Konflikte, Gewalt und kein Ende

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #18

Wenn eines sich als vollkommene Illusion, gar als Propagandalüge erwiesen hat, dann ist es der sogenannte Weltfrieden. Die Wikipedia – einst als vorbildhaft basisdemokratische Organisation gepriesen – ist inzwischen zerrissen von Konflikten, Korruption, Rangordnungskämpfen – Machtinteressen also. Sie gesteht Probleme ein, den Sinngehalt von „Weltfrieden“ zu fassen und fordert zur Diskussion auf, was zur Einsicht führt, dass „Frieden“ – wie jeder derartige Begriff – zur Waffe im Kampf um die moralische Deutungshoheit, also informelle Macht benützt wird. Die Geschichte der UNO beweist es ebenso wie das Schicksal anderer hochtrabend auf Frieden etikettierter Korporationen.

Konflikte, Gewalt und kein Ende

Friedrich Hacker veröffentlichte schon Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts „Aggression – die Brutalisierung der modernen Welt“. Als Psychiater und Gerichtsgutachter kommt er Phänomenen gewalttätigen Handelns sehr nahe, er erörtert Ursachen und Begleitumstände berühmter Morde, er beleuchtet die Rolle der Medien dabei. Seine Diskussionen mit prominenten Zeitgenossen wie Konrad Lorenz und Herbert Marcuse bleiben lesenswert für jeden, der sich mit Gewalt eingehend befasst. Weisen sie auch auf praktikable Wege, Gewalt einzuhegen? Am Ende seines Buches steht „Das fehlende Schlusskapitel“, halb Wunschzettel, halb erfolglose Suche nach institutionellen Lösungen. 

Wolfgang Sofsky benennt in seinem „Traktat über die Gewalt“ von 1996 ein grundlegendes Dilemma: „Gewalt schafft Chaos, und Ordnung schafft Gewalt“. Der Zyklus bekommt die Qualität einer universalen Konstante. Wenn Sie und ich solche Erfahrungen mit Gewalt ernst nehmen, bleibt  mit dem Blick aufs reale Weltgeschehen nur eine Einsicht: Gewalt „abschaffen“ zu wollen, ist ebenso unsinnig, wie Hunger oder Durst „abzuschaffen“. Aber ist das auch die „ultima ratio“, das letzte Wort über Gefühle, Konflikte Strategien? Muss die Menschheit Amok, Terror, Krieg hinnehmen wie Naturkatastrophen?

Lassen Sie mich wieder nach den Zielen fragen. Sind wirklich alle Bedürfnisse sozial und ökologisch verträglich zu befriedigen? Wenn das Ziel ist, möglichst viele auch mit Fleisch zu sättigen, ist der Weg dorthin mit Hühnermist und Schweinegülle bedeckt. Beides lässt sich in Stoffkreisläufen oder als thermische Energie verwerten. Sauberes Trinkwasser für alle? Dann müssen Ressourcen, Verbrauch und regenerative Technik ausbalanciert werden. Für solche Aufgaben gibt es Lösungen. Kernenergie würde nicht nur – wie von „Klimaschützern“ gefordert – den CO2-Ausstoß viel effizienter reduzieren als Wind- oder Solarkraftwerke, sie wäre auch weltweit etwa fürs Entsalzen von Meerwasser oder die Herstellung von Wasserstoff nutzbar. Menschliche Konflikte aber sind nicht mit noch so avancierter Technik – Künstliche Intelligenz eingeschlossen –, sie sind nur von Menschen zu lösen, vielleicht wird KI dabei zum Hilfsmittel, ebenso sicher wird sie allerdings auch zur Waffe. 

Leider verstellt Ideologie den Blick für Entscheidungen, was technisch und was politisch sinnvoll ist. Gewalt begrenzen? Es gibt das Bemühen, vagabundierende Waffen einzusammeln und illegalen Handel zu unterbinden – bislang mit wenig Erfolg. Aggressive Energien junger Männer könnten sich beim Sport ebenso wie bei nützlicher Arbeit abreagieren: Das würde Gefühle der Minderwertigkeit und mangelnden Respekts erübrigen. Orte, wo sie alleine oder in Gruppen lustvoll an und über Grenzen gehen dürfen, gäbe es genug – jenseits von alkoholisiertem Imponiergehabe in der „Partyzone“. Rituale der Entgrenzung sind ebenso wichtig, wie das rituelle Einüben von Ordnung, dazu reichen „Wissen“ und „Einsicht“ nicht aus; es geht um das dynamische Zusammenspiel von Freiheit und Ordnung in selbstorganisierten Systemen, ums Überwinden des Gestells. 

Es geht um die Privatisierung des Sozialen.

Auf dem Weg zur Weltkultur: Ein Ausblick auf globale Strategien 

Die Schlüsselqualifikation künftiger Generationen ist zweifellos der Umgang mit Konflikten. Bevölkerungsdichte und knapper werdende Ressourcen zwingen zu Absprachen und Regelungen, die ökonomische, ökologische, politische und kulturelle Interessen gegeneinander abwägen und ausbalancieren. Starre Regelwerke und hierarchische Organisationen, die kontrollierend und strafend sicher-stellen, dass niemand Gesetze übertritt, konnten und können das allein nicht leisten. Abgesehen davon, dass jede solche Regel Impulse anstachelt, sie zu umgehen: Die Kontroll-Gestelle sind so vertrauenswürdig und zukunftstüchtig wie der Rohrstock für die Bildung oder eine Ritterrüstung als Raumanzug. Ihre Trägheit macht sie – hier hat zweifellos Wolfgang Sofsky Recht – zu zwanghaft wachsenden Zeitfressern. Sie verstopfen die Zukunft und fordern gewaltsame Befreiung heraus. Das „Gewaltmonopol des Staates“ ist keine ultima Ratio. 

Regeln – so notwendig sie sind – entziehen dem einzelnen immer einen Teil seiner Verantwortung. Der Regelungs- und Kontrollwahn unserer Zeit organisiert die Verantwortungslosigkeit, er gebiert Feigheit und Zaudern, er belohnt Mitläufer, Denunzianten, Verhinderer und bestraft die Neugierigen und Wagemutigen. Riesige Energien werden in das Erzeugen und Aufbereiten immer gewaltigerer Datenströme investiert, keine Statistik, kein „Ranking“ ist so unsinnig, dass man derlei nicht erstellen, gar wichtig nehmen müsste. Tatsächlich verdanken wir dem Datenfetischismus, der sich gern als Transparenz ausgibt, ebenso viele nachhaltige Erkenntnisse wie den Prophezeiungen Nostradamus’.

Ein Bild, das sich immer wieder aufdrängt, ist das Auto mit verklebter Frontscheibe, dessen Fahrer sich nur am Rückspiegel orientiert. Die statistischen Modelle aus Datensammlungen sind ja nichts anderes als rekonstruierte Bewegungen in der Vergangenheit, aus der sich Zukünftiges bestenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit errechnen und vor-stellen lässt. Daten aus der Zukunft gibt es nur in der Sciencefiction. Die Methode „Rückspiegel“ können Sie insofern verfeinern, als sie den Winkel sehr schmal dorthin ausrichten, wo die Umgebung gerade an ihnen vorbeifliegt, und die Auswertung der optischen Informationen an ein System delegieren, das gewaltige Datenmengen verarbeitet, viel schneller als ein Mensch es könnte. Das System errechnet daraus die mit hoher Wahrscheinlichkeit unfallfreien Steuerbefehle. Der herabstürzend Brocken, der sich in keiner noch so aktuellen Datensammlung findet, trifft das Auto trotzdem.

Sie können natürlich einwenden, dass niemand mit verklebter Scheibe fährt, dass auch ein Assistenzsystem hinreichend schnell auf Hindernisse reagieren kann. Das gilt aber eben nur für den Raum vor uns – nicht für die Zeit. Den Raum vor uns sehen wir, die Zukunft können wir uns nur vor-stellen – also konstruieren. Unser Da-Sein bleibt ein Tanz auf dem unendlich schmalen Ereignishorizont, der Blickwinkel zwischen „Frontscheibe“ und „Rückspiegel“ schrumpft auf ein von der Lichtgeschwindigkeit definiertes Maß.

Dennoch berufen sich Angestellte quer durch die Führungsetagen gern auf „die Daten“ und verlagern nötigenfalls die Verantwortung auf externe Gutachter. Sie dürfen keinen Fehler machen, wenn sie im Gestell sicher sein wollen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Konflikte kann es so nicht geben. 

Glauben sie. 

Das Gestell erschafft eine Scheinobjektivität aus „Daten und Fakten“, deren Unschärfe und Unbestimmtheit nicht mehr betrachtet werden soll. Sie ist aber – ich habe es früher schon ausgeführt – unvermeidlich, denn jede noch so detaillierte Feststellung muss in den Strom der Kommunikation und des Handelns einfließen und wird dabei unweigerlich von Erlangungs- und Vermeidungsstrategien des Datenbenutzers instrumentalisiert. Zahlen sagen nicht nur etwas, sie verschweigen auch unendlich viel. Die verschwiegenen Bereiche sind aber oft die wichtigen. An ihrer Grenze beginnt das Reich des Vertrauens. Vertrauen ist die „dunkle Energie“, aus der sich das Leben speist.

Chaos statt Ordnung?

Die Alternative zur Blockade durch mechanische Dominanz bürokratischer Gestelle, der wir uns in Deutschland und EU- Europa unaufhaltsam nähern, ist keineswegs die völlige Regel- und Führungslosigkeit. Es ist vielmehr die wachsende Bereitschaft, natürliche Regelsysteme wiederzuentdecken, die nur vom objektivierenden Subjektivismus verstellt sind. Es ist der spürbare Aufbruch der Menschheit in eine Gesellschaft, wo gilt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.

In diesem Sinne müssen Organisationen – wie eigentlich jede Art Sozialgebilde – als lebendige Organismen gesehen werden. In ihnen gibt es keine unveränderlichen Rangordnungen. Die Suche nach der „Zentralinstanz“ des Gehirns ist immer ins Leere gelaufen. Es gibt sie nicht. Es gibt sie sowenig wie eine Hierarchie der Körperteile. Ein Kopf kann sowenig für sich existieren wie eine Hand oder ein Stück Darm. Sie alle verbindet das gemeinsame Ziel: Leben – also ein unablässiger dezentraler Abgleich von Strategien des Erlangens und Vermeidens, ein unendlich komplexer Strom von Stoffen und Energien. Natürlich geht es nicht ohne Gehirn, schon gar nicht im Zusammenleben der Menschen, auch wenn Politiker und ihre Gefolgschaft in den Medien darauf hinarbeiten. 

Egal welche Art Beziehungen Menschen gestalten wollen – in der Ehe, in ihrem beruflichen Umfeld oder auf verschiedenen politischen Ebenen – sie können einander gegenseitig die Frage stellen: WAS IST DEIN ZIEL? Und diese Frage darf – im Einvernehmen – auch unbewusste Handlungsabsichten erkunden. Sich selbst und andere zu befragen: das ist der erste Schritt zum Vertrauen und zum Handeln aus Verantwortung. Es wäre unsinnig, dabei auf Spontaneität zu verzichten, es bedeutet auch nicht, sich ihr zu überlassen. Intuition und Spontaneität sind ebenso unentbehrliche wie – teilweise – trainierbare Gegenspieler bewusster Prozesse. Die Aufgabe ist, intuitive Reaktionen auf sich rasch wandelnde Bedingungen zuzulassen, wie sie an einem Fischschwarm zu beobachten sind: Hunderte Individuen verändern gleichzeitig und zweckmäßig ihre Bewegung – ohne Anführer und ohne Wasserstraßen-Verkehrsordnung. Das wird in Kommunikations- und Handlungsritualen zum Beispiel beim Sport, beim Musizieren aber auch beim Spielen sogar im „Cyberspace“ erlebbar.

Ideologie tötet

Der Wandel von der Kontroll- zur Vertrauensgesellschaft hat schon begonnen. Und ausgerechnet der Shareholder-Value-Wahn treibt ihn an. Er hat die Ökonomie der Zahlen an ihre Grenzen gebracht. Sie wird sich nicht erhalten können, denn wirtschaftliche, ökologische, soziale Fehlleistungen, wie sie deutsche und EU-Bürokraten seit 20 Jahren vollbringen, richten mehr Schaden an, als selbst ein alternativlos mit Staatsplänen durchgesetzter Turbokapitalismus chinesischer Machart ausgleichen könnte. 

Inzwischen begreifen viele global agierende Großunternehmen, dass sie ohne Übernahme sozialer und ökologischer Verantwortung ihre Marktpositionen gefährden. Jenseits der von Ideologie getriebenen, politischen Maßgaben und Kampagnen scheint dies aber kaum noch möglich. Zu dicht ist der Filz aus Konzernen, Lobby, Parteien. Bizarrerweise bringt gerade das urwüchsige Sündenbockritual sie in Turbulenzen, sie landen am Pranger trotz höchstdotierter Rechtsbeistände und medialer Hochglanzpräsentationen. 

So erging es Shell bei der Versenkung der Bohrplattform „Brent Spar“: Vor der Kampagne von „Greenpeace“ einzuknicken, erwies sich nicht nur ökologisch sondern auch ökonomisch als Fehler. Daimler-Chrysler überstand den „Elchtest“ mit einem blauen Auge, aber ihren Kotau vor supranationaler Abgasregulierung und „E-Mobilität“ samt anschließenden Tricksereien und dem Opfern deutscher Produktionsstandorte büßten fast alle Autokonzerne  mit einer Krise, deren Ausgang derzeit nicht absehbar ist.

Gegen den Gesichtsverlust sind die mächtigsten Firmen dieser Welt nicht gefeit; eine Marke, die das Vertrauen verliert, kann ein Unternehmen ins Verderben reißen – je einseitiger sein Geschäftsgebaren ist, desto eher.

Wundert sich irgendwer, dass andererseits NGO wie „Greenpeace“ die erlangte informelle Macht alsbald in materielle umwandeln? Moralische Erpressung ist juristisch so schwer abzuwehren, wie Vertrauen nach einer Verleumdung zurückzugewinnen. Nicht immer gelingt es, von Journalisten oder Aktivisten der NGO in Umlauf gebrachte Skandale als ideologische Blähungen zu enttarnen, wie im Fall der „Brent Spar“. In Deutschland sind Kernforschung und Kerntechnik, Fähigkeiten von weltweit anerkannter Exzellenz abgewürgt worden, weil informeller Machterhalt der Politbürokratie wichtiger war als zukunftstaugliche Technologie – sogar für das 2011 schon favorisierte Ziel der CO2-Einsparung. Der Mythos von der „Unbeherrschbarkeit“ der Kernenergie ist schwerer zu erschüttern als die „Unbefleckte Empfängnis“. Und die Gebetsmühlen der „Atomkraft-Nein-Danke“-Gläubigen mahlen, je weniger Grundkenntnisse der Naturwissenschaften sie hindern, desto besessener.

Jeder Mensch kann führen – wenn er’s trainiert

Wenn ein Unternehmen Respekt auf unterschiedlichen Feldern erwirbt und sich in regionalen Partnerschaften auf gemeinsame Ziele einschwört, wenn es selbstkritisch und lernfähig bleibt, ist sein Ruf schwer zu erschüttern. Noch dazu, wenn die handelnden Personen nicht nur als Fachleute in Erscheinung treten, sondern als Privatpersonen ebenso integer und vertrauenswürdig sind – und das heißt dann eben auch nicht ohne Fehler und Irrtümer. Die Frage ist nur: Was machen sie mit ihren Fehlern und Irrtümern?

Organisationen dürfen nicht in mechanischen Hierarchien und Befehlsketten aufgestellt sein. Der einzelne muss sich in seiner Verantwortung für das ganze Unternehmen wiederfinden. Denken für die Zukunft verlangt die unverstellte Perspektive aller Mitarbeiter auf Existenzbedingungen und Entscheidungsprozesse – innere und äußere. Kopf und Gliedmaßen beteiligen sich gleichberechtigt und doch in ausgeprägt differenzierten Funktionen am Wachsen und Weben des lernfähigen Organismus. Der Kopf dünkt sich nicht klüger als der Bauch, die rechnende Vernunft nicht klüger als die Erfindungsgabe und soziale Kompetenz auch des scheinbar unbedeutendsten Mitarbeiters. 

Das bedeutet nicht nur wohlklingende Appelle, geschweige „Gehirnwäschen“, sondern eben die Entwicklung neuer, ritualisierter Kommunikationsformen. Mehr dezentrale, selbständige Einheiten, die nach Zusammensetzung und Aufgabenverteilung wechseln, weniger Sitzungen und Referate, bei denen Besitzstandswahrer Zahlen und Statistiken repetieren; mehr operative Entscheidungen „an der Basis“, stärkere Kopplung von Einkommen an Unternehmensziele und -erfolg usw. usf.. 

Die Entwicklung hat längst begonnen und sie wird sich – auch dank weltweiter Vernetzung – ausdehnen. Gemeinsame Regungen und Bewegungen können sich mittels moderner Kommunikationsmittel – vor allem des Internets – heute blitzartig und kohärent vermitteln; sogar die Selbstkontrolle funktioniert, wie das weltweite Lexikon „Wikipedia“ lange Zeit bewies, ehe sich auch dort Dominanzwünsche mancher „Redakteure“ und politischer „Aktivisten“ ausbreiteten. Engagierte Autoren wurden vertrieben, das Renommee vor allem der deutschen Enzyklopädie ist – außer in unstrittigen Artikeln zu Naturwissenschaften –  beschädigt, wenn nicht zerstört. Das muss nicht so bleiben. 

Inzwischen sind Hilfsaktionen für Menschen in Not über spontane Netzwerke oft frei von religiösen, politischen, ethnischen Vorurteilen; sie lassen einen hoffen.

Staat und Behörden werden ihre Existenzberechtigung beweisen müssen, indem sie sich dieser Entwicklung anschließen, insbesondere was das Bildungswesen betrifft.

Ein Beispiel ist der Umgang mit Studiengebühren. Studenten können für die Finanzierung des Studiums und ihres Lebensunterhaltes Darlehen beanspruchen. Wenn sie nach der Ausbildung innerhalb angemessener Fristen Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen, wären die Rückzahlungen des Darlehens mit den Steuererträgen dieser Arbeitsplätze zu verrechnen. Dabei sollten möglichst flexible Vertragsformen die Ziele beschreiben und zweckmäßige Anpassungen ermöglichen. Die schlechten Erfahrungen mit dem bürokratisch vermurksten Modell der „Ich- AG“ brachten ja nicht nur Einsichten, wie man es nicht machen soll.

Jeder ist Sozialarbeiter

Vertrauen speist sich vor allem aus der Erfahrung, dass divergierende Ziele und verletzte Gefühle, dass Konflikte kein abzuwehrendes Unheil sind, sondern nun einmal zum Leben gehören. So wenig es eine statische Gesundheit gibt, so wenig gibt es Konfliktfreiheit. Der Körper interagiert lebenslang ununterbrochen mit allen möglichen Mikroorganismen, und Menschen werden sich ebenso lange bemühen müssen, Konflikte zu bewältigen – es ist die höchst persönliche Sozialarbeit. 

Ob sie Freude macht oder lästig ist, das ist schon auch eine Frage der Perspektive. Wer glücklich in langjähriger Partnerbeziehung lebt, wird seine Liebe nicht nur auf Schmusen und Anbetung gegründet finden, sondern auch auf Narben der Seele und geduldiges Ertragen von Schicksalsschlägen und gegenseitigen Zumutungen: Man hat sich „aneinander abgearbeitet“, Freud und Leid geteilt. Die Substanz lebenstüchtiger Sozialgebilde sind jedenfalls nicht perfekt funktionierende Kontrolle, Dominanz und Fürsorge, sondern Vertrauen, Selbstvertrauen und Kooperation: In bester Tradition überkommener Eheversprechen.

Schicksalsgemeinschaften – ob Ehepaare oder Nachbarstaaten – werden immer wieder einmal auf Unvereinbares treffen. Dann kommt es darauf an, sich zu verständigen, ob das Suchen nach einem Kompromiss überhaupt noch sinnvoll erscheint. Manche Gegensätze lassen sich nicht lösen. Dann bleibt nur: auf Distanz gehen, nötigenfalls einen Dritten um Hilfe bitten. Und das muss durchaus keine supranationale Instanz sein, allein Qualifikation, Erfahrung, Leumund und gründliche Vorbereitung entscheiden über Erfolge – und Scheitern hilft manchmal, Prozesse im zweiten Anlauf zu meistern. Konflikte sind allerdings nicht lösbar, solange beide Parteien stur und ideologiegetrieben darauf beharren, ihre Ziele durchzusetzen. 

Je weiter Eskalation geht, desto  mehr verschiebt sich die gegenseitige Wahrnehmung der Kontrahenten. Beide erzählen immer farbigere Entstehungsgeschichten des Konflikts, sie konstruieren Kausalitäten und Vergangenheiten, mit denen sie die eigene Position zementieren. Sie schüren Feindseligkeit, nähren Groll und Hassgefühle. So bereiten sich Gewaltausbrüche vor. Bricht die Gewalt erst aus, entfaltet sie ihre eigene Dynamik. Dann sind Hilfe und Vermittlung von außen kaum mehr möglich. 

Gewalt – Macht – Lust

Das ist an den Gewalttaten der Geschichte ebenso gut zu studieren, wie an denen von heute in der Ukraine, im Nahen Osten, in Afrika oder sonstwo auf unserem immer kleiner werdenden Globus. Die Dynamik speist sich aus dem unerschöpflichen Repertoire der Dominanzimpulse, aus Gewalt- und Heldenphantasien quer durch die Kulturen und aus dem Voyeurismus der Medien. 

Wolfgang Sofskys „Traktat über die Gewalt“ klärt in klarer, schlanker, trotzdem wortmächtiger Prosa über das Phänomen, seine Allgegenwart, seine Instrumente und Formen bis hin zu ins Grausamste gesteigerten Details auf. Seine Darstellung befreit von jeglicher Illusion, jedem beschönigenden Rationalismus. Ich empfehle sie ausdrücklich, obwohl – oder gerade weil – sie demnächst 30 Jahre alt wird.

Die Furcht, dass der internationale Terrorismus seine irrationalen Ziele durch äußerst grausame Verbrechen erreichen will, ist berechtigt. Sie ist es schon deshalb, weil Angst und Schrecken – noch dazu in überlebensgroßer medialer Präsentation – die eigentlichen Ziele der Mordkommandos sind, sogar um den Preis der Selbstzerstörung. 

Kann erst dann verhandelt werden, wenn die Waffen schweigen? Ist Voraussetzung jeder Art von Verhandlungen, dass die Frage nach der Schuld, sogar an schlimmsten Kriegsverbrechen, vertagt bleiben muss? Darf, wer auf Frieden hinaus will, keineswegs mit dauerhaften Garantien rechnen, wenn die Verantwortung dafür bei Parteien mit höchst unterschiedlichen Interessen, gegensätzlichen  Auffassungen von Recht, Machtverhältnissen und Strategien liegt? Die Diplomatie hatte auf solche Fragen nie letzte Antworten, ihr Erfolg blieb immer zeitlich begrenzt. Ihre Möglichkeiten enden, wo das Recht auf Selbstverteidigung beginnt: Wenn eine Seite sich die totale Vernichtung der Gegenseite zum alternativlosen Ziel setzt, erlischt jedes Vertrauen.

Verhandlungen dürfen darum nur einen Inhalt haben: Handlungsziele der Kontrahenten. Sie werden umso erfolgreicher sein, je weniger versucht wird, um jeden Preis zu dominieren. Dann gibt es Chancen für die Beteiligten, sich aus dem Bann von Macht und Gewalt zu befreien. 

In vielen von Kontrahenten allein nicht mehr lösbaren Konflikten bewährt sich heute das Verfahren der Mediation; es wird sogar schon in einigen Schulen angewandt. Dabei finden streitende Parteien unter Supervision eines neutralen Beobachters selbst zu einer Lösung. Sie legen ihre Absichten und Ziele offen, der Mediator sorgt nur dafür, dass dies umfassend und fair geschieht. Schließlich sollen sie zu einer Vereinbarung kommen, bei der keiner sich übervorteilt fühlt. Das kann gelingen, weil bei der Mediation aufs Zuweisen von Schuld verzichtet und das Resultat nicht von einem Dritten – einem Richter – verantwortet wird, dem schlimmstenfalls keine der Parteien vertraut.

Solche neuen Strategien können über alltägliche Rituale frühzeitig ins Handeln einwachsen, so wie der Sport Fairness und Regeltreue trainiert, während aggressive Impulse ausgelebt werden. Viele Formen von Spiel und kreativer Zusammenarbeit taugen zum Konflikttraining. Das Theater entfaltet dabei besondere präventive wie therapeutische Kräfte. 

Es gibt Versuche, langjährig einsitzende Gewalttäter mit Techniken des Rollenspiels auf alternative Handlungsstrategien vorzubereiten und darin über mehrere Monate zu üben. Sie erleben in Gruppen mit anderen Strafgefangenen und Trainern – zum Teil Menschen mit „Knasterfahrung“ – am eigenen Leib (und in der eigenen Seele), wie sich Demütigung und Unterwerfung anfühlen. Sie werden mit den Reflexen ihres Handelns konfrontiert, ohne sich dauerhaft entziehen oder in ihre gewohnte gewaltsame Abwehr zurückfallen zu können. So sollen sie ihre Perspektive aufs eigene Handeln ändern und zunächst wenigstens den Gefängnisalltag anders als in den gewohnten Mustern von Dominanz und Gewalt bewältigen lernen. 

Der größte Fehler wäre, in dieser Methode ein neues Patentrezept zu sehen. Aber dass sie Erfolge selbst in diesem schwierigen „Soziotop“ nachweisen kann, ist  bemerkenswert, und sie sollte insbesondere beim Umgang mit jugendlichen Pöblern und Schlägern stärker beachtet werden.   

Hier ist das Arbeitsfeld einer integrativen Bildung der Zukunft. Lehrer werden nicht mehr als Durchführungs- und Kontrollbeamte behördlich verordneter Lehrpläne agieren, sondern als Trainer und Berater in Schulen, wo Kinder ihre Handlungen und ihre Entscheidungsfähigkeit erproben. Eltern sind dabei Partner, mindestens Beobachter. Sich gemeinsame Ziele zu setzen, selbst- und verantwortungsbewusst miteinander umzugehen, sollte nicht Elternversammlungen vorbehalten bleiben. Lehrer werden vor und während der Ausbildung  Begabung für ihren Beruf beweisen müssen – wie es hierzulande für Schauspieler, Musiker und Künstler seit je gilt, seltsamerweise aber nicht für Mediziner, Juristen und Erzieherinnen. Gelingen kann das allerdings nur, wenn nicht weiterhin Politbürokraten die von ihnen zu verantwortenden Probleme aus ungesteuerter Zuwanderung auf die Betroffenen abwälzen.  

Migration und global erweiterte Kommunikationswege lassen keine Wahl: Das Zusammenleben braucht einen festen Boden möglichst subsidiärer Verantwortung. Dafür steht ein riesiger Schatz erprobter Kulturtechniken zur Verfügung. Für den Wandel ist keine „Revolution“ vonnöten, nur die Bereitschaft von Einzelnen und sozialen Gruppen, diesen Schatz zu heben. Das geschieht längst. Aber es bedeutet auch, dass Migranten – egal von wo nach wo – darauf verzichten müssen, gewaltsam eigene Interessen, geschweige die ihrer religiösen oder politischen Führer gegen die Kultur des Landes in Anschlag zu bringen. Nur wenn Gewissensfreiheit und Verantwortungsbewusstsein individuelles Handeln bestimmen, werden sich Konflikte lösen lassen.

Der Autor weiß nicht besser als andere, was zu tun ist. Er hat immer wieder einmal die Angst vor Konflikten überwinden oder überlisten müssen und von Samuel Beckett ein Motto übernommen:

Ever tried, ever failed

no matter.

Try again, fail again

fail better.

Es ist das schiere Gegenteil von Garantien und Sicherheit, aber es ermutigt jeden – einzigartigen – Menschen zu Selbständigkeit, Freiheit und Verantwortung. Erfunden hat es das Universum. Der menschliche Kosmos ist ein Teil davon. In der letzten Folge können Sie noch ein paar Zipfel mehr darin erkunden, wenn Sie mir weiter Gesellschaft leisten mögen.

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