Wozu sind Schulen da?

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #9

Erziehung und Schule gehören zu den Problemfeldern, die sich am schwersten bewältigen lassen. Bildungsmethoden und -institutionen sind als Jahrhunderte alte Bastionen der Macht in der Gesellschaft tief verankert, Generationen auf Generationen haben Gewohnheiten und Erfahrungen der Schule als unvermeidlichen Lebensabschnitt verinnerlicht, wirklich sinnvolle Reformen blieben selten. Woran liegt’s – und was tun?

Wozu sind Schulen da? Und was wollen Lehrer?

Das waren Fragen, die sich am Ende des 8. Teils stellten – die Rolle der Eltern im Verhältnis zur Bildung und Erziehung des Nachwuchses muss mindestens ebenso genau beobachtet werden. Und zwar nicht nur vom Zuschauerraum aus, sondern indem die Beziehungen von Schülern und Lehrern auf die Bühne kommen:

Testen Sie einfach selbst das alte Ritual: Wenn im traditionellen „Frontalunterricht“ der Lehrer sich vor der Klasse aufbaut oder das Kopfende des Tisches besetzt, ist das eine wirkungsvolle körperliche Vorgabe. Sie können sich dessen vergewissern, wenn Sie selbst diese Vorgabe einmal in einer geeigneten Runde durch „Lümmeln“, abgewendete Gesichter oder Oberkörper paralysieren. Das Rollengefühl eines ungezogenen Schülers wird sich alsbald einstellen. Der „Stuhlkreis“ ändert daran wenig. Allerdings lassen sich mit ihm immerhin Rollenwechsel simulieren. Aber auch dabei können Sie erkennen, wie informelle Macht „wandert“ – ebenso wie die Führung in der „Spiegeletüde“ in Teil 7 – und dass nicht allein Inhalte, sondern unterschiedliche nonverbale Befähigung Höhen und Abgründe der durchlaufenen Gebiete beeinflusst. 

Die soziale und kulturelle Inhomogenität von Schulklassen in modernen Großstädten hat das Ritual der Lehre vom Katheder zwar längst zur Posse gemacht, aber meist zu nicht mehr als alternativen Kontrollritualen geführt. Statt intensiver Arbeit an der Interaktion wird Sprache reglementiert. Selten entstehen Rituale des Miteinander, werden Rollen neu definiert. Das gelingt selbst in der Erwachsenenbildung kaum.  

Wohlverstanden: es gibt in Deutschland eindrucksvolle Bemühungen. Die Schulen haben sich mit schwierigeren Kindern aus unterschiedlichen Kulturen und mit erheblichen sprachlichen Defiziten auseinanderzusetzen – sie sind nicht selten völlig überfordert. Aber weder wird das im öffentlichen Diskurs hinreichend thematisiert, noch ist die Masse der (ohnehin überalterten) Lehrerschaft bereit, liebe Gewohnheiten oder (und) ideologische Positionen aufzugeben. Versagenden Unterrichtsformen kreativ zu widerstehen, gehörte selbst in der DDR zu den Stärken einiger Lehrer, die ich bis heute in dankbarer Erinnerung habe. 

Daraufhin veränderte Studiengänge für Lehrer sind nicht in Sicht: Immer noch genügen für das Lehramt oberhalb der Grundschule fachspezifische Kenntnisse, Theoriewissen über Pädagogik und einige Praxiseinsätze. Letztere finden natürlich unter den obwaltenden Verhältnissen statt: Wenn der Kandidat in die Landschaft der an-gestellten Kollegen passt, hat er Erfolg.

Objektivierender Subjektivismus

Die Beziehungen der Kinder untereinander sowie zwischen Kindern und Lehrern sind „Gegenstand“ „sachlichen“ pädagogischen Mutmaßens im Lehrerzimmer, auf Versammlungen mit Eltern und Behörden oder in Hochschulseminaren. Kinder spielen dabei nur selten mit, noch seltener werden sie zum Umgang mit Konflikten ertüchtigt. Stattdessen propagieren linke „Reformer“ die Einführung des Wahlrechts für 16jährige, oder ein „Pro-Kopf-Wahlrecht“, bei dem Eltern für ihre Kinder zusätzliche Wählerstimmen erhalten. Von entsprechender Qualifikation, deren Basis eine verlässliche Konfliktkultur sein müsste, redet niemand.

Wieso gibt es keine „Kopfnoten“ von Schülern für Lehrer? Wieso haben Kinder nicht regelmäßig die Chance, ihre Erfahrungen miteinander und mit den Lehrern szenisch nachzuspielen, sich also emotional und nicht nur auf der von den Erwachsenen dominierten Sprachebene zu äußern? Vielleicht weil dann die schwelenden Konflikte öffentlich aufplatzten: radikal, womöglich sogar unflätig?  

Aber das Leben dieser Kinder ist voller Konflikte und Unflat; werden sie in bürgerlichen Elternhäusern davon ferngehalten, sorgen Medien und Mitschüler dafür, dass sie nicht verschont bleiben. Bieten wir – und damit meine ich Eltern und Lehrer ebenso wie Fachleute und Medien – ihnen doch endlich an, was sie nie hatten: ein Training der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung! Ihren Teil davon holen sie sich in den „social media“ längst selbst, und es ist eine interessante Frage, ob und inwiefern sie dort für Bildung, Kultur, Tradition, Recht und Menschenwürde überhaupt noch erreichbar sind.

Wenn irgendein Konflikt mit Hilfe der Sprache gelöst werden soll, muss er in voller Schärfe und mit allen Sinnen wahrgenommen und nicht zuvor auf die Terminologie politischer Correctness hingebogen oder hinter den Lügen sozialpädagogischen Wunschdenkens versteckt werden. Und das heißt eben für die beschriebene Chemiestunde: Der Konflikt besteht nicht zwischen einem Lehrer, der gern unterrichten möchte und Schülern, die nicht lernen wollen, sondern in der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung aller Beteiligten. Das ist keine rein verstandesmäßig und durch Kognition zu lösende Aufgabe, aber daraus kann man zum Beispiel eine Theaterszene entwickeln:  

Voraussetzung einer solchen ist, dass  niemand sich selber spielt. Ließen sich dann aus gewünschten „Rollen“ (Polarforscher, Apothekerin, Fotograf, Installateur, Eiskunstläuferin, Laborantin… Chemielehrerin) und deren Umgang mit Wasser (Was brauche ich und wozu?) heraus die mannigfachen Eigenschaften des Wassers entdecken und nutzen, dann könnte es spannend werden. „Geschichten vom Wasser erzählen“ könnte reizvoll sein, ein anderer Reiz bestünde darin, Rollen neu zu verteilen, um Absichten und Ergebnisse zu variieren, sie schriftlich, in Bildern, Videos etc. zu dokumentieren.

Bürokratie verstopft die Zukunft – was tun? 

Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass ihre Konflikte nicht wahrgenommen werden, wenn sie bis zur Unbeweglichkeit („Chancenlosigkeit“, „Ohnmachtserfahrung“) eingezwängt sind, wählen sie manchmal als letzte Strategie die Gewalt. Dies umso leichter, je verlockender sie ihnen von Medien und erwachsenen Vorbildern vorgeführt wird. 

Dann sind Erschrecken und Mediengeräusch – wie im Fall der Schulmassaker von Erfurt und Winnenden – groß. Und es beginnt die Suche nach Schuldigen und Ursachen. Sie bleibt folgenlos. 

Es gab in den 1990er Jahren erfolgreiche Bemühungen, Schule aus den Klammern des Behördenapparates zu lösen. An einer Hauptschule in Berlin-Kreuzberg, einst trostloser Ort für Leute, die auf das Funktionieren des überkommenen Schulsystems bauten, lief ein erfolgreiches Projekt mit „Restschülern“ – Kindern und Jugendlichen, die sich der Wohltaten unserer Volksbildungsbehörden als unwürdig erwiesen hatten. Sie wurden, da sie außer einigen pädagogischen Querköpfen niemand mehr wollte, in großen Teilen des Unterrichtes von Bildhauern, Fotografen, Technikern und einem Akrobatiklehrer angeleitet. 

Das wichtigste Ziel und der größte Erfolg des Projektes war, dass die Kinder Selbstbewusstsein gewannen, dass sie lernten, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Lust am Gestalten, Lust an der eigenen Entwicklung zu spüren. Ihr entscheidendes Defizit war vorher nämlich immer fehlendes oder durch gestörte Selbstwahrnehmung auf aggressive und destruktive Potenzen orientiertes Selbstbewusstsein. 

Ich erlebte – und verfilmte – die jungen Akrobaten beim Training. Die „Rotzbengel“ –natürlich waren ihre Umgangsformen immer noch indezent – leisteten nicht nur Beachtliches, sie taten es mit Freude für sich und den Partner, den sie auf den Schultern oder unter den Sohlen spüren. Wer mit ihnen sprach, entdeckt viele erstaunliche Züge, wo sonst pubertäres Imponiergehabe stereotyp die Aussicht verstellte. 

Natürlich braucht es für solches Lernen und Trainieren anderes als den „Sportlehrer“: Persönlichkeiten, die dauerhaft das Vertrauen der Kinder erwerben. Dazu genügt es nicht, sie am Gurt überm Trampolin Saltos drehen zu lassen, aber es ist kein schlechter Anfang. „Engelchen flieg!“ heißt das Spiel, bei dem Erwachsene die Kinder ihre Schwerkraft überwinden lassen und fast immer sind es die Erwachsenen, die bitten: „Jetzt ist’s genug“. 

Die eigenen Kräfte auszuschöpfen, an Grenzen zu kommen und sie zu überschreiten, in gefährlicher Lage aufgefangen zu werden – und schließlich selbst anderen vertrauenswürdiger Helfer zu sein: anscheinend geradezu banale „Elementarwünsche“. Kinderleicht, sie zu erfüllen – oder? Der polnische Trainer, der die Kinder  zum Fliegen brachte, wurde von der zuständigen Berliner Senatsverwaltung zum Dank monatelang über seinen Vertrag im Ungewissen gelassen und schließlich mit einem Almosen abgefrühstückt.

In der Kreuzberger Schule  trafen Kinder mit dem größten Vertrauensdefizit aufeinander. Ihr bevorzugtes „Display“ waren aggressive Abwehr, Provokation oder Verschlossenheit. Andere Gefühle und Ausdrucksformen waren verstellt und die Schule verstärkt diese Haltungen und Strategien fast immer. Vielleicht fallen Ihnen aus Ihrer eigenen Erfahrung ein paar Gesichter ein: Verstellte Freundlichkeit, verstellte Ehrlichkeit, verstellte Hilfsbereitschaft, verstellte Neugier. 

Hätte nicht eine einzelnen Frau namens Hiltrud Kagerer damals immer wieder mit Zähigkeit Geld von privaten Stiftungen eingetrieben und bei den wahrhaft sturen Berliner Behörden Genehmigungen erstritten, hätte es das Projekt nie gegeben. Ich weiß nicht, ob es längst unter den schadenfrohen Kommentaren derer verdorrt ist, die schon immer wussten, dass es so nicht geht. 

Bildung und die Bastionen der Macht

Erziehung und Schule sind Problemfelder, in denen Veränderungen am schwersten durchzusetzen sind. Bildungsmethoden und -institutionen sind als Jahrhunderte alte Bastionen der Macht in der Gesellschaft tief verankert. Generationen auf Generationen haben Gewohnheiten und Erfahrungen der Schule als unvermeidlichen Lebensabschnitt verinnerlicht. 

„Schülerverhalten“ oder „Pennälermanieren“: das ist ein ganzes Spektrum von Ritualen und stereotypen Rollenmustern. Haben Sie schon einmal Dreißigjährige, ja selbst im Seniorenalter angekommene Menschen in einer Volkshochschule oder einem Abendgymnasium erlebt? Was Sie dort an Rückfällen in schülerhaftes Verhalten beobachten können, wird ihnen charmant erscheinen, lächerlich oder widerwärtig. 

Die Lehrer spielen meist mit, denn die Rollen sind ja auf sie zugeschnitten. Der Versuch, sie durch vielfältigere, kreativere, auf Selbständigkeit und Eigenverantwortung konditionierende Rollenangebote zu verändern, wäre eine titanische Herausforderung. Aber die Umwälzungen durch schrankenlose Migration, das Versagen von Politik und Medien lassen ihm keine Chance. Bildungspolitiker starren abwechselnd auf die neuen Kommunikationstechniken, auf die „Digitalisierung“ und auf die leeren öffentlichen Kassen, von einer Reform der Inhalte ist kaum die Rede, von der wichtigeren Reform der Vermittlung noch viel weniger.

Wieso nicht dem Mangel an Fachkräften im Handwerk, in MINT-Fächern und beim unternehmerischen Nachwuchs durch frühzeitige Praxiseinsätze und den direkten Kontakt mit den „Machern“ begegnen? Stehen dagegen das Versicherungsrecht und die vielen „Helikopter-Eltern“? 

Wie die Realität verschwindet 

Die Allgegenwart von Radio, Fernsehen, Computernetzwerken, Smartphones…, die Flut an visuellen Stereotypen und die enge Selektion der Inhalte nach staatlich Erwünschtem und „Quotenwirksamkeit“, beschränken die Auswahl an Strategien für Konflikte; zugleich wächst das Angebot drastisch, Konflikte aller Art entweder zu ignorieren oder mit Gewalt zu lösen. 

Statt auf Vielfalt und Qualität richten die Medienmanager das Augenmerk auf Massenwirksamkeit, „politisch Unkorrektes“ wird ausgeblendet zugunsten einer medialen Scheinwelt. Das alles schafft kein Problembewusstsein und erweitert gewiss nicht den Horizont. Es verbessert innerfamiliäre so wenig wie innerschulische Umgangsformen.

Bleiben wir bei den „Verstellungen“: dahinter steckt ja eigentlich die unentbehrliche Fähigkeit eines dynamischen Systems, sich äußeren Störungen anzupassen. Der Dorn im Zeh zwingt ein Kind, den Fuß so zu belasten, dass es nicht schmerzt. Das tut es, bis es schreiend (echte Unlustphone!) zur Mama gehumpelt ist, sie das Übel behoben und den Zeh nötigenfalls verpflastert hat. Das blessierte Kind humpelt dann mit dem Verband am nächsten Tag zur Schule. Der Schmerz ist fast weg, aber der kleine Patient erheischt Beachtung und Mitgefühl, und das Humpeln wirkt mit der Leidensmiene wunderbar zusammen. Also behält er die „Schonhaltung“ ruhig länger bei als nötig. 

Von der Schonhaltung ist aber nicht nur der Fuß, sondern die gesamte Körpergeometrie, sind alle Lastwechsel und Kraftflüsse betroffen. Sie wird – falls sie genügend lange fortdauert – verinnerlicht. In einem solchen Fall nimmt der Humpelnde gar nicht mehr wahr, dass er seinen Körper verstellt. Anfangs wird das Verlassen der Schonhaltung mit Schmerz geahndet, der daran hindert, in die natürliche Haltung zurückzukehren, später bleibt das Humpeln unbemerkt. Womöglich auch die Leidensmiene.

Die „Dornen der Schule“ – Kränkungen, Versagensängste, Niederlagen bei Vergabe von Zensuren und Zeugnissen, Hänseleien in Klassenzimmern, auf Schulhöfen – erledigen sich nicht mit einem häuslichen Pflaster und nach ein paar Stunden. 

Mama kommentiert die Tränen und das verheulte Gesicht oft nur mit einem tröstenden oder energischen „Da mussten wir alle durch“, das Kind zieht den Kopf ein und humpelt weiter. Jahrelang. Dann hat aber die Schonhaltung, die das gesamte psychische System betrifft, nicht nur „den Zeh“, also die wunde Stelle der Seele, die man herauszuhalten versuchte, dann hat die Schonhaltung womöglich in anderen psychischen Regionen zu übermäßigem Verschleiß geführt. 

Aktiver und passiver Selbstschutz

Eine solche Schonhaltung muss keineswegs immer duldende Anpassung in geduckter Position sein; sie kann aggressive, abwehrende oder provokante Verhaltensweisen bis zur Gewalttätigkeit als Schutz vor Kränkungen hervorbringen. Sie wird aber irgendwann nicht mehr als Ausnahmehaltung, sondern längst als „normal“ wahrgenommen, und alle Interaktionen im sozialen Umfeld spielen sich entsprechend ein. 

Der Rückbesinnung auf den verdrängten, vernachlässigten und womöglich verkümmerten Zeh – also auf ein eigentlich von Natur aus funktionstüchtiges Verhaltensmuster – wird gar nicht mehr versucht. Es wäre vielleicht sogar schmerzhaft, das heißt die soziale Umgebung wäre über die „Verwandlung“ zumindest irritiert.

Sie werden sagen: Was sind die Verletzungen der Schule gegen die Vernachlässigung, gegen die Misshandlungen im Elternhaus? 

Nichts – was die Tiefe und die Grausamkeit mancher von Eltern empfangener Wunden anlangt. Viele sind unheilbar, manche führen in die psychische Krankheit. Häufig verstärken sich Konflikte in Schule und Elternhaus gegenseitig. Aber den Verstellungen in der Eltern-Kind-Interaktion – und dabei müssen sich nicht nur Kinder anpassen – lässt die Natur die grundstürzende psychische Reorganisation der Pubertät folgen. 

Der radikale Widerstand, den Kinder gegen noch so fürsorgliche Eltern entwickeln, das Bestehen auf eigenen Handlungen – und seien sie noch so chaotisch und Schaden stiftend – ist die Chance, zum dynamischen Gleichgewicht in einem neuen, dem geschlechtsreifen Körper zu finden und Verstellungen abzuwerfen. 

Sie geht mit Krisen von Körper- und Selbstgefühl einher, sie kann sehr lange dauern. Irgendwann kommt ein kompletter Schmetterling aus dem Kokon – auch wenn er als Larve allerlei Verbiegungen machen musste.

„Kinder kann man nicht erziehen“, meinte der weise Clown Karl Valentin, „sie werden sowieso wie ihre Eltern.“ Doch ist jeder Schmetterling ein Unikat, keines mit einem Vorläufer identisch: Untrainierte menschliche Augen nehmen die Unterschiede nicht wahr.

Gegen die Verstellungen der Schule gibt es kein natürliches Fegefeuer: sie sind mit Rationalität und gesellschaftlichen Normativen bewehrt, von Heranwachsenden viel schwerer zu erschüttern als Mama und Papa. Allerdings gibt es Eltern, die mit dem gleichen Arsenal herumfuchteln. So verstärken sie Versagensängste zu Ungunsten der Selbständigkeit. Wenn sich an die Schule eine Ausbildung und eine Berufspraxis anschließen, bei der „Schülerverhalten“ funktioniert oder geradezu verlangt wird; wenn das erwachsen und selbständig Werden dauerhaft behindert wird, können Menschen sehr klein bleiben. Niedlich sind sie dann nicht mehr.

Normopathie und Gewalt

Psychologen haben immer wieder beobachtet und dokumentiert, dass zu schweren Gewalttaten neigende Straftäter ihren Therapeuten gegenüber ein fast perfekt ausgeprägtes, erwünschtes Sozialverhalten zeigen. 

Ebenso oft versetzen nach grausamen Morden oder Sexualverbrechen von Fernsehen, Radio, Presse befragte Nachbarn, Freunde, Familienangehörige das Publikum in Erstaunen: Der Täter sei als angepasster, höflicher und unproblematischer Zeitgenosse in Erinnerung bezeugen sie. 

Als sei nicht gerade diese Schonhaltung zum Vermeiden von Konflikten, diese Unfähigkeit, Konflikte als natürlichen Teil des Lebens zu erfahren und sehr unterschiedliche Strategien für deren Lösung zu entwickeln, das wahrhaft Besorgniserregende.

Eine Psychopathologie Adolf Eichmanns hat es deshalb nie gegeben, weil sein Verhalten lebenslang den Normativen eines brauchbaren, wenig auffälligen An-Gestellten entsprach. Seine Selbstwahrnehmung war entsprechend. Das liegt nun nicht etwa daran, dass Eichmann psychisch nicht gestört gewesen wäre, sondern daran, dass seine psychische Deformation massenhaft verbreitet, ja sogar als besondere Eignung für spezielle politische Ziele willkommen ist. 

Die Typen mit dem herzlichen Verhältnis zu Frau und Kindern und keinerlei persönlichen Aversionen gegen Juden, Russen, Deutsche, Katholiken, Protestanten, Andersfarbige, Schwule, Rechte, Linke oder überhaupt irgendwie „Andere“ drücken – mit dem reinsten Gewissen der Welt – auf den Knopf mit der Hunderttausend-Tote-Technik. Das gilt als normal. 

Ich gehe so weit zu behaupten, dass die unter sozialem Druck entstehende psychische Deformation für die Seele dasselbe ist wie eine tödliche Autoimmunkrankheit für den Körper. 

Man hat Eichmann immer wieder vorgehalten (und hält es Massenmördern und Mauerschützen immer noch vor), sie hätten das Unrecht des Tötungsbefehls erkennen müssen. 

Aber wie? Wie, wenn die jungen Leute immer wieder auf die Selbstwahrnehmung eigener Höher- oder Höchstwertigkeit („Herrenrasse“, „Volk Gottes“, „Avantgarde des Proletariats“, „Bastion der Freiheit“, „Helden der Revolution“, „Vorreiter einer besseren Zukunft“, „Klimaretter“) hingebogen und das Gegenüber, „die Anderen“ – scharf kontrastierend aber „objektiv“ oder von moralisch höherer Warte betrachtet – zum „Abweichler“, Sozialschädling, zum gefühllosen, bösen, hässlichen Ungetüm, zum wahren Feindbild und Abschaum kultiviert wird?  

Ein Gewissen, das auf „kollektive Werte“ dressiert wird, ist irgendwann unfähig, selbstbestimmtes, freies, verantwortungsbewusstes Handeln von Individuen im Sinne der Aufklärung zu leisten.

Die herrschende Kultur der Helden-, Action-, Horror-, Katastrophenbücher, -filme, -spiele, -comics… gibt viele Rollen vor – meist in Gut und Böse geschieden. Wie – wenn der Kampf gegen die Bazillen, Viren, Parasiten, Schmarotzer, das Unkraut, Ungeziefer, Invasoren, Unterdrücker… etc. erst zum verinnerlichten Heilsziel geworden ist – Menschen dazu bringen, plötzlich das Lebewesen im Streptococcus zu sehen, oder den Schicksalsgenossen im verfluchten Ungläubigen? 

Die kollektiv durch moralische Selbstüberhebung verstellte Wahrnehmung gebiert monströse Defizite kollektiven Verhaltens – bis hin zum Mobbing, Prangerritual, Rufmord, zur Lynchjustiz, zum Pogrom.

Die auf möglichst massenhaften – Quote, Klickzahlen, Follower – Konsum von Feindbildern und Gewalt ein-Gestell-ten Medien schreiben die Zyklen von Gewalt – Macht – Lust massenhaft als emotionale Erfolgsgeschichte fort. Und die ideologische Trennung von „guter“ und „böser“ Gewalt, die Dichotomiefalle fortwährenden Konstruierens und Ausmalens von Feindbildern ver-stellt die Wahrnehmung „nachhaltig“ – hier ist dieses inflationäre Wort angebracht. Doch ist die Erfolgsgeschichte von Gewalt – Macht – Lust  immer auch die Geschichte zerstörter Kulturen und Biographien.

Konstruktionsfehler

Das Schema simpler Kausalität, die Reduktion komplexer dynamischer Systeme auf Abläufe von Ursache und Wirkung, auf Gut und Böse, verstellt sowohl die Wahrnehmung als auch die Selbstwahrnehmung. Es verführt dazu, jeder Störung mit einer „Pat(end)lösung“ zu begegnen, die Störungsursachen beseitigt. 

Wenn aber der Mensch seine Umgebung zu klinischer Sterilität gereinigt haben wird, und sein Körper keinerlei Angriffe irgendeines Krankheitserregers mehr abwehren muss, richtet sich sein arbeitslos gewordenes Immunsystem gegen ihn selbst.

Eichmanns Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung waren derart verstellt, dass er nicht merkte, wie er – in aller „Normalität“ – seinesgleichen und am Ende sich selbst umbrachte. Eichmann war in diesem Sinne „krank“, und es handelt sich um eine Zivilisationskrankheit. In ihrer infektiösen Akutphase macht sie Juden, Russen, Deutsche, Amerikaner, Andersfarbige etc. zu Todfeinden, ist aber nicht Teil der Strategie eines besinnungslosen Virus, sondern Teil menschlicher Strategie. 

Sie erscheint „selbstähnlich“– gleich mathematischen Fraktalen –  beim Individuum wie in Korporationen: Kirchen, Konzernen, Parteien, „Befreiungsbewegungen“, staatlichen Behörden, kurz: Organisationen aller Art. 

Ihre Immunreaktion – mit dem Ziel ihrer Selbsterhaltung, gebunden an das von ihnen angebotene gehobene Selbstwertgefühl – ist von ihren An-Gestellten samt Hilfstruppen verinnerlicht und verstellt deren Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Der „Immunisierte“ entwickelt kaum mehr Verantwortungsgefühl jenseits des konformen Eiapopeias in der Korporation. Er lässt sich nötigenfalls wie ein Kugelschreiber benutzen – bis der Gevatter ihm endgültig die Verantwortung abnimmt.

Damit bin ich beim größten Unruheherd meines Nachdenkens über den menschlichen Kosmos und seine „dunkle Materie“: GEWALT MACHT LUST. Ich sähe keine Chance, etwas über sie zu erfahren, wollte ich weiterhin nach „Ursachen“ suchen und danach, wie sie sich mechanisch beherrschen ließen. Ich erlebe aber, wie sich der Glaube, Ziele ließen sich mittels mechanischer Dominanz global durchsetzen, zu einer kollektiven Wahnvorstellung erhebt. Sie nähme den Selbstmord der Gattung in Kauf. Das – ich habe es schon angemerkt – ist und bleibt die langweiligere Aussicht.

Mögen Sie sich mit mir nach Alternativen umsehen? Dann verändern wir zunächst den Blickwinkel! Schauen wir auf Ziele und Strategien und fragen wir uns in der nächsten Folge: Was sehen wir eigentlich? 

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