Weihnachtsglanz – Teil 2

Einen gestohlenen Weihnachtsbaum als Geschenk – das wollte unsere Großmutter nicht akzeptieren. Und natürlich hat Erwin diese unausgesprochene Deutung verstanden. Es war also nix mit Weihnachtsfriede, Weihnachtsfreude, Weihnachtswunder. Erwin grüßte bis Neujahr nicht einmal mehr. Die Art, wie die Omma auf den geschenkten Baum reagierte, empfand er als gnädige Herablassung, als arrogant. Er hatte eben auch seinen Stolz. Die Hüllers blieben uns – die wir der verabscheuungswürdigen Klasse der Hausbesitzer angehörten – in den Jahren bis zu ihrem Auszug – spinnefeind, trotz der Westschokolade und der für damalige Verhältnisse exorbitanten Zahlung von zehn Mark für eine – höchst wahrscheinlich geklaute – Fichte.

Das leuchtet doch auch ein – oder?

Die Omma hatte ihre eigene Logik: „Wenn ich einen geklauten Baum bezahle, ohne zu fragen, bin ich vielleicht dämlich. Nehme ich ihn als Geschenk, mache ich mich dem Dieb zum Kumpan. Das möchte Erwin vielleicht, aber ich möchte dat nit. Basta.“ 

So durfte jeder seine Vorurteile behalten. Auf unsere Omma könnte man den alten Spruch münzen: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“: Zehn Mark und zwei Tafeln echte Schokolade für eine Krücke von einem Christbaum. Das wusste die Omma natürlich auch. Nicht, dass sie keinen Frieden gewollt hätte. Im Gegenteil. Sie hasste Zank und Streit. Sie litt körperlich, wenn sie mit ihrer Tochter oder einem von uns aneinandergeriet. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn nicht Lilo die Tür geöffnet hätte sondern Erwin. Er hätte das Geld womöglich zurückgewiesen. Was dann?

Vielleicht hätte die Omma Hüllers die nächste Miete erlassen. Zwölf Mark. Die Schokolade hätte sie heimlich den Kindern zugesteckt. Wenn meine Schwester und ich was übrig gelassen hätten.

Es war nicht allein der reichere Gabentisch, der uns von den Hüllers trennte. Wären da nicht die Pakete aus dem Westen gewesen … Ohne sie hätte das Christkind uns freilich nicht viel mehr und anderes bescheren können als Sigi und seinen Geschwistern. Mehr noch machten die Bücher den Unterschied, und dass die Omma uns vorlas – bis wir selber lesen konnten. Wir wollten es. 

Weihnachten war die große Zeit der Neugier. Das kann bei den Kindern nebenan nicht anders gewesen sein. Was mag ihre Phantasie bewegt haben? Wovon träumten diese geprügelten Kinder? Die Mädchen kriegten weniger Schläge als die Buben – das war vielleicht Erwins Form der Ritterlichkeit. Wir sind mit keinem von ihnen zur Schule gegangen, sie landeten alle in der „Hilfsschule“ – so hieß das damals – vermutlich konnten sie kaum richtig lesen und schreiben. Bücher für sie unterm Christbaum? 

Bildung ist keine Frage des Geldes. Schulen und Bibliotheken waren frei. Heute würde es heißen, die Hüllerkinder entstammten „bildungsfernen Schichten“. Damals, im „Arbeiter- und Bauernstaat“ durfte sich Erwin der „führenden Klasse des Proletariats“ zurechnen. Entsprechend ungehemmt behandelte er seinen Nachwuchs.

Wäre es Sigi und den anderen besser ergangen, wenn sie in einem „Erziehungsheim“ gelandet wären? 

Wer weiß? Vielleicht hätten sie dort gelernt, sich als Schläger Respekt zu verschaffen? Oder als Duckmäuser und Denunzianten? Den anderen bei Erwin und Lilo hinzuhängen, um selber den Prügeln zu entkommen – darauf waren sie trainiert. 

Wir haben nie mit diesen Kindern gespielt, immer mit den Kusinen und anderen aus der Nachbarschaft. Worüber hätten wir mit ihnen reden sollen? Außerdem rochen sie schlecht. Kinder kennen da keine Gnade. Trotzdem war diese unüberwindliche Trennung zwischen Nachbarn, die eigentlich Tür an Tür lebten, keine Frage des Geldes. Mag sein, dass sie noch weniger Auswahl an Speisen hatten als wir, aber der Mangel im Osten traf uns genauso wie sie. Ich glaube, dass es einfach für sie sehr viel weniger Freude im Leben gab – ich kann mir nicht einmal vorstellen, woran sie sich hätten freuen können, außer vielleicht an reichlichem Essen und ein paar Süßigkeiten zu Weihnachten, neuer Kleidung oder Schuhen, die Mädchen hatten einfache Puppen. Und Frieden? 

Das dritte Wort war übrigens Gnade. Weihnachtsfriede, Weihnachtsfreude, Weihnachtsgnade.

Das ist komisch. Jetzt höre und sehe ich wieder genau, wie der Pastor das mit seiner mächtigen Stimme von der Kanzel in den hohen, von Kerzen erleuchteten Kirchenraum rief. Noch in der letzten Reihe war er zu hören. „Weihnachtsgnade“! Auf einmal verstehe ich, wieso die Hüllerkinder an ihren Eltern hingen. Weshalb sie trotz der Prügel Erwin und Lilo – auf ihre Weise – liebten.    

Sie hatten einfach niemand anderen. Niemanden, der sich ihnen zuwandte, der ihnen Aufmerksamkeit schenkte, sie wichtig nahm, indem er sie lobte und strafte. Diese Bindung war – so primitiv und erschreckend sie uns erschien – besser als gar keine. Ob man das Liebe nennen kann, weiß ich nicht. Die älteren Söhne machten sich aus dem Staub, sobald sie alt genug waren, und tauchten nie mehr auf. Aber ich habe erlebt, wie die Kleineren Lilo buchstäblich am Schürzenzipfel hingen und wie ihre Blicke an Erwins Lippen klebten, wenn er mal nicht brüllte, sondern ihnen etwas erklärte oder mit einem der Nachbarn redete. Ich kann mir vorstellen, wie dankbar, vielleicht demütig, sie Heiligabend ihre Bonbons, ihre Puppe oder sonst ein Spielzeug empfingen – von Erwins und Lilos Gnaden. Der Vater war in ihren Augen ja auch ein mächtiger Beschützer – gegen die bösen Hausbesitzer zum Beispiel. Die hatten sogar einen Hund!

Unser Hund war ein Kläffer, eine Promenadenmischung namens Schecki. Wenn er Erwin nur von weitem sah, kniff er den Schwanz ein. Eigentlich hatte er gar keinen Schwanz, nur einen Stummel. Aber ziemlich laut bellen konnte er: Wenn sich die Omma, Mutter und die Hüllers anbrüllten, machte er im Hintergrund Rabatz – und die Kinder hatten Respekt vor ihm – jedenfalls, so lange sie klein waren. Schecki knurrte sie gewohnheitsmäßig an, wenn sie an ihm vorübergingen. Ihr Vater hatte keine Angst, er war ihr Held. Er konnte Schecki zerschmettern. Schecki wusste das.

Aber das meinte der Pastor wohl nicht, wenn er von Weihnachtsgnade sprach: Dass einer demütig und dankbar sein soll, weil er nicht vom HERRN wegen seiner Sünden zerschmettert wurde. Mit Dankbarkeit hatte es aber wohl schon zu tun. Und bei mir sind diese drei Worte hängengeblieben. Wenn die Lichter brennen, wenn für eine Zeit – sie mag noch so kurz sein – die Ängste, Sorgen und Konflikte schweigen, dann empfinde ich diese Zeit als Gnade, ich bin dankbar dafür. Ich freue mich am Duft von altem und neuem Wachs, die Flämmchen wecken alle Erinnerungen, die Geschichten, Wünsche, Träume unserer Kindertage …

Und deshalb habe ich geradezu einen Fimmel mit echten Kerzen am Christbaum. Verrückt, oder? In Zeiten, da jeder gefahrlos mit farbigen LED dekoriert … oder warmweiß, mit Funkfernbedienung, dimmbar und mit Flackereffekt … In Zeiten, da der Gesetzgeber Rauchmelder in jeder Wohnung vorschreibt, kokele ich mit tropfenden Wachslichtern herum. Sie werden vielleicht sagen, dass sich sowas nur leisten kann, wer keine Kinder hat oder nicht alle Kerzen am Baum …

Sogar Hüllers mit ihren sechs Kindern haben sich das geleistet. Es hat nie einen Brand gegeben. Bei ihnen nicht, bei uns nicht. Alle, auch die Kinder, passten auf. Alles hängt davon ab, wie viel Aufmerksamkeit dem Weihnachtsbaum gehören soll. Ist er wirklich der Mittelpunkt? Wenn er nur ein Stück Dekoration ist, das halt ein- und ausgeschaltet, sonst aber nicht weiter beachtet wird, weil Smartphone, Tablet-Computer, Spielekonsole oder das Fernsehprogramm wichtig sind, dann sollte er absolut alle Normen der Brandsicherheit erfüllen. „Achten Sie bitte auf die Prüfzeichen des TÜV!“

„Steckst du dir Kerzen an die Fichte
Zeigt dich das Fernsehen bald im Brandberichte.“

Haben Sie gelegentlich irgendwen jammern hören wegen der Weihnachtsstimmung, die sich partout nicht einstellen will? Obwohl doch nun wirklich alles nach Plan gelaufen ist: Einige Besuche auf dem Weihnachtsmarkt hätten helfen sollen, die Geschenke waren rechtzeitig gekauft und verpackt, der Baum geschmückt, das Essen vorbereitet, wer sicher gehen wollte, in Stimmung zu kommen, hat die Christvesper über sich ergehen lassen, samt quengelnden Babys, langweiliger Predigt und von der Orgel mühsam niedergehaltener falscher Gesänge – und hastdunichtgesehen isses schon wieder vorbei, irgendwie kam man nicht in Stimmung. 

Vielleicht machen Wachslichter einen Unterschied. Du musst dich um sie kümmern, sie beobachten, erneuern, aufrichten, damit sie nicht tropfen. Und wenn du das nicht als zusätzliche Last und Verpflichtung siehst, sondern als Chance, dir Zeit zu nehmen fürs Erinnern, Nachdenken, Reflektieren – dann geben die Flammen dir viel Zeit zurück. Oder leuchtet es nicht ein, dass Weihnachten als Position im Terminplaner wenig Freude verheißt – mögen die Geschenke noch so kostbar sein. Für uns Kinder war es viel mehr: Ein im Sinne des Wortes leuchtendes Versprechen, beglückt zu werden. Alles war gespannte Erwartung.  

Was erwarte ich – wie erwarte ich es? Eine entferntere Verwandte hat sich mir gegenüber mal als „Weihnachtshasserin“ geoutet. Vielleicht weil sie die Religion nicht mag? Sie mag aber auch weder Heringssalat noch Gänsebraten, weder Lebkuchen noch Schokolade, weder Glühwein noch Eierpunsch. Sie mag nichts verschenken, auch keine Geschenke empfangen. Sie betont, sie habe alles, was sie braucht. 

Als ich sie fragte, worüber sie sich freue, meinte sie, darüber, dass sie gesund sei. Dass ihr nichts fehle. Nichts. Ich blieb hartnäckig: Ob sie sich wirklich kein Geschenk vorstellen könne, das ihr Herz höher schlagen ließe. Geschenke seien verkappte Tauschgeschäfte, meinte sie, oder sie dienten dazu Abhängigkeiten zu schaffen, zu befestigen oder auszuweiten. Sie korrumpieren, meinte sie. Dankbarkeit mache erpressbar.

Wirklich? Hängt das von den Zielen der Schenkenden nicht ebenso ab wie von den Erwartungen der Beschenkten? Ich weiß es nicht. Heute ist mein 75stes Weihnachten. Ein noch so gut gemeintes Geschenk kann sich als Fluch für den Beschenkten erweisen – ein übler Bestechungsversuch als Glücksfall. Liebe, Vertrauen, Güte und Gnade lassen sich nicht berechnen wie Gewicht, Länge, elektrische Spannung oder Benzinverbrauch. Ihre Dimension ist die Zeit, nicht die Ticktack-Zeit der Uhren und Terminplaner. Die Lebenszeit, die Erinnerung, die unsere Seele zeichnet und befestigt wie die Jahresringe das Holz. Die Erinnerung an Weihnachten ist so ein Jahresring: „Fürchtet euch nicht“ heißt die Botschaft eines jeden Jahres. Sie ist keine Versicherung, nur Ausdruck einer Hoffnung, dass ein weiteres, gesegnetes Stück Leben beginnen kann. Sie mag unerfüllt bleiben, aber sie hat große Kunst hervorgebracht, sie hat getröstet und ermutigt. Mich jedenfalls. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich möchte auf das Weihnachtsoratorium so wenig verzichten wie auf all die anderen wundersamen Dinge, die mit Geld nicht zu bezahlen sind. 

Licht braucht Dunkelheit

Die Sonne geht wieder schlafen
Fürs dunkle halbe Jahr
Der Nebel lümmelt am Fluss
Die Sonne sagt ich muss
Einmal krankfeiern dürfen
Vergessen, vergessen
Dass ich so lange und immer zu Fuß
Für euch am Himmel war.
Ich gab noch den Blättern die Farben
Aus Wolken wird mein Bett
Schreit nicht, es werde zu kalt
Bedenkt, ich bin schon alt
Sah Welten entstehen
Vergessen, vergessen
Wie Völker und Heere – es gab keinen Halt
Am eigenen Dasein starben.
Genießt eure künstlichen Monde
Es lohnt ein jedes Fest
Verbaumelt ruhig etwas Zeit
Die Zeit ist unser Kleid
Dessen Farben verblassen
Vergessen, vergessen
Viel zu geschwind – dann ist es soweit
Es hilft dann kein Protest.
Dann liegt auf gestorbenen Träumen
Ein Leichentuch aus Schnee.
Schon ist das Jahr vorbei
Und mit Lichtern und Lärmen
vergessen, vergessen
wir Winter und Trauer – wie tief sie auch sei
nichts dürfen wir versäumen.

(Teil 1 verpasst? Hier entlang)

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