Václav Havel: In der Wahrheit leben

Als Rod Dreher vor einigen Jahren sein Buch „Live not by lies” publizierte, machte er die breitere Öffentlichkeit auf ein Werk aufmerksam, das eigentlich schon weitgehend vergessen, ja schlimmer noch, „überholt“ schien: Václav Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ (dt. 1978). Die Ereignisse der letzten Jahre und der politische Sieg des Wokeismus auf allen wichtigen Fronten strafte diesen Eindruck leider auf bittere Weise Lügen.

Havel ist das Paradebeispiel für all das, was einem Dissidenten – ein bezeichnenderweise erneut überaus populärer Begriff – von Seiten eines autoritären Staates mit totalitärer Ideologie im Alltag angetan werden kann: Ein Studienabschluß wurde ihm unmöglich gemacht, die Berufswahl eingeengt, seine Werke zensiert und verboten, sein Alltagsleben bespitzelt, sein guter Ruf untergraben – selbst seine Freiheit wurde ihm unter den verschiedensten Vorwänden wieder und wieder entzogen. 

Und doch ist Havel jedesmal neu aufgestanden, hat seine Werke weiter im Ausland publiziert, hat Dissidenten verschiedenster Couleur zusammengebracht und schließlich eine wesentliche Rolle in der „Samtenen Revolution“ gespielt, die den Kommunismus in der Tschechoslowakei gestürzt hat. 

Wo aber findet ein Mensch den Mut, wieder und wieder gegen ein gesamtes System aufzustehen, anstatt sich anzupassen oder in die innere Emigration zurückzuziehen?

Die Erniedrigung

Für Havel war es neben seiner literarischen Tätigkeit als Dramaturg und Poet vor allem seine philosophische Bemühung um ein tieferes Verständnis all dessen, was nicht nur der Kommunismus, sondern auch alle anderen Arten enthumanisierender rationalistischer Ideologie mit dem Menschen „machen“, wie sie ihn entwürdigen, von seinen Empfindungen abtrennen und schrittweise ein Lügengebilde aufrichten, das schließlich jeden Bereich des Lebens verzerrt, pervertiert und von der Wahrheit entfremdet. 

Im Zentrum steht daher für Havel die Einsicht in die Erniedrigung des Menschen, der durch ein totalitäres bzw. post-totalitäres System gezwungen wird, nahezu jede alltägliche Handlung auf Konvergenz mit einer übergeordneten Ideologie zu überprüfen und somit jede Eigentlichkeit und Echtheit zu opfern. Schlimm ist hierbei die Tatsache, daß es dem totalitären System der Moderne gar nicht so sehr darum geht, den Menschen von der „Wahrheit“ der jeweils propagierten Doktrin zu überzeugen, wie dies in der Anfangsphase des Totalitarismus des 20. Jhs. noch der Fall war, sondern ihn lediglich zur formalen Unterwerfung zu zwingen. 

Die Erniedrigung der zwar widerwilligen, aber ohne unmittelbaren persönlichen Zwang vollzogenen Selbstgleichschaltung wirkt langfristig ebenso gut, vielleicht sogar noch besser, als die echte innere Überzeugung, denn sie raubt dem Menschen seine Würde und Selbstachtung und macht jede Umkehr unmöglich: Der Zwang zur Kollaboration, die Pflicht, sich immer wieder, und sei es durch kleine alltägliche Details, „die Hände schmutzig zu machen“, erzeugt langfristig eine Scham, ja einen Ekel mit sich selbst, der jegliche direkte Revolte unmöglich macht. Wer tagtäglich mit der Erkenntnis leben muß, daß er, wenn auch unfreiwillig, vor aller Augen „mitgemacht“ hat, verliert jegliche Glaubwürdigkeit vor sich und anderen und fällt als selbstbestimmter und mutiger politischer Akteur langfristig aus. 

Die „Lüge“ füllt somit irgendwann einmal die gesamte Persönlichkeit des totalitären Untertanen aus, oder, in den Worten Havels: „Sie müssen sich benehmen, als wenn sie es glaubten, oder sie müssen es zumindest schweigend tolerieren oder gut auskommen mit denjenigen, die damit umgehen. Aus diesem Grund müssen sie innerhalb einer Lüge leben. Sie müssen nicht die Lüge akzeptieren. Es ist ausreichend, daß sie akzeptiert haben, mit der Lüge und in ihr zu leben. Denn allein durch diese Tatsache bestätigen die Individuen das System, erfüllen das System, machen das System, sind das System.“

Die Rückkehr zur Eigentlichkeit

Freilich machte gerade Havel sich keine falschen Illusionen: Selbst, wer nur eine lediglich indirekt eingeforderte Handlung unterläßt – etwa, ein Schild mit der Aufschrift „Arbeiter aller Länder vereinigt Euch“ in die Ladenvitrine zu stellen (oder in einem modernen Forschungsantrag das Gendern zu unterlassen, ist man versucht, bissigerweise zu ergänzen) –, wird in einem totalitären Staat die Konsequenzen dafür zu tragen haben, und bis sein Mut auch bei anderen Schule macht, kann eine lange Zeit vergehen und das eigene Leben bereits durch die jeweiligen Machthaber völlig zerstört worden sein. 

Doch gerade hierin liegt eine der Besonderheiten Havels, dem es nicht so sehr um eine Anleitung geht, wie politische Macht mit einem Minimum an Risiko zurückgewonnen werden kann, sondern eher um eine ontologische Kehre, die ein jeder für sich selbst vollziehen muß: Wer vollständig erkennt, daß ein „Leben in der Lüge“ trotz materieller Vorteile den eigentlichen Sinn des Lebens an sich negiert und nur einen Schatten, ja eine schreckliche Parodie ermöglicht, kann gar nicht anders, als zur selbstbestimmten Eigentlichkeit zurückzukehren, koste es was es wolle, denn er weiß, daß kein Preis zu hoch sein darf für das Erlebnis der eigenen, inneren Würde: „Wir müssen manchmal bis auf den Abgrund des Elends fallen, um die Wahrheit zu begreifen – so wie wir erst auf dem Grund des Brunnens die Sterne sehen.“

„Leichter gesagt als getan”, mag der Leser hier wohl einwenden; und in der Tat ist nicht jeder Mensch zum Märtyrer geschaffen, ist nicht jeder bereit und fähig, gerade, wenn er mit einer Familie gesegnet ist, bereitwillig auf Frontalkurs gegen einen oppressiven Staat zu gehen: Auch der Dissident muß seine Kräfte so einsetzen, daß nicht nur seine Würde gewahrt bleibt, sondern seinem Versuch der Re-Humanisierung der Gesellschaft der größtmögliche Erfolg beschieden ist. 

Und doch: Auch rationalistische Ausflüchte sind verführerisch schnell zur Hand, und die Kunst des selektiven „Wegschauens“ macht es erschreckend einfach, sich auch der Konfiskation unserer eigentlichen Würde nicht in dem Grade bewußt zu werden, wie wir sollten, und auch die entsprechenden Konsequenzen aufzuschieben – bis eben jener Moment des Selbstekels erreicht ist, wo es schon „zu spät“ sein mag – ein schwieriger Drahtseilakt also.

Es ist nicht vorbei

Auch wir sollten uns daher wieder rasch an jene Lehren erinnern und an die gar nicht so weit zurückliegende, allzu oft kollektiv verdrängte Zeit denken, als eine ganze Hälfte unseres Kontinents im bleiernen Griff eines Lügengebildes gefangen war, dessen ideologische Parameter und Grundvoraussetzungen sich 1989 keineswegs, wie erwartet, in Rauch aufgelöst haben, sondern ganz im Gegenteil Schritt für Schritt die triumphalistische Selbstherrlichkeit des westlichen Linksliberalismus untergraben haben und diesen schließlich auf dieselbe gefährliche Spur wie einst den eben erst überwundenen Gegner setzten … 

Zensur, Gewalt, Denunziation, versperrte Universitätsabschlüsse, staatlich geförderte Diskreditierung, Spitzelei, indirekte Geiselnahme der Familien, gesperrte Bankkonten, öffentlich eingeforderte Zeichen der ideologischen Unterwerfung – all das ist schleichend zurückgekehrt und umso perfider, als es sich immer noch bruchlos unter derselben Fassade von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit präsentiert, die einst den Kommunismus überwand. 

Umso wichtiger ist es, sich die Lehren der Vergangenheit erneut zu Gemüte zu führen und die uns noch verbleibende Zeit zu nutzen, auch andere von der Versuchung der Lüge abzubringen, solange der äußere Druck es noch erlaubt.

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Der nächste Gang …

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