergab sich ein Konflikt gerade daraus, dass Sie Aufmerksamkeit unbedingt vermeiden wollten? Wann empfanden Sie Druck, sich anzupassen als besonders unerträglich? Auf wen konnten Sie sich in solchen Situationen verlassen, weil er Ihr Selbstbewusstsein stärkte, ohne zu schmeicheln oder zu heucheln, sondern weil Ihrer beider Vertrauenswürdigkeit durch Erfahrung geprüft war?

Cyberwelten – alles entgrenzt?

Ohne einschlägige Statistiken zu bemühen – ob es sie überhaupt gibt? – scheint mir eine immer größere Zahl von Menschen ihre Lebenszeit in virtuellen Räumen zu verbringen, so wie einst DDR-Bürger geistig und mental abends mittels Westfernsehen auswanderten. Die Welt der Spiele ist irreal, aber fast alle Emotionen kann einer dort ausleben; Milliarden können inzwischen dem Alltag entfliehen, indem sie sich, alle möglichen Medien konsumierend, in Gesellschaft fremder Menschen begeben. In der Realität würden sie einander kaum je begegnen. In den „Social Media“ können sie auf fast jede Art interagieren: vom einfachen Klatsch und Tratsch über Diskussionen mit und ohne Sachkenntnis bis hin zu Großmachtphantasien, Katastrophenszenarien, Lügengeschichten, Hochstapelei …

Sie können im weltweiten Cyberspace sadistische Triebe ausleben, ohne dass Blut, Schweiß und Tränen fließen: Dank KI sind Perversionen quer durch die Lustgärten sämtlicher selbst zugeschriebenen Geschlechter zur kollektiven und/oder Selbstbefriedigung abrufbar; Gewalt – Macht – Lust über alles hinaus, was sich der Marquis de Sade im 18. Jahrhundert ausdachte, um die realen Perversionen seines Zeitalters zu demaskieren. Man sperrte ihn ins Irrenhaus, seine Schriften waren auf dem Index und sind nicht totzukriegen – so wenig wie sadistische, narzisstische, aggressive, evasive, normopathische Impulse und Strebungen. 

Isolierte Isolierer

Sie sind Teil der Realität. Wer sie kontrollieren, beherrschen zu können wähnt, muss einsperren und aussperren. Zugleich sperrt er sich selbst aus der Realität, er fliegt zu einem totalitären Wolkenkuckucksheim – oder darüber hinweg – und landet irgendwann hart am Boden.

Spätestens an diesem Punkt bündelt sich die Wahrnehmung des Individuums selbstähnlich in der kollektiven: Narzisstisch gestörte Kollektive immunisieren sich mit Ideologien gegen jede Kritik. Dass ihre Heilsbotschaften und Moralnormen kognitive Dissonanzen, logische Hohlräume, soziale Sprengsätze enthalten, wollen und können sie nicht erkennen. So entstanden Sekten, und insbesondere kollektivistische Politikströmungen tendieren nicht weniger zum Sektierertum als Religionen. Da alle Impulse zur Realität drängen, Dominanz besonders, entwickeln sich unweigerlich Konflikte. Narzissmus blendet, Krieg als Folge entgrenzt schließlich den Sadismus als äußerstes Stadium der Egozentrik.

Der narzisstische Realitätsverlust, der Wechsel aus Selbstüberschätzung und Selbstmitleid, ist inzwischen ein Alltagsphänomen, für den der Volksmund die Wendung „stark im Austeilen, schwach im Einstecken“ hat. Narzissten therapieren das Ungleichgewicht gern mit dicken Lagen aus Worthülsen. Talkshows und Filterblasen im Internet sind ihre Treibhäuser.

Die Spaltung der Klassenkämpfer

Als der SED-Führung in den 70er Jahren ökonomisch und politisch die Felle davon schwammen, proklamierte sie den „ideologischen Klassenkampf“ anstelle des wirtschaftlichen und sozialen. Statt nun den im Geiste von Marx, Engels, Lenin und Mao verbundenen Genossen und ihrem „real existierenden Sozialismus“ geschlossen zuzuarbeiten, schürten moralisch hochtönende Selbstdarsteller im Westen Kampagnen, um ihre sektenartige Gefolgschaft zu ermächtigen. Der Kampf um die politische Deutungshoheit treibt bis heute die Nachfolger. Ihre Gefolgschaft in zweiter Generation jubelt, wenn sie vermeintliche Gegner – auch eine Sahra Wagenknecht und Anhang – zur Strecke bringen können.

Werden sie ihrer Realitätsferne überführt, erklären sich die Gesinnungshelden alsbald zu Opfern böswilliger Feinde. Wie einst die DDR den „antifaschistischen Schutzwall“ samt einer unablässig die eigenen Errungenschaften und Verdienste preisende Propaganda brauchte, brauchen die Mächtigen heute das Eigenlob und verfolgen unnachsichtig ihre Kritiker. Diesseits und jenseits von „Brandmauern“.

Selbstreflexion – auch die von Familien, Völkern, Ethnien, Nationen, Korporationen, Parteien … – kann und darf nicht von der Wahrnehmung durch andere absehen, wenn sie zum Selbst-Bewusstsein führen soll. Das liest sich beinahe banal, aber sie muss eben sehr viele verschiedene, von der Realität auch abverlangte Impulse, Strebungen, Strategien umfassen. Schwierig? Wenn’s einfach wäre, stünde die Welt still.

„Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt,

Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.“

Das lässt der olle Goethe den Fürsten Alfons sagen. Aber nicht nur wegen solcher Weisheiten lohnt sich die Lektüre der sprachmächtigen Dichtung – ebenso wie ein Blick auf die Biographie des Renaissance-Dichters.
 
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