Wenn die Wall Street Marx recycelt

Ach, sie ist so schön, die schöne neue Welt, in der Löwen zu Vegetariern werden, in der die Kapitalisten den Kapitalismus in Grund und Boden kritisieren, einfach weil er der Kapitalismus ist. 

Der SPIEGEL, der in einer Titelgeschichte sich die Frage, die er, um keinen Zweifel zuzulassen, nur rhetorisch meint, stellt, ob Marx doch recht hatte, zitiert den „Gründer des größten Hedgefonds der Welt“, Ray Dalio mit der umwerfenden Erkenntnis: „Der Kapitalismus funktioniert so nicht mehr für die meisten Menschen.“ 

Der SPIEGEL, nicht gerade berühmt für tiefsinnige Analyse, raunt über Dalio: „In letzter Zeit klingt es so, als lese Ray Dalio morgens in seiner 2000-Quadratmeter-Villa nicht das »Wall Street Journal«, sondern »Das Kapital« von Karl Marx.“ Dalio meint: „Werden gute Dinge übertrieben, drohen sie sich selbst zu zerstören. Sie müssen sich weiterentwickeln oder sterben.“ 

Und auch Wolfgang Schäuble fand einst, dass wir es mit dem Kapitalismus etwas übertrieben hätten. Dem Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, schwebt plötzlich eine „gerechte Gesellschaftsordnung“ vor. Er nennt die Große Transformation einfach Great Reset und verrät dadurch, dass er die Menschen nicht als Bürger, sondern nur als Teile eines großen Computerspiels sieht, das er und andere konfigurieren. 

„Der Great Reset wird von uns verlangen, alle Stakeholder der globalen Gesellschaft in eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungen zu integrieren“, sagt Schwab und klagt über „die globale Gesundheitskrise … die fehlende Nachhaltigkeit unseres alten Systems in Bezug auf den sozialen Zusammenhalt, den Mangel an Chancengleichheit und Inklusivität“. 

In ihrem Manifest für eine ökologistische Kommandowirtschaft schreibt Mariana Mazzucato, Robert Habecks Mentorin: „So werden schon seit Jahren Forderungen nach Governance-Modellen laut, die Unternehmen „zweckorientierter“, weniger im Sinne eines Shareholder- als eines Stakeholder-Kapitalismus agieren lassen.“ 

Zum Beleg zitiert sie Larry Fink, dem CEO des Vermögensverwalters BlackRock, der 2018 in seinem Jahresbrief an 500 CEOs anderer Unternehmen ebenfalls den schönen, neuen Stakeholder-Kapitalismus pries. 

Argumentfreiheit

Stellen wir die Frage der Fragen, wer eigentlich die Stakeholder sind, wer bestimmt, wer zu den Stakeholdern gehört, die lateinischen Fragen – und die Römer waren kluge, politisch sehr erfahrene Leute – Qui bono (wem nutzt es) und Quis custodiet ipsos custodes? (wer bewacht die Wächter) noch etwas zurück. 

Die hauptberufliche Klimaaktivistin Luisa M. Neubauer übersetzte die noch wohlformulierten und zurückhaltend klingenden Worte von Dalio über Fink bis Schwab in eine deutlichere Sprache: „Die Klimakrise ist die Kumulation von multiplen Krisen auf der Welt. Sie ist größer als die Frage unserer steigenden Emissionen … Es geht um unsere imperiale Lebensweise, die neokoloniale Entwicklungszusammenarbeit. Die Klimakrise ist auch eine Krise, die von Männern verursacht wurde.“ 

Nicht die logische Entwicklung, sondern die Addition von Schlagworten, die soviel miteinander gemein haben wie der Kaffeesatz mit dem Satz des Pythagoras, gilt als die von Medien gehypte neue Weise der Argumentation, tatsächlich einer Argumentation ohne Argumente.  

Greta Thunberg hat bei der Vorstellung ihres Klimaideologie Readers Digest munter erzählt: „Den kapitalistischen Konsumismus und die Marktwirtschaft als dominierenden Verwalter der einzigen bekannten Zivilisation im Universum zu belassen, wird höchstwahrscheinlich im Rückblick als eine schreckliche Idee erscheinen.“, denn dieses System ist: „definiert durch Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und Völkermord vom so genannten globalen Norden zur Anhäufung von Wohlstand, das immer noch unsere gegenwärtige Weltordnung bestimmt.“ 

Und die daraus resultierende „Nachhaltigkeitskrise“ habe ihre „Wurzeln in rassistischem, unterdrückerischem Extraktivismus, der Menschen und den Planeten ausbeute, um kurzfristigen Profit für wenige Glückliche zu maximieren.“ 

Ein einträgliches Geschäft

Mazzucato, die einen starken Staat will, der eigentlich alles und alle anleitet, die dann zu gehorchen und die weisen Beschlüsse des Staates umzusetzen haben, erreicht leider nicht einmal die Höhe der politischen Ökonomie von Marx, denn sie scheitert in ihrem Buch „Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern“ schon an der adäquaten Darstellung der Marxschen Werttheorie, wenn sie nicht einmal verstanden hat, dass Marx der Ware einen doppelten Charakter beimisst, nämlich den Gebrauchswert und den Tauschwert, und beide Wertarten nach den Maßgaben der Hegelschen Dialektik entwickelt. 

Aber was will man von einer Ökonomin erwarten, deren Buch von dem Grundsatz ausgeht: „Die Begriffe „Wohlstand“ und „Wert“ sind in diesem Buch so gut wie austauschbar.“ Davon muss sie ausgehen, wenn sie zu der platten Schlussfolgerung kommen will, dass die einen den Wert schaffen, den die anderen abschöpfen, und dass nur der starke Staat das verhindern und Gerechtigkeit schaffen kann – wobei wir wieder in anderer Sprache bei Stakeholdern und good Governance gelandet wären. 

Interessant ist nur, dass es gerade die „Abschöpfer“ sind, die nach dem starken Staat rufen. Wie auch vornehmlich Kinder aus reichen Häusern, die von Medien verstärkt, die plattesten Degrowth-Phantastereien verbreiten, wie bspw. Carla Reemtsma, die meint, dass „wir als Gesellschaft“ uns „wieder kollektiv um Dinge kümmern“ sollten. 

Das „Sich-kollektiv-um-Dinge-kümmern“ hat ja bisher in der Geschichte sehr gut funktioniert, wie es in der „Farm der Tiere“ oder in „1984“ treffend beschrieben wurde, in Platonovs „Tschewengur oder die Reise mit offenem Herzen“, in Huxleys „Schöne, neue Welt“ oder um in Deutschland zu bleiben, in Werner Krauss´ „PLN. Die Passionen der halykonischen Seele“. Oder wie es sich in der großen Hungerkatastrophe in der Sowjetunion Anfang der dreißiger Jahre als Ergebnis der Kollektivierung, also des „Sich-kollektiv-um-Dinge-kümmern“, ereignete. 

Reemtsma, die von alldem nichts zu wissen scheint, will „einen grundlegenden Systemwandel, der ein besseres Leben für alle, nicht nur wenige ermöglicht.“ – Auch das ist nicht neu, auch das hatten wir alles schon gehabt. 

Der größte Luxus bestand von jeher darin, auf Luxus verzichten zu können – vorzugsweise für andere. Es ist eine historische Erfahrung, dass der Kampf für die Hungernden der Welt stets von den Satten geführt wird, nicht damit die Hungernden satt werden, sondern damit die Satten satt bleiben. Weltrettung war schon immer ein einträgliches Geschäft.  

Zwischen Ideologie und Messianismus

Was Reemtsma, Neubauer und Thunberg wahrscheinlich nicht durchschauen, obwohl sie das persönlich nicht ärmer macht, ist, dass die hübschen Wortschöpfungen von good Governance, vom Stakeholder-Kapitalismus, der ganze recycelte Marx nur die Nebelwand abgeben, hinter der Geld verdient wird, hinter der die größte Umverteilung der neueren Geschichte stattfindet, als Marketing der grünen Megablase. 

Es gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen, dass die Kapitalisten den Kapitalismus verteidigen würden. Die Kapitalisten verteidigen ihren Geldbeutel und die Möglichkeit, ihn zu vergrößern, der Weg ist dabei sekundär, wenn der „starke Staat“ die Gewinnmarge nach oben treibt, dann wird mit allergrößter Moral, der starke Staat und das „Gemeinwohl“ gepriesen. 

So wie Shareholder-Value zu großen Gewinnen für die Finanzindustrie, für die Finks und die Dalios führte, wird auch der Stakeholder-Kapitalismus als Gemeinwohldiktatur zu hohen, wahrscheinlich zu höheren Gewinnmargen für die Finks und die Dalios führen. Dafür recycelt man den alten Marx gern, und umso lieber, wenn er für die Klima-Ideologie passend gemacht wird, wie das der neue Shooting-Star der Ökonomie, der Japaner Kohei Saito in seinem Bestseller „Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ unternommen hat, indem er die Idee des Klassenkampfes durch den Kampf gegen das CO2 ersetzt hat. 

Saito sieht den „Knotenpunkt des „roten“ und des „grünen“ Projektes im 21. Jahrhundert, über das uns Marx noch viel zu sagen hat“ in „der Beschränkung der versachlichten Macht des Kapitals“, um das Mensch-Natur-Verhältnis in eine nachhaltige Gestalt transformieren zu können.“ 

Saitos Darstellung weist drei fundamentale Mängel auf: Erstens setzt er nicht nur den Begriff des Stoffs mit dem der Natur gleich, sondern verwendet beide Begriffe zudem nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern im Sinne des beginnenden 21. Jahrhunderts, was anachronistisch zu einer ökologistischen Überformung des Marxschen Denkens führt. Damit setzt er in einem Zirkelschluss voraus, was er erst begründen will. Zweitens werden die Theorien über den Mehrwert und über den tendenziellen Fall der Profitrate als Dogma betrachtet, um drittens Natur und Arbeiter gleichzusetzen, die deshalb beide vom Kapital ausgebeutet werden. Erfolgreich ist Saitos eher schwaches Buch, weil es eine Lücke schließt: die zwischen Klimaideologie und marxistischem Messianismus. 

Selbst auf Gefahr des Galgens

Doch in einem hatte Marx recht, wenn er in einer Fußnote im Ersten Band des Kapitals die Ursachen der neue Liebe zum Marxismus und zum Stakeholder-Kapitalismus freilegte: „Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Procent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Procent, es wird lebhaft; 50 Procent, positiv waghalsig; für 100 Procent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuss; 300 Procent, und es existirt kein Verbrechen, das es nicht riskirt, selbst auf Gefahr des Galgens.“

Denn wer bewacht nun die Bewacher, wie schon der Römer Juvenal fragte? Wer bestimmt die Stakeholder? Und wem nutzt die neue Liebe zum Marxismus? 

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