Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #8
In „Der menschliche Kosmos“ komme ich immer wieder auf nonverbale Signale zu sprechen, die fortwährend, meist unbewusst, das Verhältnis zwischen Menschen beeinflussen. Sie entscheiden intuitiv über Sympathien und Antipathien, das ist ebenso nützlich wie fehleranfällig. Zählebige visuelle Stereotype können sich festsetzen – es lohnt, genauer hinzusehen.
Die Macht des Bildes
Die Mediengesellschaft treibt den Umgang mit visuellen Stereotypen auf die Spitze. Kein Wunder eigentlich – denn die Erfahrung „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ ist wohl jedem geläufig. Immer mehr Menschen verstehen, dass eine entwicklungsgeschichtlich erfolgreiche Strategie zu bedrohlicher Einseitigkeit führen kann.
Der Psychologe Siegfried Frey hat solche Phänomene im Labor der Universität Duisburg-Essen überzeugend analysiert. Wenn durch einen visuellen Schlüsselreiz einmal der negative Impuls ausgelöst wird, akkumuliert die Wahrnehmung negative Symptome und drückt positive zur Seite – umgekehrt können selbst nur mit einer Puppe simulierte grobe gestische und mimische Merkmale auch sympathische Eindrücke wecken. Als „Input“-Signal genügt eine Körper- und Kopfhaltung. Diese Eindrücke dominieren die Beurteilung einer Person und ihres Handelns mehr als alle rationalen Einsichten. Es lohnt unbedingt, Freys Buch „Die Macht des Bildes“ zu lesen, das 1999 im Verlag Huber in Bern erschienen ist.
Frey vertritt den Standpunkt, dass es überhaupt nur „Eindrücke“ und keinen inneren Abläufen zuzuordnenden „Ausdruck“ gibt und dass der menschliche „Sender“ die stereotype Antwort antizipiert, die er vom „Empfänger“ erheischt – also so, wie in der Balzzeit männliche Vögel rote Punkte oder Federkrönchen herzeigen, weil die Aufmerksamkeit und das sexuelle Verlangen der Weibchen solche Signale erheischen. Die Notwendigkeit einer Antizipation sieht er, rückt aber die Vorgänge in die Richtung genetisch bedingten, instinktiven Verhaltens oder unbewusst ablaufender Konditionierung auf soziale Rollenmuster ohne Verbindung zu irgendwelchen emotionalen oder seelischen Abläufen im Inneren.
Er hat seine Thesen in Untersuchungsreihen belegt, in denen er Fernsehauftritte von Politikern und deren Bewertung durch deutsche, französische und amerikanische Probanden erforschte. Eine ziemlich grob animierte, garantiert emotionslose Puppe erntete dabei die gleichen Sympathiewerte wie der originale Mensch, dessen Körperhaltung sie simulierte.
Der Charme der Puppen
Wahrhaftig: Figuren eines Trickfilms können genauso rühren und erheitern wie echte Schauspieler, ohne dass Puppen und Animationen Gefühle haben. Absehbar sind viele weitere Untersuchungen, inwieweit das kühle Aneinanderfügen Sympathie erregender Displays ohne Bezug zu menschlichen Vorbildern – etwa per Computerprogramm und Künstlicher Intelligenz – genügt, eine sympathische Figur zu schaffen. Bei Sprachprogrammen hat man das erreicht.
Ich vermute, dass auch die Schöpfer animierter Charaktere viel herumprobierten, so lange, bis sie sicher waren, dass sie beim Betrachter die erwünschten Reaktionen auslösen. Inzwischen ermöglicht „Motion Capturing“, die Bewegungen echter Schauspieler auf computergenerierte Figuren zu übertragen. Eine reine Verstandessache ist das Ganze also immer noch nicht. Erfahrungen und Beobachtungen von Gefühlen und zugehörigen Signalen liegen dem digitalen Geschöpf zugrunde, damit kann man spielen, so wie es Puppenspieler tun oder Sprecher in den Synchronstudios mit animierten Figuren auf der Leinwand.
Natürlich übertragen in diesem Fall die Spieler ihre Gefühle auf Objekte, die selbst keine Gefühle haben können und antizipieren Verhalten, wo es keines geben kann. Das können wir eigentlich alle und so etwas kann zu den absonderlichsten Liebes- und Hassausbrüchen führen. Wer auf seinen Computer einredet oder einschlägt, wird Gesten und Mienen zeigen, die vom leblosen „Empfänger“ nicht initiiert sind. Manche Leute schwören allerdings Stein und Bein, Bill Gates habe hämisch vom Bildschirm gegrinst, bevor sie ihn zerschmetterten.
Egal ob man Freys Meinung folgt, dass es nur Eindrücke, aber kein Ausdrucksgeschehen im Sinne der überkommenen Ausdruckspsychologie gibt: es gibt Interaktionen. Und:
Es gibt die Interaktion mit sich selbst.
Das Ich als Objekt
Wann und wie beginnt Selbstwahrnehmung? Wie hängt sie mit der Bildung von Gedächtnis und Erinnerungsvermögen zusammen? Mit dem Zusammenwirken von Sprache und Bewusstsein?
Ich will versuchen, mich der Frage aus einer anderen Richtung zu nähern. Vielleicht haben Sie erlebt, wie fremd man sich selbst angesichts der ersten Aufzeichnung in einem Videofilm vorkommt. Wenn Sie sehr ungeübt im freien Reden und Gewähren von Interviews sind, haben Sie sich über die Stotterer, Fehler und „Äh’s“ geärgert, die Ihnen unterlaufen sind, während ein Objektiv auf sie gerichtet war. Möglicherweise hat Sie das derartig verunsichert, dass der zweite Versuch noch schlimmer ausfiel.
Der Blick durchs Objektiv – der Name sagt’s – „objektiviert“ scheinbar den Eindruck von einem selbst, weil er von der gewohnten „runden“ und akzeptierten Wahrnehmung abweicht, an die der Beobachtete sich lebenslang gewöhnt hat. „Innere“ und „äußere“ Wahrnehmung decken sich plötzlich nicht mehr. Auch das ist natürlich nur Scheinobjektivität und eine meist kurze Irritation. Solche Inkongruenzen werden sehr schnell ausgeglichen. Denn mit ein wenig Übung und Gewohnheit wird das Filmbild verinnerlicht und dem bereits vorhandenen, akzeptierten, anverwandelt. Alles was stört, wird von der Wahrnehmung weggefiltert; entweder, indem es einfach ausgeblendet, oder indem seine Bewertung ins Positive gewendet wird. Es passt sich ein und gehört wie selbstverständlich zum Selbstbild.
Wäre es anders, würden 90 % der Politiker Auftritte vor Kameras meiden oder sich nach jedem ihrer Auftritte wegen eines bis ins Mark erschütterten Selbstbewusstseins psychiatrisch behandeln lassen. So aber können sie sich mit ein paar Ratschlägen eines gut bezahlten PR-Managers und etwas Schminke begnügen. Denn sogar der klein geratene Saarländer mit dem vorgestreckten Kinn – in den Sympathieanalysen von Prof. Frey landete er auf Platz 179 von 180 – wird sich selbst nicht unsympathisch finden.
Von einem Tyrannen der Antike, der ebenso hässlich wie machtgierig war, ist der Ausspruch überliefert „Oderint dum metuant!“ – „Mögen sie mich hassen, so lange sie mich nur fürchten!“. Er hat dabei sicher nicht auf sein schieches Aussehen angespielt – er hielt sich selbst für einen unwiderstehlichen Frauentyp.
Smartphones: Segen und Sucht
Die heranwachsenden Generationen sind im Umgang mit Kameras schon so früh geübt, dass der oben beschriebene Moment der „Fremdheit“ kaum mehr wahrgenommen wird. Das Videobild wird antizipiert wie jede andere Form der Interaktion, und Kinder haben damit viel weniger Schwierigkeiten als Erwachsene. Die Kamera ist nur ein neues, fesselndes Instrument visueller Wirkung auf das Selbst – so wie es einstmals der Spiegel war. Nur selten überkommt Menschen vorm Spiegel das Fremdheitsgefühl. Er ist zwar erst seit ein paar Jahrhunderten beliebig verfügbar, aber im Zeitalter dominierender Bildermedien gewöhnen sich schon Kleinkinder an die visuelle Selbstreferenz.
Die Selbstinteraktion ist indessen ein viel tieferer und existenziell wichtigerer Vorgang als ihre rasche und sehr bewegliche visuelle Spielart glauben macht. Sie läuft beständig ab – zum Beispiel wenn wir träumen – und sie umfasst alle Funktionen, die Seele und Körper aneinander koppeln, bewusste und unbewusste. Die Phantasie kann sich hier ebenso entfalten wie im Umgang mit den Interaktionen. Meditation ist nur ein Beispiel, Selbstinteraktion bewusst zu nutzen: um psychischen Stress auszubalancieren, die Selbstwahrnehmung – Propriozeption – und damit das Körpergefühl zu stärken.
Wenn Sie sich Situationen vorstellen, die vergangen, noch nicht eingetreten oder sogar vollkommen fiktiv sind, können Sie Realität simulieren. Sie können mit solchen Simulationen spielen und das kann stärker auf Sie wirken als die „echte“ Wirklichkeit. Die „social media“ locken damit, dass eigentlich jede und jeder das Bild seiner selbst prüfen, korrigieren und optimieren kann. Er kann auch alsbald herausfinden, wie es bei anderen ankommt. Ermuntert werden dadurch zweifellos narzisstische Neigungen, schlimmstenfalls Sucht und Neurosen.
Schauspieler trainieren ihre Vorstellungskraft auf Situationen und Gefühle, die nicht real sind. Dazu müssen sie das am meisten vermeiden, was sie nach Volkes Meinung tun: sich verstellen. Sie öffnen und mobilisieren im Gegenteil die dynamischen Strukturen der Selbstinteraktion. Das kann ein ebenso langwieriger und schmerzhafter Prozess sein, wie das Tanztraining beim Ballett oder die Ausbildung zum Musiker. Und die Unterschiede sind hier wie da enorm, was Talent, Kreativität, Mut zu Außergewöhnlichem, Ausdauer und Fleiß anlangt.
Spiele und Wahn
„Realität und reales Erleben“ scheinen bei manchen psychischen Erkrankungen durch ähnliche Simulationen überlagert; womöglich läuft eine spezielle Selbstinteraktion ab und womöglich ist das Geschehen mit dem von Autoimmunkrankheiten vergleichbar. Die gestörte Interaktion mit einer Welt, die keine – oder keine lösbaren – Aufgaben mehr anbietet, führt zu einer Interaktion mit einem System von Wahnvorstellungen, das stereotype Aufgaben wie die Abwehr allgegenwärtiger Verfolger anbietet, oder das zur Flucht in ein anderes Ich verhilft.
Welche Leiden ein nicht akzeptiertes Selbst erlebt, lässt sich bei einer Magersüchtigen erahnen. Ihr zum Gerippe ausgemergelter Körper erscheint ihr immer zu fett, nicht nur wenn sie vorm Spiegel steht; ihr ganzes Körpergefühl ist buchstäblich „verstellt“: Sie hungert sich schlimmstenfalls zu Tode. Diese Krankheit scheint in besonderer Weise an unsere Kultur gebunden, die den „wohlgeformten“, „gesunden“, „jugendlichen“ Körper stilisiert. Gegenbewegungen sind entstanden, Psychiater und Psychologen können helfen, die Heilung hängt – wie bei anderen Krankheiten – wesentlich von der Konstitution der Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld ab.
Der Kult der Äußerlichkeit treibt weiter ungesunde, deformierende und das Altern beschleunigende Blüten. Er verstellt die Selbstwahrnehmung und spornt die plastische Chirurgie zu ebenso lukrativen wie entstellenden Superlativen an. Die Fixierung auf visuelle Stereotypen des Konsumzeitalters und das mechanische Denken, das den Menschen wie ein Auto tunen zu können meint, treffen zusammen: Zwanghaft, mit eingeschränkter Selbstwahrnehmung, rennen die Massen nach dem Glück. Das Glück rennt hinterher.
Noch ein Ratgeber? Nein danke!
An dieser Stelle rundet sich möglicherweise Ihr Bild vom Autor: Der Mann ist ein Besserwisser (das hat er ja zugegeben) und jammert unaufhörlich über die Ungerechtigkeit der Welt. Es ist, glaube ich, an der Zeit, den Besserwisser in Schutz zu nehmen.
Warnungen vor dem Rauchen, dem übermäßigen Genuss von Alkohol und dem Schenken verblödenden oder sonstwie gesundheitsgefährdenden Spielzeugs nützen sowieso kaum. Die Absicht dieses Buches ist auch keineswegs, liebgewordene Anschauungen und Gewohnheiten zu verleiden. Mit seinem Titel setzt es sich leider furchterregenden Maßstäben aus. Es kann ihnen nicht gerecht werden. Die Absicht ist bescheidener: Gehen Sie doch einfach mal auf die Entdeckungsreise zu sich selbst, zu den Menschen, die Sie mögen und zu den Menschen, die Sie mögen. Beobachten Sie Mienen und Gesten etwas genauer und achten Sie ab und zu darauf, wie Sie auf andere wirken. Sie können das auch zum Thema machen, dann sollten Sie allerdings nicht nur auf Komplimente aus sein. Falls Sie doch nur Komplimente bekommen, sind Sie sehr reich und schön oder Sie sind so etwas wie Mussolini, Stalin, Hitler, Mao… (Sie können die Liste gruseliger Despoten beliebig ergänzen) – oder Sie sollten Ihren Freundeskreis wechseln.
Falls Sie Kinder haben – oder mit Kindern zusammentreffen: Spielen Sie mit Ihnen! Haben Sie keine Scheu vor den abgegriffensten Klischees der Puppenspielerei und lassen Sie der Phantasie und Ihren Gefühlen die Zügel. Von Klischees aus kann man wunderbare Geschichten in Gang setzen, wenn man im Detail abweichende Motive zulässt. Zum Beispiel könnte sich das Krokodil in Kaspers bunte Strümpfe verlieben.
Wenn Sie die eigenen Ausdrucksformen kennen und selbstironisch kommentieren können, wird ihnen das in manch verkorkster Situation helfen. Versuchen Sie nicht, an Ihren Mienen, Gesten oder Lauten herum zu korrigieren. Halten Sie sich lieber an ein Zitat von Erich Kästner. Ich kann mich nicht mehr wörtlich erinnern, aber sinngemäß stand da: „Frau Lehmann könnte sich und andere glücklich machen, wenn sie nur versuchte nicht perfekt, sondern die perfekte Frau Lehmann zu sein“.
Durch Krisen wird man Mensch
Selbstwahrnehmung beginnt wahrscheinlich schon im Mutterleib. Der Geburtsvorgang – eine wahrhaft existenzielle Krisensituation – legt den Gedanken nahe, dass es dabei eine tief wurzelnde positive Rückkopplung an Selbständigkeit und Freiheit geben muss.
Kein Kleinkind würde versuchen zu stehen und zu gehen, richteten es nur immer die helfenden Hände anderer auf. Die Vorstellung, dass allein die Hilfe und der Beifall der Umgebung zu selbständiger Leistung befähigen könnten, ist ebenso abwegig, wie die eines Lernens ohne Interaktion. Natürlich haben die frühen Interaktionen besonders starken Einfluss auf die Selbstwahrnehmung.
Die Geburt eines gesunden Knaben ist im Allgemeinen eine erfreuliche Sache. In Familien mancher Kulturkreise gilt sie als besonderer göttlicher Segen, und der Sohn ist vollends von Gottes Gnaden, wenn er der Erstgeborene ist. Er wird als kleiner Prinz behandelt, dessen Wünsche insbesondere den weiblichen Familienangehörigen Befehle zu sein haben. Grenzen darf ihm bestenfalls ein männliches Oberhaupt der Familie setzen. Eine noch so gut ausgebildete, erfahrene deutsche Krankenschwester oder Erzieherin wird viel Mühe haben, einem solchen Prinzen klar zu machen, dass ihre Rolle nicht die einer Dienstmagd ist. Schlimmstenfalls wird es ihr nicht ohne männliche Hilfe gelingen, die mit hinreichender Autorität bewehrt ist .
Gönnen Sie sich ruhig einen Blick auf eigene frühe Rollen, so weit Sie sich erinnern. Fragen Sie – wenn möglich – Eltern und Geschwister daraufhin etwas genauer aus und prüfen Sie, welches Rollenverhalten sich dauerhaft erhalten hat. Es geht um Details!
Was für die Interaktion gilt, gilt auch für die Interaktion mit sich selbst: Sie zielt auf ein dynamisches Gleichgewicht. Sie muss Störungen und Krisen ausbalancieren. Sie wächst in Form und Funktion nach den relativ stabilen Vorgaben der Gene, den variablen der Umgebung und den kumulativen der eigenen Geschichte.
Es gibt wichtige Sprungstellen: eine ist der Erwerb der Sprache. Er verbindet sich in der Regel mit der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen; nicht mehr nur die Eltern interagieren intensiv mit dem Kind, es bilden sich „Peer Groups“, die sogar den elterlichen Einfluss „überspielen“ können. Tatsächlich ist diese Zeit des Spielens für Individuation und Sozialisation absolut gravierend. Hier formieren sich Selbstwahrnehmung, Ausdrucksverhalten und Rollenzuweisung durch andere dynamisch – oft konfliktreich – außerhalb der Familie.
Dabei werden Mitläufer geboren, Angeber und Außenseiter. Nur ausnahmsweise machen Kinder und Jugendliche später nachhaltigere Rollenerfahrungen. In der „guten alten Zeit der Großfamilien“ waren manche dieser Rollen noch mit der Stellung unter den Geschwistern verquickt, aber wenn der Altersabstand zwischen Geschwistern drei Jahre überschreitet, ergeben sich bestimmte Formen spielerischer Interaktion nicht mehr.
Die nächste Sprungstelle ist die Pubertät, sie verändert die Wahrnehmung dramatisch und erschüttert die Selbstwahrnehmung. Interaktion und Selbstinteraktion müssen auf Bedürfnisse hin konfiguriert werden, die so elementar wie neu sind. Eine Krise, die aber auch enorme Potentiale für Entwicklungen beinhaltet: Es ist die Zeit der größten Verunsicherung und der heißesten Neugier, sie ist zwar nicht auf Sexualität beschränkt, mobilisiert aber für die stärkste aller Regungen den gesamten Vorrat an einschlägigen Strategien und Verhaltensmustern, darunter die wunderlichsten Balzspiele.
Die ganze Welt ist Bühne
Sie haben bis hierher hoffentlich Ihren Körper als facettenreiches und sensibles Medium der Interaktionen schätzen gelernt, die unablässig und meist unbewusst ablaufen, geneigter Leser. Sie können sich im Alltag nun davon überzeugen, dass Ausdrucksphänomene Situationen stark beeinflussen, dass Ihre Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung voller Voreingenommenheit und Stereotype sind. Das ist ganz natürlich, weil Stereotype, Rituale und Routinen Ihnen jede Menge psychischer Arbeit abnehmen, wenn Sie Unbekanntem begegnen. Oder damit zusammenstoßen. Dann wird es interessant, denn Konfliktverläufe hängen davon ab, wie weit Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung auseinanderfallen – sofern das nicht überhaupt der Kern des Konflikts ist. Kunst und Literatur sind andauernd damit befasst.
Die Sprache ist des Menschen besonderes Instrument, um Konflikte zu schaffen, zu verschärfen oder zu lösen. Die gegensätzliche Wirkung kann daher rühren, dass gesprochene Sprache nun einmal mit dem körperlichen Ausdruck buchstäblich verwachsen ist.
Bestimmte Signale – zum Beispiel ein vorgerecktes Kinn, ein Blick der mich abschätzend mustert, können ein freundliches Wort anzüglich machen. Ein anerkennendes Lachen macht aus der Beleidigung „elender Gauner“ ein Kompliment für besondere Cleverness. Trotzdem wird behauptet, man könne die „Sach- und die Beziehungsebene“ eines Konfliktes fein säuberlich trennen und sodann unter Ausschluss von Emotionen auf der Sachebene zu Lösungen kommen, die meist auch den Beziehungskonflikt entschärfen. Das hieße nichts anderes als die Sprache von emotionalen Kopplungen zu „reinigen“. Davon ist gerade so viel zu halten, wie vom Versuch, „schmutzige Wörter“ aus dem Sprachgebrauch zu verbannen.
Die „politisch korrekte“ Sprache – gekrönt vom „Gender-Sprech“ – verdanken wir der klassischen Methode des mechanischen Zeitalters: Sie zielt nicht nur auf materielle, sondern im Informationszeitalter zunehmend auf informelle, sprachliche, letztlich gedankliche Dominanz – alternativlose Deutungshoheit. Der deutschen Kanzlerin und ihrem fraglos erfolgreichen Umgang mit Macht in wechselnden Koalitionen verdankt das Wort „alternativlos“ seine Karriere, ihre Amtsnachfolger in Partei und Regierung bemühten sich seither mit verheerenden Folgen, es ihr gleichzutun.
Der verhängnisvolle Fehler aller Politbürokraten bleibt die Vorstellung, das Leben habe sich nach Verordnungen zu richten: Büros, Organigramme, Formblätter, Pläne gäben Takt und Richtung vor, eindeutige, „objektive“ Sachverhalte und Wortvorgaben wie sie in Lehrbüchern, Gesetzen, Dienst- und Ablaufplänen stehen, könnten alles regulieren, und wer sie verstanden habe, könne nichts falsch machen, man müsse nur gehörig kontrollieren.
In der Konsequenz passt die Sprache vollständig in Formulare. Sie verschwindet hinter Statistiken. In Schulen instruieren entsprechend ein-gestellte Lehrer deren Gebrauch, der Alltag ist durchreguliert und komplett überwacht wie im China der Kommunistischen Partei unter Xi Jinping – schließlich lassen sich Menschen mittels allgegenwärtig digital kontrolliertem „social score“ auf Linie bringen.
Das Lernen aus Fehlern und das Lösen von Konflikten werden zu einer rein kognitiven, nur auf ideologische Inhalte fixierten Verrichtung nach staatlichen Maßgaben. Pausenlos pauken und trompeten willfährige Medien deren Alternativlosigkeit. Kasernenhöfe sind lustiger.
Das Elend der Bildung
Kinder funktionieren Gott sei Dank nicht nach solchen Vorgaben. Angesichts ihres unstillbaren motorischen Dranges, angesichts ihrer Neigung, spontanen Regungen zu folgen, Fratzen zu schneiden, einander Streiche zu spielen, Kaugummis unter Stühle zu kleben, bleibt den „Versachlichern“ nur der Griff zum Rohrstock, das Nachsitzen, der Hinauswurf, der Brief an die Erziehungsberechtigten.
Das gilt nicht mehr in unseren reformierten Schulen?
Ende der 90er Jahre erlebte ich, wie die siebte Klasse einer nordrhein-westfälischen Gesamtschule einen Chemielehrer buchstäblich vorführte. Der Mann beabsichtigte, seinen Schülern anhand eines Experimentes das Sieden und Verdampfen von Wasser zu erläutern. Dazu sollten sie drei Kubikzentimeter Wasser in einem Reagenzglas mittels einer hölzernen Klammer in die Flamme eines Bunsenbrenners halten und zum Kochen bringen.
Natürlich wurde nichts daraus. Während der Erklärungen hatten einige Mädchen ihre Pullover ausgezogen, was von den Knaben mit beifälligen Pfiffen quittiert wurde. Mützen flogen herum, Kaugummiblasen platzten. Die Bunsenbrenner waren noch nicht ganz ausgeteilt, da schossen die Flammen schon in Maximalstellung hoch und der Gestank kokelnder Holzklammern erfüllte den Raum. Schließlich ließ der verzweifelte Pädagoge („20 Jahre Berufserfahrung!“) alle Hoffnung fahren, die Brenner, Klammern und Gläser einsammeln und die ungebärdigen Zöglinge Seiten aus dem Chemielehrbuch abschreiben.
So wird in deutschen Schulen Kindern die Mathematik, so werden ihnen Physik, Chemie, auch die große Literatur, Musik und Kunst verleidet.
Allzu oft können Lehrer ihren Wissensvorsprung nicht nutzen, um Konfliktsituationen aufzulösen. Sie lassen es gehen wie’s mag oder retten sich in die „Weisungsbefugnis“, die ihnen das Gestell erteilt. In der Mathematik können sie zumindest kognitiv dominieren, indem sie klare Verhältnisse von richtig oder falsch ins Feld führen – also unwiderlegbare Fest-Stellungen. So sichern sie mit ihrem Wissen die informelle Macht.
Tatsächlich läuft es schließlich auf den vielerorts beobachtbaren Grabenkrieg zwischen Lehrern, Schülern und deren Eltern hinaus. Das Verhältnis funktioniert – wen wundert ’s bei dieser Art Rollentraining im Schützengraben – in der Arbeitswelt ähnlich und wird mit dem Begriff vom „Herrschaftswissen“ trefflich charakterisiert.
Zwischen Globalisierung und Kulturverfall
In den Medien erschallen – vor allem von Seiten der Wirtschaft – Wehklagen über blamable Ergebnisse deutscher Schüler im internationalen Vergleich (TIMSS, PISA), krasse Bildungsmängel bis knapp ans Analphabetentum bei Fünfzehnjährigen, zu wenig Nachwuchs für Fachkräfte und Studenten in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern.
Ungesteuerte Migration verschärft die Defizite. Es fehlt nicht an Stimmen, die nach mehr Strenge und Autorität rufen. Mehr Leistungskontrollen helfen aber keineswegs dem Leistungswillen auf, sie vergrößern nur Distress und Frust. Derweil werden die Anforderungen gesenkt, Einserabiture inflationär. In einigen Bundesländern favorisieren Schulbehörden die sogenannten „Kopfnoten“ aus den glorreichen alten Zeiten wieder: Zensuren etwa wie in der DDR für „Betragen“, „Ordnung“, „Fleiß und Mitarbeit“. China lässt grüßen.
Also: statt die Kinder zu mehr Eigenverantwortung zu erziehen, indem sie durch geeignete Unterrichtsmethoden zu selbständigem und kooperativem Verhalten ermutigt werden, holt man abwechselnd neue Reformkonzepte wie das unsägliche „Schreiben nach Gehör“ und alte Werkzeuge der Maßregelung wieder hervor.
Mancherorts wird Gesinnungskitsch zum Pflichtfach. Sprachliche, historische, naturkundliche, musische Kompetenzen wurden locker fürs Schulschwänzen zwecks Teilnahme an Hüpfkollektiven „Fridays for Future“ geopfert: Politisch-pädagogische Tricks, mit denen Schülern Teilhabe an Macht und Mitbestimmung suggeriert wird.
So wachsen erfahrungsgemäß Mitläufer und Handlanger heran. Weil viele Lehrer offensichtlich außerstande sind, die Interaktionen in ihren Klassen nutzbringend zu gestalten, erteilt man ihnen bisweilen mehr Kontrollbefugnis in einem ohnehin einseitig kontrollierten Verhältnis. Kein Wunder: Die Schule ist nicht für die Kinder, sie ist in erster Linie für die beamteten oder an-Gestell-ten Lehrer da; mit ihren eingefahrenen Ritualen will sie selten anderes als Gestell-konformes Verhalten produzieren. Genug davon: Publikationen und Mühewaltungen einschlägiger Behörden und Hochschulen sind so zahl- wie fruchtlos. Das Wort vom Systemversagen trifft zu.
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