Niemand kann behaupten, Sven Lehmann, der grüne Queer-Beauftragte der Bundesregierung, sei nicht offen für Kritik. „Es wird Zeit, die Regenbogen-Blindheit des Grundgesetzes zu beenden“, twitterte er kürzlich im Zusammenhang mit seinem Anliegen, die „sexuelle Identität“ als vor Diskriminierung geschütztes Merkmal in Artikel 3 Absatz 3 der Verfassung aufzunehmen. Ein Nutzer mit dem Namen „peng“ und der Losung „No love for a nation (especially this one)“ im Profil wandte ein: „Autsch. AbleismusVolltreffer [sic!]. Vermutlich meinst du ignorant statt Blindheit, oder?“
Für die Älteren: „Ableismus“ setzt sich zusammen aus dem englischen „able“, also fähig, und „-ismus“ wie in „Rassismus“ oder „Sexismus“ und meint so etwas wie Diskriminierung von Behinderten durch die Annahme, dass Nichtbehinderung die Norm oder vorzuziehen sei. So zirkulierten im Zusammenhang der Fußball-WM auch Appelle, auf die Metapher der „Rückgratlosigkeit“ zu verzichten, da diese unterstelle, dass es besser sei, aufrecht zu stehen. Lehmann, der schon mal mit Begriffen wie „bürgerliche Faschos“ hantiert, wenn er rabiat eine Mutter abkanzelt, die in der Zeitschrift EMMA überaus vor- und umsichtig ihre begründete Sorge über die verstörende Wirkung von Gender-Ideologie auf Kinder artikuliert hat, fand die Beschwerde von „peng“ sofort überzeugend und antwortete binnen zehn Minuten: „Ja! Danke für den Hinweis.“
Jetzt wenden Sie vielleicht ein, Nichtbehinderung sei doch aber die Norm und es sei doch besser, nicht behindert zu sein, was Behinderte gewiss bestätigen werden. Doch da haben Sie die Rechnung ohne den radikalen Sozialkonstruktivismus gemacht. Es gibt eine eigene akademische Disziplin – scharf zu unterscheiden von einer wissenschaftlichen Disziplin – namens „Disability Studies“, analog zu „Gender Studies“, die davon ausgeht, dass Behinderung sozial konstruiert sei. Demnach wird etwa ein Mensch, der keine Treppen steigen kann, nicht deshalb als behindert angesehen, weil ihm etwas fehlt, sondern weil es auf dieser Welt Treppen gibt und das als normal gilt.
Totalitäre Tiefen unter liberaler Oberfläche
Es spricht überhaupt nichts dagegen, Infrastruktur möglichst barrierefrei machen zu wollen. Das ist ein nobles Ziel. Doch es spielt schon auch eine Rolle, wie man das Problem theoretisiert. Wenn nämlich jegliche kulturell geschaffene Struktur, die irgendjemanden ausschließt, als Akt der Diskriminierung interpretiert wird, muss jede komplexere Gesellschaft als Höllenloch der Unterdrückung und jede produktive Tätigkeit als Unrecht erscheinen – und zur Abhilfe jede Struktur eingeebnet werden. Dies lässt die Tragweite der gesellschaftlichen Veränderungen erahnen, auf die sämtliche postmodernistischen „Studies“-Fächer hinagitieren. Das ist so irre, wie es klingt. Es ist eine Art religiöser Glaube, in dem die Gestalt der zu schaffenden unterdrückungsfreien Gesellschaft ähnlich nebulös ist wie das Himmelreich im Christentum. Dies aber mit dem feinen Unterschied, dass Christen nicht glauben, ihr Himmelreich herbeiführen zu können, indem sie möglichst gründlich die Strukturen der Gesellschaft untergraben und es dem Prinzip Hoffnung überlassen, dass sich aus dem so angerichteten Chaos heraus die erwartete Utopie spontan von selbst formiere.
Dieses Glaubenssystem, die sogenannte Wokeness, hat insbesondere seit etwa 2010 in rasanter Geschwindigkeit das öffentliche Leben in westlichen Gesellschaften durchdrungen. Im weitesten Sinn liberale Menschen sollten sich doppelt von ihr angesprochen – und abgestoßen – fühlen, denn ihr Verhältnis zum Liberalismus, auf dessen Boden sie gedeiht, ist ein inniges, wenn auch ambivalentes. In ihrer Reinform ist Wokeness totalitär, also der Inbegriff des Il- und Antiliberalen, und der Kampf gegen den Liberalismus ihr Projekt. Doch gleichzeitig ist sie an der Oberfläche überaus anschlussfähig an ihn beziehungsweise täuscht vor, es zu sein, je nachdem, wie genau man hinschaut und wie tief sie von den jeweiligen Akteuren bereits verinnerlicht wurde.
Dieses Doppelgesicht der Wokeness – liberal an der Oberfläche, totalitär in der Tiefe – spiegelt sich darin, dass praktisch alle ihre tragenden Begriffe zwei Bedeutungen haben: eine scheinliberale und eine gnostisch-revolutionäre. Die scheinliberale dient als PR und Trojanisches Pferd, um die revolutionäre in Köpfe und Institutionen einzuführen, wo sie dann sofort beginnt, ihre Ansprüche auf radikale Transformation geltend zu machen – immer so offen und nachdrücklich, wie die Umstände es gerade zulassen. So entstehen zugleich Allianzen zwischen einem harten Kern von radikalen Aktivisten, der deutlich Sektencharakter aufweist, und drumherum einer größeren Wolke von wohlmeinenden mehr oder weniger Liberalen, die an die vernünftigeren Lesarten des woken Denkens andocken, biedermännisch an der Annahme festhalten, es gehe nur um diese, und so unversehens zur Tarnung und Verbreitung des zutiefst unvernünftigen Kerns beitragen.
Hütchenspiele mit Antidiskriminierung und Queer Theory
Nehmen wir den Begriff „queer“ als Beispiel. Die eingangs genannte Forderung Sven Lehmanns ist Bestandteil des kürzlich im Namen der Bundesregierung vorgestellten Aktionsplans „Queer Leben“ für „Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“. Wie man bei der Lektüre schnell erkennt, wird „queer“ darin als Sammelbegriff für Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität gebraucht. So weit, so gut. Der erste Satz lautet: „Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben.“ Dem wird jeder liberal Gesinnte freudig zustimmen. Das Dokument präsentiert seine Forderungen durchgehend als Maßnahmen gegen Diskriminierung, wie das Wortpaar „Akzeptanz und Schutz“ im Titel andeutet. Auch dagegen kann man kaum etwas haben. Sich dem Anliegen der Antidiskriminierung entgegenzustellen hieße nicht nur, sich den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie entgegenzustellen, in deren Zentrum die unantastbare Würde des Individuums steht, sondern auch, grundlos grausam gegen verletzliche Minderheiten zu sein. Selbstverständlich will das niemand.
Doch „queer“ hat eben auch jene tiefere Bedeutung, und der Aktionsplan versammelt insofern eine ganze Herde Trojanischer Pferde. Ihre DNA ist die sogenannte Queer Theory, deren prominenteste Vertreterin Judith Butler und deren folgenreiche Grundthese die ist, dass Geschlecht und Sexualität gänzlich „sozial konstruiert“ und diese Konstruktionen unterdrückerisch seien.
Die tiefe Bedeutung von „queer“ taucht etwa auf dem „Regenbogenportal“ des Bundesministeriums für alles außer Männer auf, wo es zum Glossareintrag zu „Queer“ heißt: „In Deutschland wird ‚queer‘ […] auch als eigenständige Selbstbezeichnung verwendet, die die begrenzenden Kategorien ‚Homo-/heterosexuell‘, ‚männlich/weiblich‘, ‚Cis-/transgeschlechtlich‘ in Frage stellt.“
„Begrenzende“ Kategorien. Das ist Queer Theory.
Chirurgische Befreiung aus begrenzenden Kategorien
Weiter: „Im akademischen Kontext wurde ‚queer‘ in den 1990er-Jahren aufgegriffen, um gesellschaftliche Normen zu Geschlecht und Begehren zu untersuchen.“
Hier hat sich jemand eine Handvoll Kreide schmecken lassen – diese Normen sollen laut Queer Theory nicht nur untersucht, sondern zerstört werden, da sie eben als „begrenzend“ gelten und Befreiung das Ziel ist. Queer Theory ist, ausgehend von Geschlecht und Sexualität, ein Kampf gegen soziale Kategorien schlechthin. Ein weiterer Hinweis auf diese Bedeutung im Zitat des „Regenbogenportals“ ist, dass auch „homosexuell“ in der Aufzählung auftaucht. Ist Homosexualität denn nicht an sich bereits „queer“? In der liberalen, publikumsfreundlichen Bedeutung von „queer“ ja, in der tiefen nicht. Dort wird auch die Homosexualität zum Feind, sobald sie als Kategorie gesellschaftlich normalisiert ist.
Wenn der Aktionsplan nun beispielsweise „Aufklärung an Schulen und in der Jugendarbeit im Bereich LSBTIQ*“ fordert, kann man sich ausmalen, wie dieses harmlos klingende Anliegen seine Bedeutung verändert, wenn die Umsetzung davon ausgeht, dass sämtliche Kinder, die „normal“ männlich oder weiblich, homo- oder heterosexuell sind, damit in „begrenzenden“ sozial konstruierten Kategorien gefangen seien und aus diesen befreit werden müssten. Dann gilt es nämlich, den sozialen Zwängen, die den Kindern diese Kategorien aufdrücken, etwas entgegenzusetzen, indem man ihnen aktiv „queere“ Geschlechtsidentitäten nahebringt und die begrenzenden herkömmlichen madig macht. Allzu schwer ist das im heutigen kulturellen Klima nicht. Wer will sich schon dazu bekennen, ein langweiliger, privilegierter, konformistischer, zugleich unterdrückter und unterdrückerischer, im Worst Case auch noch männlicher Cis-Hetero zu sein statt Teil des bunten Regenbogens aus Liebe, Vielfalt, Kreativität und unbegrenzten Möglichkeiten, dem klar die Zukunft gehört?
So ordnen sich in den USA inzwischen 16 Prozent der um das Jahr 2000 herum Geborenen als „LGBT“ ein, eine Vervierfachung gegenüber den knapp 4 Prozent in der Generation X. Mehr als die Hälfte davon nehmen das B für sich in Anspruch, bisexuell, was man wohl nicht zuletzt als zeitgeistig-opportunes und kostenloses Lippenbekenntnis verbuchen kann. Dramatischer ist der explosionsartige Anstieg der Zahl der Jugendlichen, weit überwiegend Mädchen, die sich für „trans“ erklären und unter Zuhilfenahme von Pubertätsblockern, sterilisierenden Hormonpräparaten, Amputationen und plastischer Chirurgie zum anderen Geschlecht wechseln wollen; ebenso die derjenigen, die diesen Weg beschreiten, das später bereuen und im Rahmen eng begrenzter Möglichkeiten rückgängig machen, woraufhin sie von Transaktivisten, deren Gemeinschaft vormals eine solch unwiderstehliche Nestwärme geboten hatte, als Ketzer und Verräter angefeindet und ausgestoßen werden.
Durch Herrschaftsakte zur herrschaftsfreien Gesellschaft
Wie fast alles in der Wokeness beruht die Botschaft der begrenzenden Zweigeschlechtlichkeit und des „Spektrums“ an Geschlechtern auf linguistischen Tricks. Man tut so, als würden die herkömmlichen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ implizieren, dass alle Jungen und Männer klischeehafte Kens und alle Mädchen und Frauen klischeehafte Barbies seien. Von dieser unsinnigen Annahme ausgehend kann man dann mit voller Berechtigung sagen: Diese Kategorien sind zu eng. Von diesen Kategorien ausgehend ist wirklich kaum jemand „binär“. Nur dass kein normaler Mensch von diesen Kategorien ausgeht. Sie sind ein Strohmann (m/w/d), den die Wokemon als Kontrast benutzen, um der Gesellschaft ihre Lehre als dringend benötigte Lösung für ein Problem zu verkaufen, das es in der von ihnen behaupteten Form und Größenordnung gar nicht gibt.
Das umschreibt etwa den Mechanismus, mit dem Wokeness immer arbeitet:
Erstens: Suggerieren, dass die westlich-kapitalistische Gesellschaft ein Höllenloch der Unterdrückung sei. „Belege“ dafür finden sich immer, da es immer soziale Hierarchien und unnötiges, unfaires Leid gibt. Die Pseudorealitäten der Wokeness bestehen immer aus einem Körnchen Wahrheit inmitten eines massiven, mehr schlecht als recht zusammengeklöppelten Apparats von Übertreibungen, unzulässigen Schlüssen und Verallgemeinerungen, selektiven Blindheiten und opportunen Erfindungen. Es ist wahr, dass es viel unnötiges Leid und Ungerechtigkeit gibt, und es gibt kaum ein nobleres Projekt, als zu versuchen, beide zurückzudrängen. Nicht wahr ist, dass geheimnisvolle, verschwörungsähnliche „Systeme der Unterdrückung“ dafür verantwortlich seien und dass Woke-Aktivisten auch nur den blassesten Schimmer haben, wie eine Gesellschaft mit weniger Leid verwirklicht werden und funktionieren könnte – selbst wenn wir mal sehr naiv davon ausgehen, dass derart selbstloser Einsatz für das Gute überhaupt ihre primäre Motivation ist.
Ihr wichtigster Trick, um kritischen Rückfragen bezüglich Wahrheit und Zweckdienlichkeit ihres Vortrags aus dem Weg zu gehen, ist Emotionalisierung und Moralisierung durch den Verweis auf Opfer. So entstehen sofort Sympathie, moralischer Druck und Gegenwind für jeden, der auf die Idee kommen mag, zu widersprechen.
In ihrem Buch „Der Soziopath von Nebenan“ identifiziert die Psychologin Martha Stout Appelle an das Mitgefühl der Opfer als regelmäßigstes Erkennungszeichen von Soziopathen. Dies sind Personen, die auf psychologische Manipulation spezialisiert sind und wissen, was am besten funktioniert. Stouts Beobachtung untermauern empirische Studien, die eine Korrelation zwischen der Neigung zu demonstrativem Opfertum und der „dunklen Triade“ der Persönlichkeitsmerkmale zeigen: Machiavellismus, Narzissmus und Psychopathie. Wir sind uns alle darüber einig, dass Mitgefühl wertvoll und Aufmerksamkeit für Opfer wichtig ist. Gerade deshalb ist dies ein effektiver Angriffspunkt für Manipulation und Missbrauch.
Zweitens: Suggerieren, die vom Wokismus beseelten Experten und Aktivisten kennten den Weg, der aus diesem Höllenloch hinausführt. Durch verworrene akademische Rhetorik – Sophisterei – erwecken sie den Eindruck, tieferen Einblick in die genannten „Systeme der Unterdrückung“ zu haben, die für das allgegenwärtige Elend verantwortlich seien, und entgehen zugleich der Verpflichtung, konkrete Beweise für ihre Behauptungen vorzulegen. Indem man „struktureller Rassismus“ sagt, kann man alle seine Mitmenschen moralisch für Rassismus in Haftung nehmen, ohne ihnen den behaupteten Rassismus auch nachweisen zu müssen. Indem man „Patriarchat“ sagt, kann man alle Männer … und so weiter. Indem sie sich also als einzig kompetente Exorzisten positionieren, die das Böse (Unterdrückung) aus der Gesellschaft austreiben können, fordern sie Autorität, Macht und Mittel für sich.
Drittens: Autorität, Macht und Mittel nutzen, um die Gesellschaft weiter zu wokifizieren. Fluchtpunkt der Wokeness ist paradoxerweise eine totale Durchherrschung der Gesellschaft mit dem Ziel, Herrschaft abzuschaffen. Sie lässt sich insofern als Autoimmunerkrankung des Liberalismus ansehen, da sie ausgehend von dem – richtigen – Befund, dass die Freiheit in dieser Gesellschaft nicht absolut ist, überall da mit Herrschaftsakten korrigierend eingreifen will, wo jemandes Freiheit durch Unterdrückung beschränkt scheint. So lässt sie letztlich überhaupt keine Freiheit mehr übrig. Angetrieben von einem Gefühl, übermäßig eingeschränkt zu sein, untergräbt sie die Institutionen, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte herausgebildet haben, um unter Realbedingungen ein Maximum relativer Freiheit zu ermöglichen, in der – falschen – Annahme, damit den Weg zur absoluten Freiheit zu ebnen. Logik und Geschichte zeigen, wohin dieser Weg aber tatsächlich führen muss: zu ungezügelteren, gnadenloseren, totaleren Formen von Herrschaft.
Der große Sprung in den Glauben
Wer „Durchherrschung“ für einen zu starken Begriff hält, möge sich klarmachen, dass die gedankenreformerischen Forderungen der Wokeness durchaus auch mit der harten Hand des Gesetzes durchgesetzt werden, sobald die betreffenden Akteure die Macht dazu haben. In der wokenesstypischen Realitätsumkehr ist es etwa heute schon als versuchte „Konversionstherapie“ verboten, einem jungen Menschen die Möglichkeit nahezubringen, dass er gar nicht „trans“ ist und sein Unwohlsein vielleicht andere Gründe hat und sich anders beheben lässt als durch schwerwiegende, irreversible medizinische Eingriffe mit hohen Komplikationsraten. Der Aktionsplan „Queer Leben“ regt an, auch Eltern solche Gespräche mit ihren Kindern zu verbieten, für die bislang noch eine Ausnahme gilt. Ja – so weit kann man das Konzept der Antidiskriminierung dehnen, um den Liberalismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen.
Was das alles am Ende soll, erklärt sich vielleicht am besten anhand der marxistischen DNA, die das Ganze durchzieht. Marx meinte, auf den Sturz des Kapitalismus folge die Diktatur des Proletariats, die später wiederum durch irgendeinen mysteriösen Zauber, dessen Funktionsweise er nie enthüllt hat, in die herrschaftsfreie Gesellschaft übergehe, den Kommunismus. Ähnlich ist die Logik hier, nur dass Marx primär am Eigentum der Produktionsmittel ansetzte, während die Wokeness postmodernistisch Sprache, Denken und Wissen als maßgebliche gesellschaftsprägende Kräfte sieht. Der zugrundeliegende Erlösungsglaube ist aber im Wesentlichen der gleiche: Es wird irgendwie funktionieren, wenn alle es wollen und daran glauben. Das politisch korrekte Durchherrschen der Gesellschaft entspricht der Diktatur des Proletariats. Wenn dieses eine Weile geherrscht hat und dadurch alle hinreichend umerzogen beziehungsweise zum kritischen Bewusstsein „erwacht“ sind, werden sie so leben wollen und Herrschaft wird nicht mehr nötig sein. Totale Herrschaft schlägt dialektisch in ihr Gegenteil um, Freiheit von Herrschaft. Vielleicht klappt’s ja beim nächsten Mal.
Vom Abgrund zum Aufatmen
Diese Kolumne wird ab sofort regelmäßig verschiedene Aspekte der Wokeness durchleuchten, besser verständlich machen und ihre linguistischen Hütchenspielertricks als das entlarven, was sie sind. Meine Hoffnung ist, dass es zugleich gelingt, ihr etwas Positives entgegenzusetzen. Denn sie zeichnet ein rabenschwarzes Bild des Menschen und der Gesellschaft. Man starrt in Abgründe, wenn man sich mit ihr beschäftigt oder gar in ihr lebt, und entsprechend erleichtert atmet man auf, wenn man sich daran erinnert, dass dieses Bild eine Karikatur der Realität ist. Die Konfrontation mit den Abgründen ist nötig, aber auch das Aufatmen ist wichtig.
Die Theorie der Wokeness ist falsch, aber sie ist darüber hinaus auch eine Verleumdung. Primär eine Verleumdung der westlichen Welt, aber auch eine Verleumdung des Menschen überhaupt. Wokeness ist eine Missbrauchsbeziehung, in der man es dem anderen nie recht machen kann und sich so an den Missbrauch gewöhnt, dass man schließlich selbst daran teilnimmt, weil man gar keine andere Art mehr kennt, sich selbst zu reflektieren. Es gilt, sich aus dieser Missbrauchsbeziehung zu befreien und die Verleumdung zurückzuweisen. Es gilt, letztlich, in unserer Kultur und uns selbst etwas wiederzuentdecken und mit neuem Leben zu erfüllen, das wir lieben und woran wir glauben können. Und sollte doch alles verloren sein, ist dies vielleicht sogar umso wichtiger.
1 Kommentar. Leave new
Ein exzellent argumentierender Text über die unvermeidlich totalitären Wurzeln und Tendenzen der „Wokeness“: Gratulation an den Autor für diese Analyse. Sie ermutigt zum – konstruktiven – Widerstand und passt trefflich ins Haus des Sandwirts.