Welthandel – die neue Hackordnung

Im 20. Jahrhundert fielen in dem kleinen Europa einige Imperien: insbesondere Großbritannien und Frankreich, denen die meisten Kolonien gehörten. Wohlstandsverluste mussten verkraftet werden. Im heutigen Deutschland hatten sich schon bald nach dem Wiener Kongress einzelne Länder auf den Weg der Industrialisierung begeben: das Ruhrgebiet oder Sachsen beispielsweise. Aber insbesondere nach der Reichsgründung verlegte die Deutschen sich darauf, Vieles in hoher Qualität zu produzieren: „Made in Germany“ – zunächst von den Briten als Abwertung gedacht und als Gütesiegel bald weltweit gehandelt. Während die Briten und die Franzosen Produktion in ihre (ehemaligen) Kolonien auslagerten (noch in den 90er Jahren hieß es in London ständig: put manufacturing to India), behielten die Deutschen ihren Mittelstand und ihre Produktion aufrecht – das war ihr langjährig erprobter Weg, zu Wohlstand zu kommen. Kriege um Wohlstand waren verheerend. Noch heute schlägt das industrielle Herz Europas in den Ländern Mitteleuropas, die kaum oder keine Kolonien hatten.

Entscheidend war aus global-ökonomischer Sicht aber die Übernahme der Leitwährung durch den Dollar in Ablösung des britischen Pfunds, nicht zuletzt durch die Einführung der Massenproduktion in den USA. Das hatten findige Banker in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem geschickten und robustem Agendasetting zur Durchsetzung des FED Act vorbereitet. So wurden die USA zur Weltmacht. Und wie die Briten zuvor beherrschten sie die Welt über die Hoheit auf den Weltmeeren. 

Das industrielle Herz Europas

Die Pleite von Lehman Bros. im Jahr 2008 weckte Europa etwas auf. Den USA war es wieder einmal gelungen, ihre Inflation auf einen anderen Kontinent auszulagern: diesmal nicht Lateinamerika oder Asien, sondern Europa. 

Da setzten überall in Europa die Regierungen auf die Schließung der Wertschöpfungsketten im eigenen Land und auf die Erhöhung der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe. Während in Mitteleuropa ca. 25 Prozent der Menschen im produzierenden Gewerbe tätig waren und sind, waren es in Frankreich oder England nur etwa halb so viele. Die EU-Kommission beschied, dass jedes EU-Mitgliedsland mindestens 20 Prozent ihrer Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe haben solle – das scheiterte ganz kläglich, wie die Deutsche Bank bereits 2014 analysierte. Dabei hätte das der Gemeinschaftswährung mehr als gut getan. Aber ein Mittelstand lässt sich nicht aus dem Hut zaubern. 

Das merkte man ja auch in Russland, als sich der damalige Präsident Medwedew darum bemühte, einen russischen Mittelstand aufzubauen. Im Prinzip war mit dem Mauerfall auch das russische Imperium gefallen – aber eben Jahrzehnte später und anders. Es verlor produktive Vasallenstaaten, das östliche Mitteleuropa, aber im Ergebnis behielt es seine wichtigste Kolonie: Sibirien, einen Rohstoffhort, um den es weltweit beneidet wird und von dem es in Zukunft leben wird. 

Die zwei deutschen Nischen

Deutschland rackerte nach dem II. Weltkrieg und kam wieder zu Wohlstand und bekam dafür auch Respekt. Doch das Land war geteilt und die Deutschen lebten in zwei Nischen: die eine war besser beheizt und schön tapeziert, die andere eher rustikal. Aber am Ende musste sich Deutschland nicht, jedenfalls nicht entsprechend seiner ökonomischen Größe, den rauen Stürmen der globalen Wirtschaft aussetzen, sondern war sicherheitstechnisch unter den Fittichen des jeweiligen Nischenbesitzers USA oder Sowjetunion „im geschützten Raum“ aktiv. Natürlich nicht zu eigenständig. Aber es reichte für ein gutes Leben. 

Inzwischen habe ich den Eindruck, dass in Westdeutschland noch viele in ihrer amerikanischen Nische hocken, während im Osten auch schon mal rauere Stürme wehen. Man kann natürlich im Auge des Orkans sitzen und das für schönes Wetter halten. 

Die Entkopplung Europas von Russland

Infolge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine hat Brüssel entschieden, sich völlig von Russland abzuspalten. Nach einer entsprechenden Abstimmung im Herbst im Parlament in Brüssel, die zum Inhalt hatte, die gesprengten Pipelines Nordstream I und II nie wieder in Betrieb zu nehmen, sprach Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen-und Sicherheitspolitik, vom „Decoupling from Russia“. Diese Nische ist also endgültig fort. 

Aber die amerikanische Nische scheint nicht nur weiter zu bestehen, sondern ausgeweitet zu werden. Der Preis wird hoch sein: Die USA haben zum zweiten Mal innerhalb von 15 Jahren das Kunststück fertig gebracht, ihre Inflation erneut nach Europa zu exportieren. Sie schaffen eine Weiche Landung, Europa schafft das nicht, vor allem nicht, wenn es nicht drastisch seine Energiepolitik ändert – insbesondere Deutschland. 

America First!

Die US-Administration ist doch schon seit langem mit der Devise „America First“ unterwegs. Präsident Trump war nur der erste, der es klar und unmissverständlich anhand der Handelsbilanzunterschiede aussprach. Trotzdem wollte es wohl keiner in Brüssel oder Berlin hören. Nun sitzen die Europäer wieder im Mustopf – und das alles, weil Joe freundlicher lächelt als Donald. In harten Zeiten ist jeder sich selbst der Nächste – nur die EU scheint das noch nicht begriffen zu haben. 

Frau von der Leyen drohte im Herbst lautstark den Saboteuren der Gaspipelines in der Ostsee. Und? Haben Sie jemals wieder etwas davon gehört? Könnte es sein, dass die USA da ihre Finger mit drin haben? Lässt sich Europa das gefallen? Haben die USA sich den Absatz des früher zu teuren LNG, das sie nun Deutschland liefern, bereits für 20 Jahre gesichert? Die Gerüchte, ein entsprechender Vertrag sei schon unterzeichnet, halten sich hartnäckig. Gibt es eine europäische Souveränität oder gibt es sie nicht?

Industrieller Absturz Europas?

Der neueste Aufreger ist der Inflation Reduction Act (IRA), in dem es um die direkte und indirekte Subventionierung im Bereich Umwelttechnologie geht. 7.500 US-Dollar kann z.B. ein Käufer an Zuschuss erwarten, wenn er ein E-Auto kauft, das in den USA zusammen gebaut wurde. Das Land muss technologisch aufholen in diesen Bereichen und holt sich auf diese Weise alles ins Land, was andere erdachten und auch schon praktisch ausprobierten. Der sinkende Stern bei Finanz- und IT-Dienstleistungen muss automatisch zu einem Ankurbeln der Produktion führen. Arbeitsplätze sind in den USA das, was Sparquoten in Deutschland sind. 

Jetzt sind die Europäer, allen voran die Franzosen, auf Alarm und wollen von diesem Protektionismus ausgenommen werden. So könnte TTIP nun Schritt für Schritt über einen Subventionswettlauf ganz praktisch in Gang kommen, ohne beschlossen werden zu müssen. Und Europa wird sehr hart verhandeln und reagieren müssen, um nicht den Schwarzen Peter zu ziehen. 

Präsident Macron sprach von einer „potentiellen Spaltung des Westens“ und Wirtschaftsminister Habeck forderte „eine robuste Antwort“. Der französische Wirtschaftsminister Bruno La Maire sprach von einem drohenden industriellen Absturz Europas, was wohl eher auf den potentiellen industriellen Absturz in Deutschland hinweisen soll, denn das produzierende Gewerbe stellt nur ca. 13 Prozent Arbeitsplätze in Frankreich. 

Das Aufkaufen von marktreifer Produktion ist in den USA ein oft gepflegtes Geschäftsmodell. Das verkürzt Forschungs- und Entwicklungskosten. Die großen Tech-Konzerne verstärken diese Strategie. 

Nun wird also verhandelt. Es sollen ja auch gemeinsame Standards für vertrauenswürdige KI entwickelt werden, nicht nur eine gemeinsame Zulieferkette im Bereich Halbleiter. Taiwan gleitet dabei übrigens ganz nebenbei immer näher an China heran. Die Chip-Produktion wird von dort weg verlagert nach Europa und in die USA. Die Kommunalwahlen, die kürzlich in Taiwan stattfanden, zeigen den Trend bereits auf. Die Freie Welt schrumpft. Man könnte auch sagen, der Westen hat sich isoliert und scheint das weiterhin betreiben zu wollen.

Kanzler Scholz fädelte währenddessen in Peking zwar klug eine mehr als 16 Mrd. Euro schwere Bestellung bei Airbus ein und deklassierte Boeing. Nach den langen Streitigkeiten vor der WTO und dem 5-Jahres-Waffenstillstand zwischen den beiden Flugzeugbauern seit dem letzten Jahr, ist das für Europa erfreulich und für die USA eher nicht. Die USA sind der größte Handelspartner der EU. Der zweitgrößte ist China, aber nur halb so stark. Europa sitzt in der Zwickmühle. 

USA kommen alleine gegen China nicht mehr an

Aber im Kern geht es darum, dass die USA China nicht mehr gewachsen sind. Sie brauchen Verstärkung. Noch vor fünf Jahren schaffte es Deutschland, Güter und Dienstleistungen fast in derselben Höhe wie die USA zu exportieren. Zusammen bringen sie deutlich mehr Exportgewicht auf die Waage als China, das natürlich deutlich an der Spitze lag. Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, gab nach einem Besuch bei der Weltbank vor einiger Zeit medial kund, in Zukunft nur noch mit befreundeten Staaten zusammenzuarbeiten – der Konflikt mit den BRICS-Staaten deutete sich damit auch öffentlich an. 

Für die USA lag es lange strategisch nahe, sich auf einen Zweikampf zu konzentrieren. Europa sollte sich auf die Seite der USA schlagen. Es ist also kein Handelskonflikt, sondern ein Unterordnungskonflikt: Die Hackordnung innerhalb des Westens wird neu ausgefochten. 

Europa hat sich bereits auf die Seite der USA geschlagen, insbesondere Westeuropa. Was es dafür erwartet hat, weiß ich nicht. Was es dafür kriegt, werden wir ab Januar sehen. Wahrscheinlich wird es weniger sein als erhofft. Dann könnte es vielleicht eine gute Idee sein, mit den Briten über Finanzdienstleistungen umfänglich zu diskutieren. Eine Klage vor der WTO könnte sich Jahrzehnte hinziehen. Diese regelbasierten Plattformen, an die sich immer alle halten sollten, außer die USA natürlich, könnten an Bedeutung verlieren. Wenn es nicht globale gesetzesbasierte Ordnungsmittel gibt, die für alle (!) gleich gelten, wird es wohl auf zwei Welten mit jeweils einem Chefansager hinaus laufen. 

Der Kalte Krieg ist zurück

Den BRICS-Staaten haben sich im Herbst mehrere Länder und Regionen angeschlossen, unter anderem Mittelmächte wie die Emirate und Saudi-Arabien, das jetzt auch Öl und Gas gegen Yuan nach China exportiert. Das bringt den Petrodollar in Gefahr. Die imperiale Rolle der USA wird also weltweit in Frage gestellt. Russland scheint geschwächt, aber es spielt innerhalb der BRICS-Staaten seine Rolle und diese werden in wenigen Jahren im globalen BIP gleichziehen mit dem, was die westliche Welt auf die Beine stellt. Die Rohstoffe sind vor allem dort – auf der anderen Seite. Die hohen Wachstumsraten werden für das BRICS-Konglomerat prognostiziert. Der Osten hat gute Aussichten, der Westen ungewisse. 

Es gibt wieder eine bipolare Welt und vielleicht auch wieder einen Kalten Krieg. Danach sieht es jedenfalls aus. Die Mauer, die Deutschland und Europa trennte, wird weiter östlich wieder errichtet. Eine tri- oder multipolare Welt wäre vielleicht möglich und womöglich auch besser gewesen, aber der Zug scheint abgefahren – verpennt in der wohlig beheizten Nische. 

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