Wie Politiker verantwortlich und haftbar werden

Seit jeher haben Menschen die Organisationsform ihres Zusammenlebens wieder und wieder neu gestaltet. Von der Familienstruktur im Kleinen bis hin zu Staatsverfassungen oder überstaatlichen Zusammenschlüssen im Großen: Nichts hatte Bestand und nichts blieb von Dauer. Selbst Ewigkeitsklauseln oder die heiligen Versprechungen eines Immerwährens, das wechselseitige Versichern der Unverbrüchlichkeit und Schwüre der Unauflösbarkeit halfen nicht. Koexistenz und Kooperationen unterlagen – und unterliegen – einer schier unabwendbaren Dynamik. Alles fließt und alles ändert sich beständig. Von Dauer kann mithin alleine die Einsicht sein, dass das Fortschreiten unaufhaltsam ist.

Inmitten dieser endlosen Umwälzungen zeigt sich allerdings eine bemerkenswerte Konstante: Wie auch immer sich die Machtverhältnisse in menschlichen Gemeinschaften darstellten, stets gab es den Anspruch einer Gruppe von Menschen, anderen Befehle und Weisungen zu erteilen. Egal ob es ein Familienvorstand, ein Stadt- oder Staatsoberhaupt, ein Kaiser oder König, ein Landesherr oder ein gewählter Staatspräsident war: Immer stand die Forderung im Raum, dass der eine dem anderen vorschreiben dürfe, was dieser zu tun habe. Umgekehrt aber wurde genau dieser Anspruch auf Macht auch immer wieder in Frage gestellt.

Man wird daher mit einiger Plausibilität annehmen dürfen, dass gerade diese zentrale Frage nach Macht oder Ohnmacht, die Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, die Bestimmung des Raumes, in dem der eine das Sagen hat und der andere nicht, ein kontinuierlicher Treiber für Änderungen und Umwälzungen gewesen ist. Wo Menschen ihre Verhältnisse übereinstimmend als akzeptabel empfinden, da haben sie keinen Anlass, sie zu modifizieren. Wo dieser gesellschaftliche Konsens aber fehlt oder abhandenkommt, da wird der Keim für eine Neuorganisationen gesät.

Das Bedürfnis eines jeden Menschen dürfte sein, in Verhältnissen zu leben, mit denen er seinen Frieden gemacht hat. Zustände, die unbefriedigend sind, schaffen Unwohlsein und den Wunsch nach Veränderung. Empathie anderen gegenüber und die Einsicht des Verstandes, die eigenen Vorstellungen mit denen anderer in eine gedeihliche Harmonie bringen zu müssen, dürften den Ausgangspunkt für die Entstehung von Recht gebildet haben. Und die Erkenntnis, dass selbst eine noch so minutiös formulierte rechtliche Sollensordnung ihre Umsetzung in eine Seinsordnung erfordert, dürfte der Ursprung für die Implementierung von Machtmitteln zu ihrer Durchsetzung gewesen sein.

Im Zentrum aller menschlichen Bedürfnisse nach gesellschaftlicher Organisation findet sich bei alledem ein individueller Impetus nach Freiheit. Der einzelne will frei sein, nach seinen Befindlichkeiten zu leben. Er will frei sein, über die Duldung oder die Modifikation von Zuständen zu entscheiden. Er will die unabänderlichen Zwänge seiner Lebenswelt von den abänderbaren unterscheiden und jene, die sich wandeln lassen, in eine andere Form überführen. 

Versuche, Menschen diesen Freiraum dauerhaft zu nehmen, haben sich in der Geschichte immer wieder als erfolglos erwiesen. Selbst temporär freiwillig akzeptierte Unterdrückung brach sich irgendwann wieder – individuell oder in Gemeinschaft mit anderen – ihre Bahn in die Selbstbestimmung (oder mindestens in den Versuch, diese wiederzuerlangen).

Die mitteleuropäische – oder weitergreifend: die „westliche“ – Kultur hat mindestens über die vergangenen zweieinhalbtausend Jahre einen erkennbaren Hergang dokumentiert, der auf die verbindliche, rechtliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gerichtet war. Über die Jahrhunderte haben sich (allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz) dauerhaft Strukturen einer Rechtsordnung abgezeichnet, die willkürliche Fremdherrschaft einhegen und eine harmonisierte Selbstbestimmung aller einzelnen miteinander ermöglichen sollen. Von der „Magna Charta“ des Jahres 1215, die dem englischen Adel eigene Abwehrrechte gegen den König verbriefte, über die Regel des „Habeas Corpus“ von 1679, die eine richterliche Rechtmäßigkeitsprüfung bei Festnahmen garantierte; von der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der praktisch zeitgleich verkündeten amerikanischen „Bill of Rights“ von 1789, die dem einzelnen unveräußerliche Grundrechte zubilligten; von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 über das Bonner Grundgesetz von 1949 bis zur Europäischen Grundrechtscharta des Jahres 2000 mit ihrer Garantie einer unantastbaren Menschenwürde: Überall ist der normative Wille erkennbar, die Durchsetzung menschlicher Vorstellungen im Umgang mit anderen in ein verlässliches rechtliches Regelwerk einzubinden.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht formulierte am 5. März 2013: „Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Dabei knüpft der Grundsatz des Vertrauensschutzes an ihr berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an.“

Von dieser Rechtserkenntnis umfasst ist die Einsicht, dass auch ein Gesetzgeber durch die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip daran gehindert ist, unvorhersehbar in die rechtskonform gestaltete und konkret organisierte Selbstbestimmung von Menschen eingreifen zu können. Anders gesagt: Auch der Gesetzgeber ist an das Recht gebunden, um die Freiheitsbetätigungen jedes einzelnen zu schützen. Die Politik steht also nicht über dem Recht, sondern sie hat sich innerhalb seiner Grenzen zu bewegen. Die verlässliche Geltung des Rechtes steht also nicht etwa zur Verfügungsdisposition eines als bindungslos gedachten politischen Gesetzgebungswillens.

Wenn nun allerdings der Gesetzgeber und das Gesetz unter der Garantie des mitteleuropäisch gewachsenen Vertrauens in eine Rechtsfrieden schaffende normative Ordnung stehen, dann muss sich diese Rechtsbindung konsequent auch auf die handelnden Akteure innerhalb des Gesetzgebungsprozesses beziehen. Anders gesagt: Eine Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger sicherstellende Rechtsordnung kann ihrer Funktionsbestimmung dann nicht verlässlich nachkommen, wenn einzelne Gestalter und Akteure innerhalb dieses Organisationszusammenhanges außerhalb dieses Kontextes stünden. Rechtsetzung ohne eigene Rechtsbindung der Gesetzgeber führt absehbar in ein Vollzugsdefizit der Gesamtrechtsordnung.

Auf der Grundlage dieser rechtstheoretischen Erwägungen wird die verfassungswirkliche Freistellung der deutschen Bundestagsabgeordneten von der rechtlichen Verantwortlichkeit anderen gegenüber als eine rechtsstaatliche Regelungslücke sichtbar. Die reine Gewissensbindung des Parlamentariers diminuiert seine Pflichtenposition auf einen rechtlich nicht greifbaren ethischen Solipsismus. Mit Blick auf das umfassend konzipierte Rechtsstaatsprinzip des modernen Staates erweist sich diese Lücke als eine von dem Verfassungsgeber mutmaßlich ungewollte und mithin als ein systematisch ausfüllungsbedürftiges normatives Vakuum. 

Doch selbst wenn diese Lücke im historischen Parlamentarischen Rat insgeheim bewusst als solche gewollt gewesen wäre, erschiene eine Schließung des verfassungsrechtlichen Lochs legitim, da auch einem modernen, aufgeklärten Verfassungsgeber nicht die Befugnis zukommt, verfassungswidriges Verfassungsrecht in Geltung zu setzen.

All dies als folgerichtig unterstellt, muss nun also die Frage beantwortet werden, wie eine solche rechtstheoretisch gebotene, aber noch nicht normativ in die Verfassungsrechtspraxis implementierte Regelung tatsächlich in Geltung gesetzt und anschließend vollzugsfähig gemacht werden kann. Die systematische Schwierigkeit für eine Realisierung dieses Vorhabens liegt erkennbar in der Selbstbetroffenheit der verfassungsgebenden Akteure: Niemand anderer als die bislang aus der in Rede stehenden rechtlichen Verantwortung entlassenen Abgeordneten selbst kann im Plenum darüber entscheiden, ob die Lücke des geschriebenen Verfassungsrechtes geschlossen wird oder nicht. Im Raum steht also die aus der Geschichte hinlänglich bekannte Frage, wie das Recht als Prinzip gegenüber der Macht einer gegebenen Organisation durchgesetzt werden kann.

In ihren Überlegungen zum „Abschied von der Kindheit der Menschheit“ formulierten David Graeber und David Wengrow („The Dawn of Everything“, in Deutschland: „Anfänge“) einen humanistischen Befreiungsimperativ eigener Art: „Wenn, wie viele meinen, die Zukunft unserer Spezies heute von unserer Fähigkeit abhängt, etwas anderes zu schaffen (z.B. ein System, in dem sich Reichtum nicht frei in Macht umwandeln lässt oder in dem nicht einigen Menschen gesagt wird, ihre Bedürfnisse seien unwichtig oder ihr Leben habe keinen eigenen, inneren Wert), dann geht es letztlich um die Frage, ob wir die Freiheiten wiederentdecken können, die uns überhaupt erst zu Menschen machen.“ 

Der Impuls, als erwachsener Mensch selbstbestimmt der Macht unter rechtlich geordneten Verhältnissen begegnen zu können, erfordert mithin ein schöpferisches Tätigwerden.

Kraft solchen schöpferischen Spiels kann gelingen, die beschriebene verfassungsrechtliche Lücke zu schließen. Das Instrument zu dieser Verwirklichung ist uns mit dem Demokratieprinzip nämlich bereits verfügbar gegeben: Der erste Wahlbewerber, der seinen potentiellen Wählern zusagt, im Falle seiner Wahl persönlich für die Sorgfalt und Güte seiner anschließenden Entscheidungen auch haftungsrechtlich einstehen zu wollen, bringt – rein spieltheoretisch – alle seine Mitbewerber unausweichlich in die Lage, sich seinem politischen Leistungsversprechen entweder anzuschließen oder aber unmittelbar als Wahlbewerber performativ zu scheitern. 

Denn welcher Wähler würde dann noch einen Politiker zum Bundestagsabgeordneten küren wollen, der auf die Beibehaltung seines quasi-absolutistischen Unangreifbarkeitsdogmas bestünde? Sobald auch nur ein Bewerber glaubhaft verspricht, als Parlamentarier nichts zu entscheiden, was Wählern rechtsrelevant schaden kann und der für den Fall seiner Fehlsamkeit Ersatz zusagt, sind alle verantwortungsscheuen Mitbewerber ihrer Wahlchance umgehend verlustig.

Seien wir also gespannt, wann der erste demokratische Kandidat hervortritt und die historisch verbliebene Lücke vom verantwortungsfreien, absolutistischen Abgeordneten außerhalb der Rechtsordnung in unserer Verfassung schließt. Vielleicht hängt die Zukunft unserer Spezies von dieser Verantwortungsbereitschaft ab.

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2 Kommentare. Leave new

  • Miguel David
    11. Februar 2025 8:51

    Sehr geehrter Herr Gebauer,
    ich verstehe Ihren Text so das die etablierte Macht nicht mit den bisherigen Mitteln der Demokratie von ihren selbstsüchtigen Handlungen abgebracht werden kann. Das ist nichts anderes als der Offenbarungseid der Demokratie. Selbstverständlich ist der Macht bewusst welche Implikationen die mögliche Eigenverantwortung von Politikern für sie selber hätte.
    Was im Vorfeld passieren wird erleben wir jeden Tag: Der/die ist Nazi,Nazi,Nazi oder „Die Wahl muss rückgängig gemacht werden.“ Aus meiner Sicht ist das zugehörige Rechtssystem nur ein Wurmfortsatz der Macht.

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  • Ja, wenn einer aufsteht und sowas glaubhaft im Falle seiner Wahl zusagt… Sicher er wird von allen „Omas gegen …“ zuerst mal an Allem gehindert. Trotzdem ist so ein Wort und Schritt zur verantwortlichen Haftung dringend nötig! Dazu kann meine Webseite polpro.de ein Werkzeug sein. Diese Webseite ist allerdings erst im Aufbau. So habe ich gerade die Programmierung einer Useranmeldung beauftragt. Dort kann dann Jeder solche Fragen einstellen. Jedenfalls bald.

    Dann ist man nicht mehr auf Partei-Vorgaben der angeblichen Probleme angewiesen. Denn was derzeit der Wahl-O-mat oder der Wahl-Swiper anbietet, sind die Interessen der Parteien, nicht der Bürger! Mein Projekt wird aus Geldmangel und weil mir auch „etwas“ Zeit fehlt, allerdings erst nach der aktuellen Bundestagswahl fertig. PHP und HTML kann ich etwas, arbeiten mit Datenbänken weniger. so tippe ich derzeit nur kleine Bemerkungen. Aber es wird…

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