Worüber die Mehrheit entscheidet

Das System der demokratischen Widersprüche #7

An Kritik der real existierenden Demokratie fehlt es nicht. Doch bei genauerem Hinschauen orientieren sich viele dieser Kritiker an einem Ideal der Demokratie, d.h., sie kritisieren eine bestimmte Umsetzung der Demokratie, nicht aber das Prinzip der Mehrheitsherrschaft.

Eine erste Möglichkeit der Kritik eröffnet das Faktum, dass zwischen den Wahlberechtigten und den effektiv Wählenden eine Lücke klafft. In den USA ist diese Lücke besonders groß, rund um 50 Prozent; jedoch sogar in Deutschland mit einer recht hohen Wahlbeteiligung zeigen «ehrliche Wahlergebnisse» oft, dass die Nichtwähler die größte Partei darstellen, aber nicht im Parlament vertreten sind.

Allerdings ließe eine Abhilfe sich bloß dergestalt treffen, dass man die Wahlberechtigten nicht bloß zwingt, wirklich zur Wahl zu gehen, sondern auch, eine gültige Stimme abzugeben. Damit wäre jedoch die Grundlage der Demokratie, nämlich die freie und geheime Stimmabgabe, aufgehoben. Die Vordenker der Demokratietheorie haben keine Lösung für dieses Problem, das sie beunruhigt, obgleich sie nicht müde werden zu behaupten, wer nicht wähle (oder eine ungültige Stimme abgebe), würde implizit jedweder Entscheidung derjenigen zustimmen, die gültig wählen. Denn sie wissen nur zu gut, dass diese «Zustimmung» rein fiktiv bleibt. 

Zwar halten die Ungültig- und Nichtwähler faktisch die meiste Zeit still, weil sie unpolitisch sind und von der Politik nichts wissen wollen; in bestimmten Situationen gehen sie dann aber doch auf die Straße und randalieren. Diese Unkalkulierbarkeit der Ungültig- und Nichtwähler alarmiert die jeweilige politische Klasse: Es könnte eben sein, dass die Unterworfenen zu Bewusstsein kommen und schlussendlich sich auflehnen gegen das System der Bevormundung und der Politisierung namens der Demokratie.

Eine andere Variante der üblichen Kritik behauptet, dass die Wahlentscheidung der Mehrheit der (gültig) Wählenden darum nicht dem Volkswillen entspreche, weil die Mehrheit des Stimmviehs von den etablierten Medien oder der Propaganda der politischen Klasse manipuliert sei. Sie stimmt anders, als sie «in Wahrheit» denkt oder fühlt. 

An diese Kritik schließen sich zwei Fragen an. Die erste Frage lautet, wie der Kritiker denn wisse, was die Mehrheit des Volks oder sogar das ganze Volk unisono «wolle»? Nimmt er nicht einfach an, dass das, von dem er meint, das Volk solle es wollen, auch das sei, was es tatsächlich will? Hat er denn Anhaltspunkte, dass «das Volk», wenn jeder einzelne «Volksgenosse» in der Wahlkabine steht und sein Kreuz macht, entgegen der inneren Überzeugung handelt? Dies klingt nach reiner Ideologie oder Projektion. Soziologisch korrekt wäre es dagegen, die Wahlentscheidung eines jeden Wählers als gegeben hinzunehmen und dann zu analysieren, welche Interessen für die Wahlentscheidung maßgeblich waren. Mit solch einer Herangehensweise gelangen wir zu einem realistischen Bild der Verhältnisse und zu einer Aufklärung hierüber, warum die Unterworfenen der eigenen Unterwerfung auch noch zustimmen.

Das Hauptproblem der Demokratiekritik liegt darin, dass sie teilweise dem Mythos erliegt, den die Demokratie von Anfang an gestreut hat: dass es nämlich einen Volkswillen gäbe. Sogar Ludwig von Mises träumte, wie man weiß, davon, die «einmütige» Volksentscheidung würde die Macht des Staats begrenzen. Es gibt aber weite Teile des Volks, vermutlich leider dessen Mehrheit, die die Staatsgewalt anrufen und zur Durchsetzung eigener Interessen gewinnen wollen.

Die Wahlentscheidungen in real existierenden Demokratien zeigen hingegen ein ganz anderes Bild. Zwar verändern sich manchmal die Gewichtungen und manchmal verschwinden sogar einzelne Parteien und andere kommen auf, im Wesentlichen jedoch sind über Jahrzehnte hinweg ebenso gravierende wie stabile Unterschiede bei den Interessen des Wahlvolks deutlich. Sie manifestieren sich in Wahlergebnissen, die von Legislaturperiode zu Legislaturperiode nur wenig differieren; Wandlungs- und Krisenzeiten ausgenommen.

Doch selbst in Wandlungs- und Krisenzeiten gibt es meist keinen einheitlichen Schwenk; geringfügige Änderungen der Wählergunst führen vielmehr das herbei, was Medien dann als «erdrutschartige Wahlsiege» bezeichnen. Beim reinen Mehrheitswahlrecht, wie es in den angelsächsischen Ländern vorherrscht, reicht die Umentscheidung einiger Prozent der Wähler, um das komplette System (scheinbar) auf den Kopf zu stellen. In der Wahlwirklichkeit zeigt sich, dass es «das Volk» genau nirgends gibt. Die Interessen im Volk sind unterschiedlich, gegensätzlich, widersprüchlich. 

Die Kritiker der Demokratie müssen aufhören, sich am Ideal der Demokratie zu messen. Im Anfang der nordamerikanischen Republik bestand die Einmütigkeit darin, sich gegenseitig in Frieden zu lassen, wie unterschiedlich die einzelnen Visionen, Aspirationen, Moralvorstellungen, Überzeugungen oder auch Glaubensartikel etc. sein mögen. Dies ist keine mythologische Einmütigkeit, sondern eine ganz rationale, rationalistische und realistische, eine pragmatische Übereinkunft, die dem Gemüt allzu oft entgegensteht.

Die Erfahrung nach Umstürzen eines bestehenden, ja selbst des tyrannischsten Systems lautet, dass es Teile, oft sogar erhebliche Teile des Volks gibt, die diesem untergegangenen System aus den verschiedensten Gründen nachtrauern. Aber auch unter den Kräften, die jenen Umsturz herbeiführten, zeigt sich niemals eine einmütige Überzeugung. Die romantische Vorstellung, es gäbe eine Volksmeinung ist bestenfalls Wunschdenken, meist böswillige Unterstellung, alle müssten die gleiche Meinung teilen wie man selber.

Die Alternative bestünde hierin, von der Fiktion des Volkswillens Abstand zu nehmen und stattdessen positiv die Unterschiedlichkeiten in den Vorstellungen, Visionen, Utopien, Religionen, Plänen, Meinungen, Lebensentwürfen, Kräften, Interessen, Ideen, Energien, moralischen Bestimmungen usw. anzuerkennen. Dann dürfte es aber nicht mehr darum gehen, durch Abstimmungen, Parlamente und Kommissionen eine Einheitlichkeit herbeizuführen, vielmehr die Prinzipien auszuarbeiten, nach denen die Unterschiedlichkeiten so weit wie möglich friedlich nebeneinander sich verwirklichen können.

Propagandistische Entstellung ist es, diese individualistischen libertären Prinzipien als «Auflösung » jeder Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie und so weiter anzusehen; denn im Gegenteil, diese Prinzipien bestärken die Bande der freiwilligen Verbundenheit gegenüber dem erzwungenen Atomismus, in dem jeder vereinzelte Mensch nur noch der zentralen Gewalt des (demokratischen) Staats unterworfen ist. Demokratie ist eben kein gemeinschaftliches oder familiäres Prinzip, sondern setzt die Gewalt abstrakter Mehrheiten einer durch die natürliche Autorität strukturierten Gemeinschaft entgegen. 

An der realen Demokratie ist nicht auszusetzen, dass sie dem «Volkswillen» nicht entspreche oder den «Volkswillen» nicht effizient umsetze, vielmehr dass sie überhaupt den Mythos des Volkswillens konstruiert. Das Konstrukt des Volkswillens ist falsch. Wer vom «Volkswillen» faselt, der umgesetzt werden solle, verficht die totalitäre Demokratie und ist insofern der natürlichen und freiwilligen Gemeinschaft entgegengesetzt.

Und vergessen wir nie, dass die Nürnberger Rassengesetze die Zustimmung der Mehrheit der Deutschen genossen. Falls geringfügige formelle Fehler in der demokratischen Legitimität der nationalsozialistischen Herrschaft ins Treffen geführt werden, so ist das nichts als das Pfeifen im düsteren Wald der Demokratie. Denn es steht außer Zweifel, dass es zumindest in den ersten Jahren dieser Herrschaft an der Zustimmung durch die Mehrheit nicht gefehlt hat. Hat es an der Konformität gegenüber juristischen, aber willkürlichen Regeln gefehlt, so ist der Hinweis bloß ein weiterer Beleg, dass das Prinzip der Demokratie als Herrschaft der Mehrheit einer Bändigung durch nicht-demokratische Regeln bedarf – und zwar auch nach Maßgabe der gängigen Demokratietheorie. 

Demokratie ist demnach ein Biest, die leibhaftige Domina. Jedermann stimmt dieser Charakterisierung übrigens gern und umgehend zu, wenn eine Partei sich «am Drücker» befindet, die man selber verabscheut. Man pocht auf Demokratie bloß, solange man hofft, im Wind der Mehrheit kreuzen zu können … aber die Mehrheit kennt kein Erbarmen.

Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Verschwinde Staat: Weniger Demokratie wagen, Berlin 2019.

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1 Kommentar. Leave new

  • Solange man den Menschen einreden kann, es gäbe eine „ voraussetzungslos geschuldete Abgabe“ eine Schuld einfach nur weil man „Ist“ oder weil man „etwas sein Eigen nennt“; solange man den Menschen einreden kann sie seien „der Staat“ und hätten demnach eine „voraussetzungslose Schuld“ gegen sich selbst, einfach nur weil sie „da sind“, also nicht nur physisch als Habitus und geistig als Persona, sondern auch noch imaginär als Staat. Solange kann man diesem auch einreden das 1+1=3 ergibt, man müsse ja nur richtig hinschauen. Ist wohl alles blanker Unsinn, aber geglaubt wird es trotzdem. Solange all dieser Unsinn geglaubt wird, glauben sie auch an das Ideal der Demokratie. Die Menschen wissen das sie nicht morden, stehlen, falsch Zeugnis reden usw. … dürfen, aber da sie jetzt auch „Staat“ sind, dürfen sie das alles in ihrem eigenen Dasein als Staat. Das ist wohl alles als organisiertes Verbrechen zu verbuchen und der Mafia nicht unähnlich, aber es kann in dieser Welt nur einen Oberverbrecher geben, aus diesem Grund nennt man die Einen „Mafia“ und die anderen „Staat“, eine definierte Abgrenzung muss es ja geben.
    Jedes Sachbuch beginnt mit einer „wasserdichten“ Definition. Definitionen sind logisch genau so unmöglich wie Letztbegründungen.
    Denn, hinterfragt man jedes Wort mit anderen Worten, die wiederum hinterfragt werden können, was jedoch irgendwann in einer Sackgasse führen muss, da die Anzahl der Worte begrenzt ist. Oder es kommt zum Zirkelschluss: irgendwann wiederholen sich die Worte in einer Endlosschleife, was logisch unsinnig ist. Dies führt zwangsläufig zur dritten Konsequenz: das Verfahren muss abgebrochen werden. Das nennt man auch Münchhausen-Trilemma. Der Mensch leidet. Er leidet am Stockholm-Syndrom wie auch am Münchhausen-Trilemma. Und solange es hierfür keine Behandlungs- Therapie gibt, glaubt er jeden Unsinn der im aufgetischt wird. Freilich mundgerecht serviert.

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