Unterwerfung und ihre Rituale

Individuen – egal, ob sie sich einem biologischen oder sozial konstruierten Geschlecht zurechnen –, ebenso Familien, ethnische Gruppen, Staaten, Konzerne und andere Korporationen geraten immer wieder in Konflikte. Manchmal gelingt es, Interessen gegeneinander abzuwägen und Kompromisse zu finden; sie sind um so seltener dauerhaft, je mehr es um Existenzfragen geht.

Dass alle denselben Interessen folgten, unabhängig wären von zufälligen, unbeherrschbaren Naturereignissen, also in allgemeinem Konsens und „in Harmonie mit der Natur“ lebten, ist mit der Realität schlechterdings unvereinbar – es sei denn, die Menschheit könnte die Rolle eines all-schaffenden, allgewaltigen Gottes einnehmen. Wer immer das anstrebte, scheiterte – oft katastrophal. 

Allerdings ist der Glaube an eigene gottähnliche Bestimmung und ein Paradies für die Gläubigen nie gänzlich verschwunden. Götter, Priester und Heilsversprechen wechselten, Konflikte blieben unvermeidlich: Ohne abweichende Interessen aggressiv zu unterdrücken oder passiv zu dulden, nötigenfalls zu unterlaufen, ließe sich kein „Konsens“ etablieren. Konsens bedeutet immer eine – vorübergehende – Balance der Deutungshoheit. Sich ihm flüchtend zu entziehen, löst keinen Konflikt. Seit jeher bestimmen Dominanz und Unterwerfung die Verhaltensstrategien der Gattung .

Macht der Rituale und Rituale der Macht

Allerdings wechseln die Rollen von Herrschenden und Unterworfenen – etwa zwischen Mann und Frau oder Eltern und Kindern schon deshalb andauernd, weil materielle Überlegenheit eben nicht die einzige Dimension der Macht ist. Die informelle Dimension der Macht – sozialer Rangordnungen, des Rufs und Ansehens – ist für das Leben nicht weniger substanziell. Unweigerlich, unablässig wirkt sie in der nonverbalen und verbalen Kommunikation.

Soziale Rangordnungen werden durch Rituale definiert, die dem einzelnen bestimmte Rollen zuschreiben. Das geschieht meist ebenso unbewusst, wie alltägliches, routiniertes Handeln – etwa das automatisierte Anlegen des Sicherheitsgurtes. 

Die Corona-Masken wurden nur zeitweise, wohl nicht einmal bei den meisten, zur Routine, einfach weil der von Politikern und ihnen dienstbaren Wissenschaftlern und Medien versprochene Schutz, anders als beim Gurt, ausblieb. Die Pflicht zu Gummiband und Filtertüte wurde schiere Machtdemonstration. Die Masken als Symbol der Fügsamkeit unter kollektive Zwänge – von Korporationen, die daran interessiert waren, als „Solidarität” verkauft – verschwanden. Nur wenige „Gläubige” ziehen sie noch routiniert wie unsachgemäß ins Gesicht. Das allerdings hat die Qualität eines sozialen Rituals: Es signalisiert die Bereitschaft, sich zu unterwerfen.

Niemand kann den Alltag ohne Routinen und Rituale meistern. Machen Sie ein kleines Selbstexperiment:

Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo Sie mit sich alleine sind, wirklich ungestört, mindestens für eine Viertelstunde. Legen Sie sich auf den Rücken, entspannen Sie sich, um Ihren Körper zu spüren. Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich des Tagesablaufs – so als liefe ein Film ab, der Sie alles der Reihe nach noch einmal erleben lässt, was vorgefallen ist. 

Nehmen Sie sich nicht zu viel vor: zwischen Nachtlager und Morgentoilette passiert schon eine ganze Menge. Setzen Sie sich lieber einen Endpunkt – etwa die Verabschiedung der Kinder auf den Schulweg.

Wenn Sie eine erste grobe Ablaufskizze haben und nicht eingeschlafen sind, gehen Sie in die Details. Was war ihr erster Gedanke beim Wachwerden? Erinnern Sie sich wirklich noch, mit welchem Bein zuerst Sie aufgestanden sind? Was war Ihr erster Kontakt zu einem anderen Menschen? Was genau haben Sie beide getan? Und in welcher Reihenfolge?

Unbewusste Stabilisatoren

Sie werden feststellen, dass es Mühe macht, jeden Augenblick in der Erinnerung zu verfolgen und dass viele Handlungen unbewusst und routiniert ablaufen. Besondere Aufmerksamkeit und eine klarere Erinnerung verbinden sich mit jenen, die neu sind, die Sie überraschen oder stören und Abweichungen erzwingen. Eine ganze Reihe von Handlungszielen erreichen Sie, ohne lange nachzudenken, meist sind sie mit Ihren Gedanken woanders, während Sie Filtertüten mit Kaffee füllen oder Orangensaft aus dem Kühlschrank nehmen. Auch, wenn Sie Ihrem Lebenspartner einen Kuss geben und sagen: „Das Frühstück ist fertig!“

Der Kuss ist dennoch wichtig, denn das Ritual konsolidiert häusliche Rollenmuster. Jede noch so gewohnheitsmäßige Handlung stabilisiert Ihr Gleichgewicht. Wie sehr Sie von funktionierenden Handlungsroutinen und Ritualen abhängen, merken Sie, wenn Ihnen morgens der Filter platzt und Sie den Satz im Kaffee haben oder das putzmuntere Söhnchen Sie anrempelt und die Eier statt im Kocher auf dem Boden landen. Manchmal reicht weniger, um heftige Reaktionen zu provozieren. 

Noch stärker wirken jene Rituale, die unsere sozialen Interaktionen beinhalten. Wenn jemand seinen Lebenspartner verlässt, ist er vielleicht von der neuen Liebe aufgewühlt oder den neuen Möglichkeiten gefangen genommen, für die er ein fade gewordenes Zusammensein aufgibt. Der Alleingebliebene stürzt – selbst wenn die Trennung für ihn nicht überraschend kommt – in ein Chaos. Es ist übrigens egal, ob die verlorene Liebe oder der Tod zur Trennung führt: Die unterbrochenen Lebensmuster bringen aus der Balance. Handlungsroutinen laufen ins Leere, fehlende Sekunden eines vertrauten Rituals wie der Kuss am Morgen irritieren.

Kinder an die Macht?

Heben Sie mit mir einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.

Aber der Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, den Absichten des Kindes nicht einfach zu folgen oder sie brachial zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf andere Ziele zu lenken. 

Das ist zunächst auch eine Form der Dominanz, aber dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je dauerhaft funktionierenden Patentlösungen zu finden, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss, die Führung wechselt. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?

Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Die vollendete Dominanz wäre die unsterbliche, unzerstörbare Herrschaft über zu Neuen Menschen Erzogene, die – ohne Verantwortung und Selbstbestimmung zu vermissen – glücklich blinzelnd mitproduzieren und -konsumieren. Jeder nach seinen Bedürfnissen. So etwa stellten sich Kommunisten ihr Paradies vor. 

Wie der Weg dorthin aussieht? Ich empfehle die Dokumentation „Chinas Straflager“ auf Arte: Unter Xi Jinpings Führung ist – wie schon bei Mao Zedong – die lichte Zukunft des Neuen Menschen Programm. 

Der Mensch: ein Gewohnheits- und Herdentier

Was sagt die Erfahrung? Frieden, der auf Unterwerfung gründet, ist brüchig. Aber es kann durchaus vorteilhaft sein, sich zu unterwerfen. Jeder Despot verspricht insbesondere den materiell und informell Leistungsfähigen Teilhabe an der Macht. Er bindet sie durch Rituale in die Herrschaft ein: Zugang zum Kreis der besser Gestellten und dessen Prestige, Zeremonien, Privilegien, Ämter, Orden und Ehrenzeichen … Aufstieg in die informelle Macht ist eine mindestens ebenso wirksame Droge wie Geld. Manche werden abhängig. Man könnte es Korruption nennen, aber dieser Begriff zielt zu sehr auf materielle Vorteile und übersieht die Bedeutung der informellen Korruption: die Teilhabe an Herrschaftswissen und sozialem Rang.

Die Kehrseite: Erpressbarkeit, die Drohung mit Entzug. Das zugehörige Ritual ist der Pranger. Jedes Kind kommt schnell darauf, sein Geschwister bei Papa oder Mama zu verpetzen, oder einen der beiden beim anderen anzuschwärzen. Oder beide bei der Oma. Oder alle Deutschen, Muslime, Schwulen, Juden, Rechten, Linken, alten weißen Männer … – fügen sie hier Ihren bevorzugten Sündenbock ein. „Mir nützt, was anderen schadet“ kennt viele Spielarten. 

Beim Pranger-Ritual zerstört das Kollektiv den Ruf des Denunzierten, er wird ausgeschlossen, mit nicht selten dramatischen Folgen. Nein, hier geht es nicht um berechtigte Kritik, die ein qualifizierter, sogar unterhaltsamer Schlagabtausch sein könnte; es tobt impulsiver Kampf um informelle Dominanz. Das Ziel dauerhafter Rufschädigung macht den Unterschied. „Audacter calumniare – semper aliquid haeret“ hieß es bei den Römern: „Nur dreist verleumden, es bleibt immer etwas hängen.“ Die „Social Media“ haben das zum Volkssport gemacht.

Es lohnt zu fragen, wer sich beim kollektiven Schmähen, Demütigen, Erniedrigen wohl eher hervortut: ein Freigeist oder ein devoter Subalterner?  

Trutzburgen der Manipulation

Die rasch wechselnden Eiapopeia- und Grusel-„Narrative“ allgegenwärtiger Medien leben von heuchlerischen Mitleids- ebenso wie von Pranger- und Sündenbock-Ritualen. Sie lügen andererseits gern darüber hinweg. Sie vertrauen auf das Gewohnheitstier im Menschen, auf Herdenimpulse und – Vergesslichkeit. 

Fast jeder richtet sein Verhalten unbewusst an dem von Nachbarn, Verwandten, Freunden, Kollegen aus. Massenmedien bieten im Repertoire möglichst quotenstarker Zerstreuung – mit Krimi, Sport und Talkshows rund um die Uhr – vertraute Gesichter „nahe am Zuschauer“. In Jahrzehnten wurden sie fast Familienmitglieder, viele Sendungen wurden rituell eingeschaltet, sie gewannen Vertrauen und übten sich darin, Gefühle zu bewirtschaften. Für Menschen im Osten waren sie Gegenspieler jener Figuren des Staatsfernsehens, die ich zum Beispiel nicht ins Haus ließ. 

Seit „Medienmacher“ hierzulande versuchen, Einschaltrituale für Propagandazwecke zu nutzen, Informationen passend zu ihrer selbstgewissen „Haltung“ zu „framen“ wie in Staatsmedien der DDR und sich diese Form verblödenden sozialen „Hausfriedens“ als moralisches Verdienst anzurechnen, vertraue ich ihnen wie einst Karl-Eduard von Schnitzler. 

Der rituelle Medienkonsum funktioniert trotzdem, weil kaum irgendwer sich nach Konflikten sehnt, fast alle sich aber gern im Fernsehen, Kino, im Buch oder Videospiel mitleidend den Verfolgten als Hüter der Gerechtigkeit gesellen und schadenfroh das Böse unterliegen sehen. Sie halten sich an die Moral der „Guten“ – Quoten dienen der Selbstgewissheit.

Für fast alle Konsumenten sind Krieg, Spucken und Schläge ins Gesicht, Vergewaltigung, Raub, Einbruch in die eigene Wohnung fern ihres realen Erlebens. Sie arbeiten sich aber gern emotional in virtuellen Räumen daran ab: lesend, zuschauend oder -hörend, Killer spielend oder in den Scharmützeln der Social Media. Sie haben das alles jederzeit unter Kontrolle, so genießen sie den Kitzel von Angstlust und Schadenfreude. 

Falls sie bei Facebook, Instagram oder Twitter selbst einmal unter verbalen Beschuss geraten, gar in einen „Shitstorm“, erwacht jäh der Impuls, diesen Gegner auch unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Organisationen, die ihnen beizustehen versprechen, natürlich bieten sich – fürsorglich – der Staat, die ihm ergebenen Medien und von ihm finanzierte Organisationen an. Sie übernehmen nicht nur die Zensur, sondern auch gleich den medialen Pranger. 

Migration als Waffe

Inzwischen dringen hierzulande die weltweit brennenden Konflikte ins reale Leben ein. Das Vertrauen der Vielen in eine staatliche Ordnung, die sich das Gewaltmonopol vorbehält, wird erschüttert, wenn sie außerstande ist, es durchzusetzen. Polizisten sind längst permanent ebenso überfordert wie Staatsanwälte und Gerichte. Derweil blüht das Geschäft von Anwälten und „Experten“, die soziale Benachteiligung, kulturellen (religiösen) Hintergrund, persönliche Traumatisierung ihrer kriminellen Klientel wortreich zu deren Verteidigung ins Feld führen. Der Rechtsstaat kapituliert in immer mehr Fällen vor der schieren Masse notwendiger gerichtsfester Ermittlungen.

Manchen Staats-Führern dieser Welt gefällt es, wenn die Rechtsordnung westlicher Länder in Krisen gerät. Sie fördern deshalb illegale Migration – egal ob über den Balkan, das Mittelmeer oder Belorussland. Wer glaubt ernsthaft, dass es nicht im Interesse Putins ist, wenn seine Feldzüge in Syrien oder der Ukraine die Wirtschaft, sowie Rechts- und Sozialsysteme in fast ganz Europa unter dem Zustrom von Migranten ächzen lassen?

Die ideologischen Zwangsjacken herrschender Parteien in Deutschland kommen ihm ebenso zupass, wie den Hauptleuten organisierter Kriminalität und Extremisten jeglicher Couleur. Keiner wagt mehr, offensiv auf Übergriffe gegen die Rechtsordnung, gegen Leben und Eigentum der Bürger zu reagieren, denn Parteien sind nicht auf das Gemeinwohl fixiert, sondern auf den Erhalt und Ausbau ihrer Macht. Konkurrenz käme höchst ungelegen, daran ließ Angela Merkel, die „Alternativlose“ keine Zweifel. Jeder Orden für sie ist ein Ritual, sie und ihre Gefolgschaft darin noch im Nachhinein zu bestärken.

Im System aus Sozialistischer Einheits- und fügsamen Blockparteien der DDR waren Alternativen eliminiert, Sitzungen des Scheinparlaments „Volkskammer“ waren mustergültige Rituale der Unterwerfung. „GroKo“ und „Ampel“ lassen, anhand der Aktivitäten zur Zensur im Internet und zur Ermächtigung nichtstaatlicher Korporationen erkennen, wohin sie steuern. Der BND, der Verfassungsschutz mögen demokratischer Kontrolle unterliegen – eine wachsende Zahl von mit Steuern finanzierten und von Parteien oder NGO gesteuerten politischen Korporationen sind längst unkontrollierbar. Und sie zeigen erstaunlichen Ehrgeiz, unliebsame Meinungen nicht nur im bislang noch wenig kontrollierten Internet, sondern in der gesamten Kultur zu unterdrücken. Sie wollen eine außerstaatliche Zensur, sie wollen unangreifbar werden wie Öffentlich-Rechtliche Anstalten, deren Quotenfixierung, Versorgungsmonopol und Finanzgebaren seit langem ihren grundgesetzlichen Auftrag zur Farce werden lassen.

„Cancel Culture“ bedient sich inzwischen einer ganze Palette von Dominanzritualen: Verleumdung, Einschüchterung, moralische Erpressung mittels Kontaktschuld, Opfer- und Tugendposen, sprachliche und sittliche Vorschriften, dazu einer Flut von Gesinnungskitsch, der sie überzuckert.

Sie alle haben ihre Wirklichkeiten: Die Parteiführer, die Medienchefs, die Mitläufer, die wütenden Gegenspieler von der linken, rechten, feministischen, Gender-, Islam-, Irgendwiefundi-, Veganerfront. In diesen Wirklichkeiten werden genau jene realen Konfliktfelder ausgeblendet, für die sie keine Konzepte und Strategien haben. 

Die Realität aber hat eine unendlich scharfe, harte und unausweichliche Kante. Sie scheidet Wollen von Erfahrung, Wahnideen von Wissen. Wer mit ihr in Konflikt gerät, wird am Ende immer unterworfen. Da helfen keine Phrasenrituale.

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