Das kürzlich veröffentlichte Interview mit Putin durch Tucker Carlson hat erhebliche Wellen geschlagen: Mehrere hundert Millionen Menschen haben sich die Ausstrahlung angesehen, in der Putin, kaum aggressiv unterbrochen von Carlson, seine Version des Ukraine-Konflikts und dessen historischen Hintergründe darlegte.
Ob man Putins Ausführungen zustimmen will oder nicht, wird wohl eher ein Ergebnis einer politisch-emotionalen Grundorientierung sein. Aber: Die Ansichten des Gegners kennenzulernen und zu verstehen, ist auf jeden Fall eine gute Idee. Ignoranz führt keinesfalls zu positiven Ergebnissen und schon gar nicht zu einer möglichen Einigung, die hoffentlich nicht erst nach einer Totalniederlage einer der Kriegsparteien kommen wird.
Ein entscheidender Faktor in der Diskussion ist das unterschiedliche Verständnis des Völkerrechts. Aus westlicher Sicht hat Russland durch den Angriff im Februar 2022 auf die Ukraine eindeutig gegen den Grundsatz der Unverletzbarkeit der Grenzen verstoßen. Die Russen sehen das anders, für die fängt der Krieg spätestens 2014 mit dem Maidanputsch und den nachfolgenden bewaffneten Auseinandersetzungen an der Kontaktlinie von Donezk und Luhansk an, wenn nicht früher. Hier soll nicht erörtert werden, wer da den ersten Schuss abgegeben hat, es soll lediglich versucht werden, das Rechtsverständnis der russischen Seite darzustellen, die sich völkerrechtlich auf das Sezessionsrecht beruft, während der Westen vom Rechtsgrundsatz der unverletzbaren Grenzen ausgeht.
Die Rechtsfrage
Die Vorstellung, Grenzen wären je unveränderbar gewesen, schwankt in ihrer Relevanz zwischen fast idiotischem Idealismus und völligem Realitätsverlust, insbesondere was Europa betrifft. Zwar sind seit dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen einigermaßen fest, mit Ausnahme der ehemaligen jugoslawischen Grenzen und der Grenzen der zerfallenen Sowjetunion. Gegenwärtig gestaltet sich dies schon deutlich komplizierter.
Im Grunde sollte das Volk über seine Staatlichkeit bestimmen, und das tat es auch erfolgreich in vielen Fällen, am eindrucksvollsten am Beispiel der Vereinigten Staaten selbst, die sich von England abspalteten und dann durch Kriege gegen die Ureinwohner und die Mexikaner ihr Territorium erweiterten. Im Falle der Südstaaten ist die Sezession misslungen, ein blutiger Bürgerkrieg reintegrierte die Abtrünnigen wieder in die Union.
Einmal Gewonnenes soll nicht verloren gehen, und die letzte gültige Grenze soll auch die endgültige sein. Ob das so haltbar ist, darf bezweifelt werden. Nun, in Europa ist seit der Auflösung Jugoslawiens nicht viel passiert. Katalonien blieb bei Spanien, Schottland bei Großbritannien, nur im Osten türmen sich die Probleme. Russland hat die Krim einkassiert und sich nach einer Volksabstimmung einverleibt. Dasselbe geschah auch mit den Donbass-Republiken. Aus russischer Sicht ist man noch dabei, das flugs annektierte Staatsgebiet vollständig zurückzuerobern. Auch diese Sezession plus Annexion wurde nachträglich durch Volkes Stimme sanktioniert, vom Westen aber nicht anerkannt.
Wir haben also zwei unvereinbare Interpretationen desselben Sachverhalts. Was für den einen eine berechtigte Sezession ist, ist für den anderen das unrechtmäßige Ergebnis eines militärischen Überfalls. Dies wird zumindest in Deutschland fast gebetsmühlenartig den Medienkonsumenten eingehämmert. So beginnt die „Bild” so gut wie jede Nachricht zum Ukraine-Konflikt mit den Worten: „Auf Befehl von Kreml-Despot Wladimir Putin haben russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen und führen seitdem einen erbarmungslosen Krieg gegen das Nachbarland.“ Despot, Überfall, erbarmungslos – die Wertung ist klar.
Es stellt sich die Frage, wie die Frage der Sezession völkerrechtlich überhaupt geregelt ist. Als vermutlich zuverlässige Referenz nehmen wir hier die Ausführungen des wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung, die ja wohl als Organ unverdächtig und unparteilich sein dürfte. Der schreibt in einer Veröffentlichung vom 17. September 2007 zum Sezessionsrecht und der Staatswerdung und Anerkennung von Staaten:
„Vor dem Hintergrund des nach wie vor ungeklärten zukünftigen Status des Kosovo stellt sich einmal mehr die Frage nach der Existenz und den Voraussetzungen eines völkerrechtlichen Sezessionsrechts. In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, welche Anforderungen ein Herrschaftsverband erfüllen muss, um als Staat im Sinne des Völkerrechts zu gelten, und welche Wirkung der Anerkennung eines Staates durch Drittstaaten zukommt.
- Völkerrechtliches Sezessionsrecht: Unter Sezession (Abtrennung) versteht man einen Fall der Staatennachfolge, bei dem ein Teilgebiet unabhängig wird und der alte Staat – mit nunmehr verkleinertem Staatsgebiet – als Völkerrechtssubjekt fortbesteht. Geht die Sezession von einer Gruppe von Menschen aus, welche auf einem zusammenhängenden Gebiet ansässig sind, ethnische, kulturelle und sonstige Gemeinsamkeiten aufweisen, über ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsgefühl verfügen und somit als „Volk“ anzusehen sind, steht die Sezession im Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker einerseits und der Souveränität des alten Staates in besonderer Ausprägung seiner territorialen Integrität andererseits. Staaten haben seit jeher das Recht zur Wahrung ihrer Existenz, und zwar gerade innerhalb der bestehenden territorialen Grenzen (vgl. auch Art. 2 Nr. 1 VN-Charta). Zugleich gilt das gewohnheitsrechtlich verankerte und jeweils in Art. 1 der beiden VN-Menschenrechtspakte von 1966 niedergelegte Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts kann ein Volk über seinen inneren und äußeren Status entscheiden. Ob das Selbstbestimmungsrecht in letzter Konsequenz auch das Recht zur – u. U. gewaltsamen – Sezession umfasst, ist umstritten. So steht die internationale Staatengemeinschaft einem Sezessionsrecht außerhalb des Kontextes der Entkolonialisierung ausgesprochen distanziert gegenüber. Das überwiegende völkerrechtliche Schrifttum lehnt dagegen ein Recht auf Sezession nicht vollständig ab, betont aber mit Blick auf die Bedeutung des Souveränitätsprinzips, dass ein Volk sich zunächst stets mit partieller Selbstbestimmung im Rahmen autonomer oder föderaler Strukturen zufrieden geben muss. Ein Sezessionsrecht bestehe somit nur als ultima ratio in Ausnahmesituationen – etwa bei evidenter und eklatanter Verletzung fundamentaler Menschenrechte wie z. B. Völkermord, Vertreibung und ethnische Säuberung.“
Sezession oder Annexion?
Die Rechtslage ist also zumindest uneindeutig. Es dürfte unbestritten sein, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion innerhalb der Ukraine erhebliche Differenzen zwischen der ukrainischsprachigen und russischen Volksgruppe entstanden sind. Tendenziell wurden die Russophonen unterdrückt. Sprachgesetze, Vernichtung von russischen Kulturdenkmälern und finanzielle Repressalien sprechen deutlich dafür.
Es ist wohl auch nicht zu bestreiten, dass ab 2014 ein Krieg gegen die östlichen Oblaste geführt wurde. Die Versuche durch die Minsker Abkommen eine föderale Organisation des Staates zu erreichen, sind nicht zuletzt am offenen Unwillen von Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande gescheitert, die Verträge zu erfüllen. Diese dienten letztlich nur als Pause für die Hochrüstung der Ukraine. Waffenlieferungen und logistische Unterstützung gegen Russland sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Friedensangebote Russlands wurden verworfen. Äußerungen führender ukrainischer Politiker legen den Verdacht auf zumindest beabsichtigten Völkermord, Vertreibung und ethnische Säuberung nahe. Russland war Garantiemacht, der Minsker Vereinbarungen, also nach eigener Auffassung zu Intervention geradezu verpflichtet.
Interessanterweise wurden Vorschläge, die Annexion des Donbass durch eine international überwachte Volksabstimmung zu überprüfen und gegebenenfalls zu legitimieren, von der ukrainischen Regierung zurückgewiesen. Im Fall der Ukraine handelt es sich nicht um eine Sezession im engeren Sinn, sondern bestenfalls um eine Annexion mit Zustimmung des Großteils der Bewohner des betroffenen Gebiets. Eine funktionierende Staatlichkeit ist durch die Aufnahme in die russische Föderation gegeben. Die Forderungen nach funktionsfähigen staatlichen Strukturen scheinen bei der weitgehend von westlicher Unterstützung abhängigen Ukraine in Frage zu stehen, deren Staatshaushalt beinahe vollständig subventioniert wird.
Die Fragen, die sich stellen, sind im Wesentlichen folgende: Ist nach der erfolgten kriegerischen Eskalation in der Ukraine überhaupt ein friedliches und förderliches Zusammenleben der Volksgruppen denkbar, oder sollte besser eine Trennung, ähnlich wie die zwischen Tschechien und der Slowakei, akzeptiert werden? Hat nicht die Ukraine selbst Züge eines Kunststaates, der sich nur mühsam eine historische Identität zu geben versucht, die durch schlecht integrierte Volksgruppen wie Russen, Ungarn und Rumänen immer wieder infrage gestellt wird? Ist die Ukraine nicht vielmehr Opfer geostrategischer Auseinandersetzungen, die ihr nicht guttun und für ihre Bewohner fatal sind?
Ich erinnere an Zbigniew Brzeziński, der 1997 in seinem Werk „Die einzige Weltmacht” eine Geostrategie für die USA präsentierte. Die Strategie zielte darauf ab, zunächst die globale Vormachtstellung der USA vor einem möglichen eurasischen Gegengewicht zu sichern und auf lange Sicht eine neue kooperative globale Ordnung zu etablieren. Brzeziński betrachtete die Russische Föderation als einen bedeutenden Akteur in Eurasien und die Ukraine als geopolitischen „Dreh- und Angelpunkt”:
„[…] weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. […] Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“
Das Budapester Memorandum
Die Instrumentalisierung der Ukraine als Frontstaat gegen ein immer noch als Gegner empfundenes Russland hat bereits jetzt fatale wirtschaftliche Folgen für die Ukraine selbst sowie für die EU, insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland. Die Wirtschaft schwächelt, russische Rohstoffe sind kaum zu ersetzen und wenn überhaupt, dann zu exorbitanten Kosten. Die Ukraine leidet unter einem Massenexodus, einer massiven Verschuldung, dem Verkauf ihrer Rohstoffe und ihres Bodens sowie einer enormen Zahl an Kriegsopfern.
Die Frage stellt sich, wem diese Auseinandersetzung letztendlich nützt. Russland wird in die Arme Chinas gedrängt, die BRICS als nichtwestlicher Wirtschaftsverband werden gestärkt, und der Westen verliert an Glaubwürdigkeit und Stärke.
Ein Hauptargument gegen die russische Position in der Ukrainefrage ist das Budapester Memorandum. Dieses umfasst laut Wikipedia „drei Vereinbarungen, die am 5. Dezember 1994 in Budapest im Rahmen der dort stattfindenden KSZE-Konferenz unterzeichnet wurden. In den Vereinbarungen gaben die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten gemeinsam Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine Sicherheitsgarantien in Verbindung mit deren Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag und als Gegenleistung für die Beseitigung aller Nuklearwaffen auf ihrem Territorium.
- Artikel 1 bekräftigt erneut die Verpflichtung (reaffirm commitment) der Signatarstaaten, Souveränität und bestehende Grenzen zu achten und verweist auf die Schlussakte von Helsinki als Grundlage für die Prinzipien der Souveränität, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität.
- Artikel 2 bekräftigt erneut die Pflicht (reaffirm obligation) zur Enthaltung von Gewalt und verweist auf die Charta der Vereinten Nationen als Grundlage des Gewaltverbotes.
- Artikel 5 bekräftigt erneut die Verpflichtung (reaffirm commitment) zur Enthaltung vom Einsatz von Nuklearwaffen gegenüber Nicht-Nuklearwaffen-Staaten, die Teilnehmer des Atomwaffensperrvertrages sind.
Erst einmal scheint die Abmachung klar, die, wie noch darzulegen ist, kein eigentlicher Vertrag, sondern eine Absichtserklärung war. Zu berücksichtigen wären allerdings die Zeitumstände: 1994 bestanden zumindest dem Willen nach durchaus noch freundliche Verbindungen zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, den sogenannten GUS-Staaten. Russland selbst befand sich in einer Phase massiver, von den USA stark beeinflusster Umstrukturierung, die innenpolitisch und sozial katastrophale Folgen hatte. Dass ein fundamentaler Gegensatz zwischen der Ukraine und Russland zu befürchten war, war nicht denkbar. Die Absichtserklärung wurde so in einem Glauben unterzeichnet, dessen Fundamente sich später als unrealistisch herausstellen sollten.
Jeder kennt vielleicht aus eigener Erfahrung oder von Hörensagen Scheidungsprobleme. Die einstmals einzige geliebte Frau mutiert innerhalb einer gewissen Zeit zum Feind im eigenen Bett, dann ist nur noch Feindschaft und Trennung möglich und die einstmaligen Treueschwüre sind das Papier nicht mehr wert, auf dem sie fixiert sind. So scheint es auch hier gelaufen zu sein.
Fundamentalpolitik versus Realpolitik
Klar scheint, auch Verträge stehen in einem Kontext, können lange gelten, tun es aber in der Regel nicht, sondern werden in Abhängigkeit von veränderten politischen Bedingungen verworfen, gekündigt, geändert oder schlicht und ergreifend missachtet. Man mag das schlimm finden, aber so ist das Leben. Den Anspruch, geschichtliche Entwicklungen an einem Punkt, der einem gerade passt, zu fixieren, ist schlicht absurd und lebensfremd. Das Verhältnis von Russland zur Ukraine war zur Zeit der Abfassung des Memorandums grundsätzlich verschieden von dem heute. Wer daran schuld ist, sei hier nicht erörtert. Wer es wissen will, kann sich darüber informieren und sich eine Meinung bilden.
In eigenartigem Kontrast dazu steht die bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands wohl erfolgte mündliche Zusicherung des Westens, die Nato nicht nach Osteuropa auszudehnen. Das wurde vertraglich nicht fixiert, schien aber unter den damaligen historischen Bedingungen fast als eine Selbstverständlichkeit. Dass so ein „Gentlemen´s Agreement“ bestanden hätte, wird vom Westen vehement abgestritten, während das Budapester Memorandum in den Rang eines Vertrages gehoben wird.
Die Idee, Geschichte einzufrieren, im Sinne eines Völkerrechts, das die Unverletzbarkeit von Grenzen postuliert, scheint realitätsfremd, besonders wenn es nur anerkannt wird, wenn es bestimmten Machtgruppen opportun erscheint. Die eigentliche Frage sollte sein, was am besten zu einem friedlichen und gedeihlichen Leben der betroffenen Völker beiträgt. Dies wird auf keinen Fall durch die gebetsmühlenartige Wiederholung scheinbar unhinterfragbarer rechtlicher Forderungen erreicht werden können.
Frieden scheint im Kern nur erreichbar, wenn zumindest ein intellektuelles Verständnis der gegnerischen Positionen in den Fokus rückt. Um mehr geht es mir hier nicht. Der Krieg in der Ukraine muss einfach enden, zu groß sind die Opfer, die Kosten und das menschliche Leid. Unrealistische Maximalforderungen aufgrund von einseitigen Rechtspositionen helfen da nicht weiter.
Pazifist zu sein ist heutzutage schon „querdenkerisch“. Leider.