Wer über „Widerstand“ schreibt, wird sich früher oder später immer auch mit den schrecklichen Jahren der nationalsozialistischen Tyrannis auseinandersetzen müssen. Von Edith Stein und Oskar Schindler über die Weiße Rose und Maximilian Kolbe bis hin zu Graf Schenk von Stauffenberg hat jene Zeit eine beeindruckende Fülle an starken Persönlichkeiten hervorgebracht, die inmitten der Dunkelheit doch hier und da Hoffnungszeichen menschlicher Größe und Integrität hervorleuchten lassen. Dem deutschen Publikum weniger bekannt, in Polen aber umso verehrter, ist Witold Pilecki, dem die folgenden Zeilen gewidmet sein sollen.
Kriegszeiten
Witold Pilecki wurde am 13. Mai 1901 in Karelien geboren, wohin seine Familie durch die zaristische Verwaltung aufgrund ihrer Tätigkeit im polnischen Widerstand verschleppt worden war. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs schloß er sich den polnischen Selbstverteidigungseinheiten an und nahm in der Folge am Polnisch-Sowjetischen Krieg teil. 1921 holte er das Abitur nach und begann, auf dem neuen Bauernhof seiner Familie zu arbeiten. 1939 wurde er als Kommandant einer Kavallerie-Kolonne mobilisiert und eingesetzt; nach kurzem, aber heldenhaftem Kriegsdienst wurde seine Einheit aufgelöst, während er selbst nach Warschau umsiedelte. Dort war er Mitgründer der „Tajna Armia Polska“, der „Geheimen polnischen Armee“, die 1940 88.000 Mann umfaßte und später zum Kern der „Armia Krajowa“, der berühmten „Heimatarmee“ wurde, die auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterkämpfte, um Polen nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den Sowjets zu befreien.
Polen war zum ersten kriegerischen Opfer des Hitler’schen Drangs nach Lebensraum im Osten geworden, und im Gegensatz zu einer im Westen weitverbreiteten Verengung des nationalsozialistischen Genozids auf Juden, Russen und politische Opponenten zählten auch die (nichtjüdischen) Polen, und zwar seit dem 1. September, zu den verfolgten Gruppen. Mehr noch als nach Juden fahndeten die frühesten Einsatzgruppen mit Hilfe umfassender, eigens vorbereiteter Adreßbücher nach Exponenten der polnischen Elite, die bereits in den allerersten Kriegstagen eliminiert wurden, allen voran Universitätsprofessoren, Priester und Politiker; und bald folgten millionenfach Zivilisten, um Platz zu machen für den „Generalplan Ost“. Knapp drei Millionen nicht-jüdische polnische Zivilisten wurden somit bis zum Ende des Krieges in den Arbeits- und Konzentrationslagern, durch Kampfhandlungen und durch die Folgen von Deportationen, Krankheiten und Mangelernährung vernichtet, ungefähr genauso viele wie jüdische polnische Staatsbürger.
Freiwillig ins KZ
1940 entwarf Witold Pilecki daher einen an Kühnheit schier unglaublichen Plan: Er ließ sich bei einer Razzia zusammen mit 2000 anderen Zivilisten gefangen nehmen, um als einziger bekannter Mensch freiwillig in ein Konzentrationslager zu gelangen, wo er glaubwürdige und belastbare Informationen über die genaue Natur dieser Lager sammeln wollte, über die damals nur wenig bekannt war. In der Tat wurde er nach mehrtätiger Folter nach Auschwitz I geschickt (Häftlingsnummer 4859), das gerade in der ersten Aufbauphase war, und erlebte dort mit eigenen Augen die Gräueltaten der Lagerwelt. Er überlebte eine Lungenentzündung, organisierte den inneren Widerstand durch Gründung der „Vereinigung militärischer Organisationen“ (Związek Organizacji Wojskowej), die 1941 1000 Mitglieder umfaßte, verbesserte auf abenteuerliche Weise den Alltag der Insassen und lieferte dem polnischen Untergrund zahlreiche Informationen über die genaue Natur des KZ.
Denn während die Existenz von Konzentrationslagern in Deutschland zwar bekannt war, aber ungern thematisiert wurde, gelangten Nachrichten von den schrecklichen Vorgängen kaum in den Westen des Kontinents und waren auch im Osten nur bruchstückhaft zugänglich, obwohl sich hier aus der Logik des Konzentrationslagers bald diejenige des Vernichtungslagers entwickelte: Das „Dritte Reich“ hatte seine Todesfabriken ganz bewußt vor allem im Generalgouvernement, also in Restpolen angesiedelt, wo die Entrechtung und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung total war und die Nähe des Kriegs eine willkommene Tarnung lieferte. Die wenigen Informationen, die etwa über Diplomaten und Flüchtlinge nach Westen gerieten, wurden von den politischen Institutionen weitgehend als unglaubwürdige Propaganda zurückgewiesen – das Ausmaß des Schreckens war einfach zu groß, als daß es überhaupt ernst genommen werden konnte.
Es würde zu weit gehen, hier den umfangreichen Bericht zusammenzufassen, den Pilecki über seine grauenvollen Erfahrungen zusammengestellt hat, zumal die generellen Details des Lageralltags wohl allgemein bekannt sind (oder sein sollten). Besonders bemerkenswert ist hier aber zum einen die große Freizügigkeit und Selbstkritik, mit denen Pilecki die Erniedrigung und Entmenschlichung der Lagerinsassen schildert, zum anderen der unglaubliche Widerstandsgeist, der es ihm ermöglichte, Tag für Tag trotz widrigster Umstände durchzuhalten und allmählich, Schritt für Schritt, tatsächlich ein echtes Widerstandsnetz aufzubauen.
Im Nachhinein wird man sogar sagen müssen, daß gerade diese von Anfang an verfolgte Zielsetzung wohl Pileckis Leben rettete: Da er „freiwillig“ in das Lagersystem geriet, als erfahrener Soldat und Sicherheitsspezialist seinen Aufenthalt unter „professionellem“ Gesichtspunkt betrachtete und ein festes Ziel verfolgte, konnte er sich gegen die Verwirrung, Verzweiflung und Verängstigung wehren, die ansonsten die meisten anderen Häftlinge befielen und oft genug in den Tod trieben. Pilecki, wenn er sich auch unter einer falschen Identität hatte registrieren lassen, war zudem kein ganz Unbekannter in Polen und wurde regelmäßig von anderen Häftlingen erkannt und wertgeschätzt; und auch sein militärischer Rang half ihm, schnell Kontakte zu knüpfen.
Flucht, Aufstand, Befreiung und … Tod
Unter größter Vorsicht und Geheimhaltung gründete Pilecki voneinander unabhängige Fünfergruppen, die den oft isolierten, mißtrauischen und völlig verängstigten Häftlingen allmählich einen neuen Halt gaben und echte Solidaritätsnetzwerke schufen, um unbemerkt vom Lagerpersonal in Härtefällen Unterstützung zu leisten, Informationen zu sammeln und den Aufstand zu planen. Denn natürlich war es vor allem die Aussicht auf Befreiung von außen oder eben von innen, welche den Häftlingen die Kraft gab, sich nicht ganz der Verzweiflung zu überlassen und durchzuhalten.
Und auch Pilecki, der Tag für Tag das Grauen der Entmenschlichung, der sadistischen Tötungen, der Gaskammern und der Krematorien erleben mußte und ziemlich akkurat einschätzen konnte, daß Zeit seines Aufenthalts ein bis zwei Millionen Menschen ermordet worden waren, konnte kaum noch an anderes denken als an die Befreiung des Lagers, wobei seine Hoffnung sich vor allem auf die Alliierten und die polnische Untergrundarmee richtete.
Seit März 1941 gelangten Pileckis Berichte auch nach London, doch mußte er bald feststellen, daß die britische Regierung ebenso wie die polnische Heimatarmee keine Pläne zu entwickeln gedachte, in der gegenwärtigen Situation eine Befreiung der Lager in die Wege zu leiten, während die Deutschen der ZOW immer näher auf die Spur kamen und durch Austausch und Verlegung von Gefangenen die Gefahr eines Aufstands zu zerschlagen suchten.
Pilecki sah ein, daß ein längerer Aufenthalt nicht nur lebensgefährlicher denn je, sondern letztlich auch nutzlos sei, und so unternahm er in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1943 nach drei Jahren Haft einen ebenso abenteuerlichen wie glücklichen Fluchtversuch und gelangte nach Warschau. Bald darauf verfaßte er einen detaillierten Bericht über seine Erfahrungen („Raport Witolda“); doch auch jetzt mußten die polnischen wie britischen Autoritäten direkte Hilfe ablehnen: Letztere, weil sie einen Luftangriff als zu riskant und den Bericht aufgrund seiner Opferzahlen auch als unglaubwürdig betrachteten, Erstere, weil sie nicht über die entsprechenden Mittel verfügten, auch nach einer Befreiung die Gefangenen sicher aufnehmen und schützen zu können.
1944 nahm Pilecki am Warschauer Aufstand teil und kommandierte hier die sogenannte „Große Bastion von Warschau“, bevor er von der Wehrmacht festgenommen und in mehrere Internierungslager geschickt wurde, aus denen er erst 1945 durch die Amerikaner befreit wurde.
Pilecki trat der militärischen Nachrichtenabteilung des Polnischen II. Korps unter General Anders bei und wurde ins nunmehr sowjetisch besetzte Polen zurückgeschickt, um hier Nachrichten für die exilpolnischen Kräfte zu sammeln. Diese verloren aber schon 1946 die Hoffnung auf Befreiung Polens und befahlen ihren Mitarbeitern die freiwillige Demobilisierung oder die Flucht, doch Pilecki verblieb im Land und begann ab 1947, Beweise für sowjetische Gräueltaten zu sammeln.
Am 8. Mai 1947 verhaftete ihn der kommunistische Geheimdienst und folterte ihn wiederholt, bevor er am 3. März 1948 einem Schauprozeß wegen Spionage für die westlichen Alliierten unterworfen und mit zahlreichen, größtenteils gefälschten Dokumenten konfrontiert und öffentlich diskreditiert wurde. Zum Tode verurteilt, wurde er am 25. Mai hingerichtet; sein Leichnam wahrscheinlich auf einer Müllkippe beseitigt. Erst nach dem Fall des kommunistischen Regimes wurde Pileckis Prozeß aufgearbeitet und er selbst rehabilitiert; seine Ankläger und andere an den Vorkommnissen Beteiligte wurden erst 2003 wegen Mittäterschaft an seiner Ermordung verurteilt.
Ein unerschütterliches Vorbild
Pileckis Lebensweg spiegelt nicht nur in tragischer Weise das Schicksal Polens wieder, von einer Besatzung unter die nächste geraten und jedesmal den rassen- und klassenkämpferischen genozidären Strategien seiner Eroberer unterworfen worden zu sein, so daß es bis heute unter den materiellen wie menschlichen Folgen dieser gleich mehrfachen Ausrottungsversuchen leidet. Pilecki ist auch ein Symbol für einen ganzen Kontinent, der unter dem doppelten Ansturm des ethnischen wie sozialistischen Materialismus fast zusammenbrach und sich bis heute nie mehr wirklich davon und von dem tiefen Vertrauensbruch in Zivilisation und Fortschritt erholt hat, oder, in den Worten Pileckis:
„Was kann die Menschheit heute sagen, jene Menschheit, die einen Fortschritt der Kultur beweisen und das 20. Jahrhundert in eine viel höhere Position als die vorangegangenen Jahrhunderte bringen will? Dürfen wir, die Menschen des 20. Jahrhunderts, uns überhaupt mit denen messen, die früher gelebt haben, und – absurderweise – unsere Überlegenheit beweisen, wenn in unserer Zeit eine bewaffnete Masse nicht etwa nur eine feindliche Armee, sondern alle Nationen, wehrlose Bevölkerungen, mit den neuesten Errungenschaften der Technologie vernichtet? Ein Fortschritt der Zivilisation – ja! Aber ein Fortschritt der Kultur? – absurd. Wir sind auf schreckliche Weise hineingezogen worden, meine lieben Freunde. Eine schreckliche Sache, keine Worte können sie ausdrücken! Ich wollte das Wort „Bestialität“ verwenden … aber nein! Wir sind bei weitem schlimmer als die Tiere!”
Aber Pilecki ist auch ein Vorbild für einen schier unbeugsamen Optimismus und einen Widerstandsgeist, der in der Geschichte seinesgleichen sucht. Wie oft geschieht es nicht, daß wir Heutigen, und zwar nicht immer ganz zu Unrecht, angesichts der sich zuziehenden Wolken eines neuen Totalitarismus uns der Verzweiflung ergeben und mit unserem Schicksal hadern? Und wie oft erliegen wir nicht der fast noch schlimmeren Versuchung, uns in der Selbstzufriedenheit des einsamen „Rufers in der Wüste“ zu gefallen und uns im Heroismus des Widerstands sonnen, weil wir gerade einmal in den sozialen Medien oder im Freundeskreis die eine oder andere „umstrittene“ Aussage getätigt haben und entsprechende Konsequenzen fürchten?
In beiden Fällen sollten wir uns an Witold Pilecki erinnern – nicht, um unser eigenes Licht unter den Scheffel zu stellen oder die gegenwärtigen Gefahren zu verniedlichen (beides wäre falsch), aber doch, um die Einschätzung unserer heutigen Lage gewissermaßen zu erden und uns gleichzeitig den Mut zu geben, daß jenseits der gegenwärtigen vielleicht noch zahlreiche weit schwerere Opfer erbracht werden müssen, die es ebenso ruhig, gefaßt und zuversichtlich wie Pilecki zu ertragen gilt – und zwar nicht im Vertrauen auf „Menschheit“ oder „Zivilisation“, sondern einzig und allein auf Transzendenz und Liebe.
1 Kommentar. Leave new
Vielen Dank für diesen Beitrag. Auch mein Glauben an „Menschheit“ und „Zivilisation“ wurde spätestens seit Anfang 2020 in seinen Grundfesten erschüttert. Der profane Spruch “ Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“, wurde für mich so etwas wie ein Leitmotiv. Selbst im sogenannten Widerstand wimmelt es von Staatsgläubigen, die der Meinung sind, dass doch nur die Falschen am Ruder wären und bei Ersetzung durch die Guten alles gut wird. Pileckis Erfahrungen zeigen überdeutlich, dass jegliche Herrschaft abzulehnen ist und der Mensch zwar von Natur aus gut ist, aber durch alle möglichen Institutionen charakterlich geschliffen wird.
Jeder möge zuerst bei sich selbst mit der Verbesserung beginnen, das ist meine Lehre aus dieser Geschichte.