Weihnachtsglanz – Teil 1

Der Dachboden des Weihnachtshauses – ich nenne es so, weil Weihnachten nie mehr so war wie in dem Zuhause meiner Kindheit – dieser Dachboden war eine riesige Wunderkammer. Über fünf Meter Höhe strebten zwei Etagen frei liegender, vom Wetter ramponierter Ziegel zum First, nur in der unteren Ebene waren Verschläge für die Bewohner abgeteilt. In unserem gab es Schränke und Truhen mit Kleidung der Vorfahren, mit allerlei vergessenem Hausrat und alten Fotoalben. Von dort holten wir alljährlich den Weihnachtsschmuck, auch Schlitten, Bretter und Skischuhe. Manchmal flimmerten Pulverschneeflocken im Halbdunkel des Fachwerks, wenn der Winter kalt war und trocken, der Wind Kristalle zwischen Ziegeln, Balken, Sparren hindurchtrieb. Da waren Ritzen, durch die weißes Licht flirrte, über grauweiße Wellen von Staubschnee, über schiefgetretene Dielen. 

Der Schnee musste weg, ehe er schmelzen und an die Decke darunter braune Wasserränder batiken konnte. Schneeschippen gegen Schmutzbatik. Trotzdem gab’s einige davon an den Zimmerdecken des alten Hauses, sie sahen aus wie Landkarten. Der Christbaum reichte vom Boden bis hinauf, die Spitze zeigte auf die sepiafarbenen Umrisse eines Landes irgendwo, das niemand gesehen hatte. Bis Heiligabend hatte der Baum im Hof gestanden, im Schnee. Dann trugen wir ihn hinauf, den Schmuck vom Boden herunter über die knarrenden Holztreppen, Tonleitern aus Holz. Gestimmt in zwei Jahrhunderten von Tausenden Füßen: langsamen und schweren, kleinen, flinken, leichten, und von Hundepfoten.

Auch von Stürzen. Vom Poltern der Zinkeimer, die Nachbar Hüller seinen Buben nachschleuderte: „Holamal’n Eema Wossa, Lärje!“ Tag für Tag. Wasser von der Leitung im Hof für den wachsenden Haushalt, Kind für Kind, fast Jahr für Jahr. Wie viele Eimer Wasser haben sie hinauf geschleppt in knapp zwei Jahrzehnten? Was für Weihnachten mögen sie gehabt haben, diese Hüllers, in ihrer Wohnküche? Ich weiß nicht einmal mehr, ob die Kinder zu Weihnachten weniger Prügel bekamen. Die Tür zu ihrem stinkenden Stall blieb immer zu. Meistens knallte sie zu, dann hörten wir das Gebrüll der Eltern, das Jammern und Schreien der Kinder. Gab es dort ein Weihnachten?

Immerhin wünschten wir auch diesen Nachbarn „Frohe Weihnachten“. Und einen Baum hatten sie wohl, sie gingen nur nicht zur Kirche.

In der Kirche erwartete uns der alte Pfarrer, ein begnadeter Prediger vor dem Herrn. Ich habe nie wieder einen wie ihn erlebt. Fast ohne einen Blick aufs Papier sprach er wortgewaltig, und mir schien es, als erreichte er mit seinen graublauen Augen jeden Einzelnen der Zuhörer. Sobald er anhub, erfüllte seine Stimme das barocke Kirchenschiff mit drei Emporen ohne Mikrophon und Lautsprecher bis hinauf zur letzten Bank:

“Weihnachtsfriede, Weihnachtsfreude, Weihnachts …”, nein, das dritte Wort war nicht “Eierkuchen”. Es war ein Wort, das er in der Heiligabend wie sonst nie gefüllten Kirche dem Publikum abverlangte. Dem Publikum, denn “Gemeinde”, Gläubige, die zum Gottesdienst kamen, waren ja nur wenige. Die meisten dieser Kirchenbesucher wollten sich in die rechte Stimmung bringen und den mitgebrachten Kindern die Zeit bis zur Bescherung verkürzen. Ganz wenige kamen, weil sie sich dem antireligiösen Staatswesen widersetzen wollten. Der Pastor wartete einen winzigen Moment, als wollte er das Wort aus dem Publikum hören.

Was war eigentlich dieses „dritte Wort“? Es will mir nicht einfallen.

Was passt zu Weihnachten, zu Friede und Freude – außer Eierkuchen?

Heringssalat. Meine Großmutter bereitete immer eine große Schüssel davon vor, das Zeug war köstlich, schmeckte mir auch noch zum Frühstück am nächsten und übernächsten Morgen. Was noch?

Tauwetter. Vor allem natürlich „Geschenke“. Und der Baum.

Wenn wir ihn aus dem frischen Pulverschnee im Hof holten, war er noch steif vom Frost. Wir schüttelten ihn ab, trugen ihn die Tonleiter hoch, spitzten mit einem großen Küchenmesser das untere Ende zu. Der Fuß wurde in einem Holzkreuz verkeilt, die Wohnzimmertür verriegelt, denn er stand genau in einer Ecke davor, und er zeigte auf die besonders auffällige Schmutzbatik. 

An einen Winter erinnere ich mich besonders. Es fror Stein und Bein, und unser Christbaum war ein Prachtexemplar, gerade gewachsen, so hoch, dass wir unten etwas absägen mussten. Wir packten den Schmuck aus den Schachteln: die Kerzenhalter voll altem Wachs wurden angeklemmt, die silbernen Kugeln, Vögel, Glocken so verteilt, dass sie nicht über den Kerzen hingen, möglichst auch nicht darunter, damit wenigstens ein paar über die Feiertage kamen, ohne von Stearin bekleckert zu werden. Es war sehr alter Christbaumschmuck, damals schon mindestens 20, 30 Jahre alt, und es war ziemlich viel. Der Baum hing voll und bekam zum Schluss noch ordentlich Lametta.

„Früher war mehr Lametta!“

Der Baum sah prächtig aus. Heiligabend mittags taute er auf und begann zu duften. Nein, nicht nach Tanne oder Fichte: Er hatte ein Geheimnis. Sein Duft war vom Frost konserviert worden, und nun, da in der Stube das Eis schmolz, gab er es preis: Im verschneiten Hof hatte ihn der schwarze Kater angepinkelt. Woher ich weiß, dass es der schwarze war, da sich doch im Hof Dutzende Kater herumtrieben? 

Der schwarze war der hässlichste und bösartigste, unbestritten. Einmal hätte ich ihn fast erwischt, wie er auf die Schwelle meines Kinderzimmers pisste, der Gestank war unverwechselbar. Wir mussten also an jenem Heiligabend mittags den wunderschönen Baum abdekorieren, wegschaffen und irgendwie einen neuen besorgen. 

Ich war damals dreizehn, konnte mit Axt und Säge umgehen, war fürs Beschaffen von Heizmaterial verpflichtet, wurde folglich beauftragt, den Duftbaum am besten gleich zu zerhacken, während sich die Mutter, den Rodelschlitten an der Hand, eine Handsäge im Rucksack, auf die Suche nach Ersatz machte. Notfalls hätte sie im Wald eine Fichte geklaut. Aber im Hof hielt uns Nachbar Hüller auf: „Stinkt ze sea, Lärje, oda?“. Er grinste uns an. „Isch hob jo dän Kota jäsähn. Wollta’n ondan?“

Ich war perplex Hüller bot Hilfe an? Vor diesem Schläger hatte ich immer nur Angst gehabt. Mutter und ich – wir trauten ihm beide nicht über den Weg, Mutter wollte schon ablehnen, aber mit einem Blick auf die Uhr besann sie sich. „Was soll er denn kosten?“ 

„Nüscht, ze Weenocht is jeschenkt. Un weilse da Lilo jeholfen ham mit dän Sigi.“

Das stimmte. Unsere Mutter hatte erste Hilfe als Hebamme beim fünften – oder war’s das sechste? – Kind der dicken Lilo geleistet. Ich konnt’s kaum glauben. Ausgerechnet unsere Mutter schneidet im stinkenden Stall einem Neugeborenen die Nabelschnur durch, badet es, wickelt es in Windeln. Es musste zwei Jahre zuvor gewesen sein 1961, das Mauerjahr.

Niemand kam mehr weg. Aus uns konnten keine Flüchtlinge mehr werden. Mutter und Großmutter hatten jahrelang darüber gestritten: Gehen oder bleiben? Sie waren geblieben, sie wollten unser marodes altes Fachwerkhaus und den Garten unbedingt erhalten, trotz Mangels an Handwerkern und Material, trotz des Ärgers mit Behörden und Nachbarn wie Erwin und Lilo. Dabei hatten sie längst nicht mehr dabei mitzureden, wer bei uns wohnte. Erwin war eingezogen, weil er nach dem Krieg – je nach politischer Sicht – „Umsiedler“ aus Breslau, so hieß es in der DDR, Flüchtling oder „Heimatvertriebener“ war, so hieß es im Westen. Erwin hatte zwei Söhne mitgebracht, fand in einem der umliegenden Dörfer seine Lilo und zeugte mit ihr weitere Kinder. Dem Jüngsten half unsere Mutter in die Welt, weil die Hebamme nicht schnell genug für Lilos routinierte Niederkunft war. 

Flüchtlingsquartiere … Eigentümer mussten Platz machen und Zimmer räumen, aber Hüllers drei Zimmer, von denen nur die Wohnküche sich beheizen ließ, wurden enger mit jedem Kind. Sieben waren es schließlich. Fünf Jungen schliefen in einem ungeheizten Raum von zwölf Quadratmetern, die Mädchen bei den Eltern neben der Wohnküche. Viel komfortabler als die Hüllers lebten wir eigentlich auch nicht. Zwar hatten wir eine Wasserleitung, wir mussten keine Eimer die Treppen hoch schleppen, aber hinunter aufs Plumpsklo mussten wir genauso, kein Spaß im Winter bei zehn Grad Minus – aber das ist eine andere Geschichte. 

Erwin Hüller überraschte uns damit, dass er zwei Fichten hatte. Die erste habe Lilo nicht gefallen, da habe er eine andere organisiert. „Organisiert“ bedeutete: Gekauft hatte er sie nicht. Er hätte auch lügen können – es war egal. Mutter hatte schließlich den Fuchsschwanz im Rucksack, und er war nicht dumm genug, es nicht zu bemerken. Der erste Baum war wirklich unansehnlich, er bot uns aber sogar den besseren an: „Isch bin bloß ee eenfocha Oabeta, oba isch weeß, wos sisch zu Weenochtn geheat …“

Mutter nahm natürlich trotzdem den schlechteren. Sie bedankte sich überschwänglich, Erwin murmelte noch etwas davon, dass die Hausbesitzer ja auch mehr und schöneren Schmuck haben als „ee eenfocha Oabeta“, dann trampelten wir erleichtert nach oben, auf die warme Insel, um die Krüppelfichte zum Christbaum herauszuputzen. Dabei durfte ich mich weiter wundern über Christliche Nächstenliebe, ausgerechnet bei Erwin Hüller. Ich sehe diesen pöbelnden, prügelnden Ausbund an Hässlichkeit mit den eng neben der Hakennase stehenden gelben Augen, den an der Glatze klebenden Haarsträhnen, der Warze auf der Oberlippe genau vor mir. Sein schmaler Mund verzieht sich überm Porzellangebiss zu einem schiefen Grinsen, niemals hätte er ein Lächeln zustande gebracht. Ein Weihnachtsgeschenk von ihm erschien mir als Weihnachtswunder … Ha! Das war das dritte Wort des Pastors! Weihnachtsfriede, Weihnachtsfreude, Weihnachtswunder! 

Ein prima Motiv für eine herzerwärmende Predigt zur Christvesper. Das Wunder von Bethlehem. Gott, der Allmächtige, begibt sich seiner Allmacht, und sein Sohn kommt als bettelarmes, schutzbedürftiges Kind im Stall von Bethlehem zur Welt – wie der kleine Sigi im Hüllerstall. 

Auf den kleinen Sigi warteten allerdings von seinem ersten Schrei an so viel Schläge, dass er an Leib und Seele Schaden nahm. Wäre er im Namen des Herrn geboren worden, hätten Erwin und Lilo ihm die Heilsgeschichte aus den Kaldaunen geprügelt. Sein Kreuz waren schon die Eltern. Seltsame Geschichte. Weil unsere Mutter ihren Abscheu überwand und Geburtshilfe leistete, zeigte sogar ein Erwin Hüller zu Weihnachten Gefühl. Soweit ich mich erinnern kann, hat dieses Wunder – in Gestalt eines krüppligen Christbaums – allerdings weder Sigis Kindheit noch das Verhältnis zwischen den Hüllers und uns dauerhaft mit Nächstenliebe erfüllt. 

Nein, nein das dritte Wort der Predigt war nicht „Wunder“. Das war dem Pastor womöglich zu abgedroschen. Manchmal glaube ich, dieser alte Mann mit patriarchaler Erscheinung wollte alles außer Eierkuchen-Eiapopeia zu Weihnachten. Mich beunruhigt er heute noch. Seine Botschaft von der Kanzel war: Prüft euch selbst. Was ist euch euer Glaube wert, was eure Nächstenliebe? 

Er war beeindruckend. Aber wieso wurde nichts aus dem Wunder? Gibt es etwas, woran ich mich nicht mehr erinnern kann? Die etwas krumme, kleine Fichte als Ausnahme in der Reihe unserer stattlichen Christbäume kann ich mir noch gut vorstellen. Entspannte sich nicht das Verhältnis zu den Hüllers ein wenig – nach diesem Zeugnis guten Willens? 

Nein. Die Omma hat es verhindert. Das Wunder fiel einfach aus. Es gab kein Geschenk, es gab demzufolge auch keinen Dank und keine gemilderten Antipathien. Kaum dass Mutter Erwins Baum ins Kreuz gekeilt, die Geschichte erzählt und mit dem Dekorieren begonnen hatte, griff die Omma zu ihrem Portemonnaie und verließ die Wohnung. Da ich neugierig war, folgte ich auf dem Fuß. Die Omma klopfte bei Hüllers, drückte der verdatterten Lilo zehn Mark in die Hand und sprach: „Dankeschön für den Weihnachtsbaum, Sie haben uns sehr geholfen. Ich weiß das zu schätzen. Ich weiß auch, dass Sie viel nötiger als wir das Geld für so ein Bäumchen brauchen, darum nehmen Sie das, auch für Ihre Kinder.“ 

Damit ließ sie dem Geldschein noch zwei Tafeln Schokolade aus ihrer Schürzentasche folgen, drehte sich um, schob mich in die Wohnung, ehe Lilo „Muff!“ hätte sagen können, von mir zu schweigen. Ich war stinksauer. 

Die Schokolade … kam aus einem Westpaket und war eigentlich für uns Geschwister, nicht für die blöden Hüllerskinder. Wieso hat sie das getan? Etwa aus Nächstenliebe und Dankbarkeit für Erwins weihnachtliche Wandlung vom Saulus zum Paulus? Mit dem Mann hatte sie nichts als Ärger erlebt – von Mietschulden bis zu den zahllosen Interventionen gegen Prügelattacken auf die Kinder und vergeblichen Versuchen, Lilo daran zu hindern, die Wäsche statt in der Waschküche auf dem Vorplatz zu waschen.

Ja. Das ist die Frage. Wieso hat die Omma nicht einfach Erwins Geschenk akzeptiert als – noch so vorübergehenden – Ausdruck seiner Güte? Als Beweis dafür, dass doch in jedem Menschen ein guter Kern steckt?

Sie wollte in puncto Güte das letzte Wort haben. Sie war ziemlich eigen, unsere Omma. Sie war ein leuchtendes Beispiel, wie sich redliche Haltung auch noch unter erbärmlichsten Umständen zu behaupten versucht. Wir waren selbst fast mittellos, auf die Hilfsbereitschaft von Verwandten im Westen angewiesen. Aber ein Geschenk aus einem Diebstahl – ausgeschlossen!

(Weiter mit Teil 2 am 2. Weihnachtstag …)

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