Xuyun, die „Leere Wolke”

Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil ist der Buddhismus in vielerlei Hinsicht in China immer eine fremde Religion geblieben, und zwar in erheblich größerem Maße als das Christentum in Nordeuropa. Beide Religionen sind zwar geographisch außerhalb der gerade erwähnten Kulturkreise entstanden – der Buddhismus in Indien, das Christentum in der Levante – und mittlerweile in ihrem Herkunftsland so gut wie ausgestorben; immerhin aber hat das Christentum von Europa vollständig Besitz ergriffen und den Paganismus weitgehend assimiliert, während der Buddhismus nie zum ausschließlichen Glauben Chinas geworden ist, sondern infolge einer langen, komplexen und durchaus konfliktreichen Geschichte zumindest in den Augen der meisten Gläubigen eine Art pragmatische Symbiose mit anderen Glaubensformen eingegangen ist: Überall, wo Institutionen tangiert sind, überwiegt die konfuzianistische Ritualistik und Pflichtethik; wo es um magische Praktiken und lokale Traditionen geht, ist der Daoismus zuständig, der sich von einer mystischen Philosophie zum Träger des Volksreligion gewandelt hat; und wo menschliche Grundfragen und vor allem das Jenseits tangiert sind, wird man sich dem Buddhismus zuwenden. 

Der berühmte Satz „Drei Lehren harmonisch wie eine“ (三教合一) mag also eine gewisse Alltagspraxis durchaus adäquat beschreiben; für jeden, der sich allerdings etwas tiefer mit den entsprechenden Vorstellungen auseinandersetzt, tun sich nach wie vor theologische und ontologische Abgründe auf, die nur aus demselben Grunde zunehmend in den Hintergrund geraten sind, wie eben auch die Differenzen zum Beispiel zwischen dem protestantischen und katholischen Abendmahlsverständnis kaum noch eine Rolle spielen: Nicht, weil sie überwunden wären, sondern weil sie niemanden mehr wirklich interessieren.

Der anti-buddhistische Kampf nicht nur der Kulturrevolution, sondern auch der Zeit der Republik speiste sich also nicht nur aus den üblichen „progressiven“ Wurzeln, sondern konnte auch an gewisse Ressentiments anknüpfen, die in China eine lange Vergangenheit haben und zumindest im frühen Mittelalter regelmäßig zu anti-buddhistischen Ausschreitungen geführt hatten. Ein typisches Beispiel für diesen Kampf sind Leben und Wirken des Mönchs „Leere Wolke“ (Xuyun), der während seines 119jährigen Daseins den völligen Umbau Chinas vom traditionalen kaiserlichen Reich der Mitte in einen kommunistischen Staat stalinistischer Prägung erlebte und nicht unwesentlich dafür verantwortlich war, daß der Buddhismus diese Zeit überlebte.

Bei Buddha

Xuyun (sein Geburtsname war Xiao Guyan) wurde 1840 geboren und gilt als einer der wichtigsten Lehrer des chinesischen Chan- (also Zen-)Buddhismus der „Reines Land“-Schule des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Bestattung seiner Großmutter wurde zu einem religiösen Schlüsselerlebnis, aufgrund dessen er mit der Lektüre buddhistischer Sutren und einer Hagiographie der Guanyin begann, zum Berg Heng Shan pilgerte und mit 14 Jahren ankündigte, Mönch werden zu wollen. 

Der Versuch seines Vaters, ihn vielmehr im daoistischen Geist zu erziehen, blieb unfruchtbar, und mit 17 Jahren versuchte er zum erstenmal, dem Elternhaus zu entfliehen, um in ein Kloster einzutreten. Auch eine Zwangsheirat konnte ihn nicht in die materielle Welt zurückholen; vielmehr bekehrte er seine beiden Gattinnen und flüchtete mit 19 Jahren erneut in ein Kloster; den Häschern seiner Familie entkam er nur durch ein dreijähriges Dasein als Einsiedler in einer Grotte, bis er vom Tod seines Vaters erfuhr. Hierauf folgte neben Studien bei Yung Ching, der ihm von allzu strenger Askese abriet und ihm das Meditationswort „Wer zieht diese meine Leiche?“ aufgab, eine Reihe verschiedenster, jahrelanger Pilgerreisen zu den wichtigsten heiligen Stätten des Chan-Buddhismus in China, Tibet, Indien und Ceylon, während derer er zahlreiche Gedichte und Kommentare verfaßte und viele buddhistische Einsiedeleien und Klöster errichtete bzw. renovierte.

1896, im Alter von 56 Jahren, geschah es dann. Nach einem Sturz in einen Fluß, aus dem er erst einen Tag später in einem Fischernetz herausgezogen wurde, verbrachte der schwer angeschlagene Xuyun mehrere Tage in andauernder Meditation. In dieser Zeit gelang es ihm, seinen Körper völlig zu vergessen und nicht nur rasch auszuheilen, sondern auch außerkörperliche Erfahrungen zu erlangen und schließlich, dank der Versenkung in die Meditationsworte „Wer ist gedankenvoll bei Buddha?“, die Erleuchtung zu erlangen, als ein Diener ihn beim Einschenken des Tees versehentlich verbrühte und daraufhin die Teeschale fallen ließ. In einem Gedicht beschrieb Xuyun das Ereignis später im Rückblick wie folgt:

„Ein Becher fiel zu Boden / mit einem klar vernehmbaren Geräusch. / Als der Raum zerstäubte, / kam der verrückte Geist zum Halt. / Als die Hand losließ, fiel die Tasse und brach. / Familien zerbrechen, Menschen sterben – über diese Dinge läßt sich nicht reden. / Der Frühling kommt, die Blüten duften, alles ist überfüllt mit / Glanz. Berge, Flüsse und selbst die große Erde – sie alle sind nur Erleuchtete.“

Unerschütterlich

Auch nach der Erleuchtung setzte Xuyun unverwüstlich seine Arbeit fort: Er kommentierte die heiligen Texte, baute alte Tempel und Klöster wieder auf und scharte in ganz Ostasien Schüler um sich, und das trotz der politischen Verwerfungen seiner Zeit, die in rascher Folge den Sturz der Qing-Dynastie, die Ausrufung der Republik, den Ausbruch des Bürgerkriegs, den Aufstieg des Kommunismus und natürlich die immer weiter voranschreitenden japanischen Eroberungen sah: Der Buddhismus schien vielen Menschen zusammen mit den anderen vormodernen Traditionen Chinas keine Lösung für die unzähligen Krisen zu sein, die das Riesenreich befielen, sondern vielmehr aufgrund seiner scheinbaren Rückwärtsgewandtheit und Introspektion ein Teil des Problems darzustellen, während nur Fortschritt, Technik, Sozialreform und Moderne, also die Künste der „westlichen Barbaren“, dem Lande eine echte nationale Wiedergeburt zu versprechen schienen.

Selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb der mittlerweile über 100jährige im Land, anstatt sich wie so viele andere nach Hongkong oder Taiwan zu flüchten, arbeitete er unerschütterlich für den Schutz und die Pflege der buddhistischen Gemeinschaften und wurde dafür von den neuen Machthabern zusammen mit seinen Schülern schwer mißhandelt, glaubt man der Schilderung des Cen Xue Lu, der Xuyuns Autobiographie herausgab und annotierte. 

Widerstand

Im Frühling 1951 soll Xuyun nämlich mitsamt 25 Mönchen unter dem Verdacht, Waffen und Geldreserven versteckt zu haben, festgesetzt und im Yunmen-Kloster in Shaoguan gefoltert worden sein; ein Mönch sei sogar während der Haft gestorben. Auch Xuyun sei beim Verhör geschlagen und mehrere seiner Rippen gebrochen worden, doch er habe alle Aussagen verweigert, die Augen geschlossen und sich für neun Tage in den Zustand des Samadhi versenkt, also der völligen Bewußtseinslosigkeit, in der jedes diskursive Denken aufhört und völlige Schmerzunempfindlichkeit einsetzt. 

Die Lage sei schließlich aufgrund der Bekanntheit Xuyuns so problematisch für die staatlichen Instanzen geworden, daß sogar der damalige Premierminister, Zhou Enlai, kontaktiert worden sei, der nach drei Monaten die Freilassung der Mönche befahl; ein Ereignis, das als „Yunmen Incident“ bis heute berühmt ist, in seiner Historizität aber freilich in der chinesischen Historiographie bestritten wird.

Wie dem auch sei: Xuyuns unermüdlicher Widerstand und sein Kampf für die Tradition rangen den kommunistischen Herrschern schließlich eine gewisse Anerkennung ab, so daß sie es zuließen, daß Xuyun 1953 mit anderen Mitstreitern die „Chinesische Buddhistische Gesellschaft“ gründete, die als solche eine völlige institutionelle Neuheit war und als Ehrenpräsidenten den Dalai Lama, den Panchen Lama, den Lama der Inneren Mongolei und Xuyun aufwies, also die Repräsentanten aller großen buddhistischen Obedienzen. 

Diese Institution stellte der Regierung drei Forderungen, nämlich ein Ende der Zerstörung buddhistischer Tempel, Klöster und Gegenstände, ein Ende der Gewaltandrohungen gegen Geistliche und schließlich die Rückgabe des konfiszierten Besitzes mitsamt genug Gemeinschaftsland für die Selbstversorgung. Der neue Staat akzeptierte diese Bedingungen, die letztlich zur Grundlage des Weiterlebens der buddhistischen Gläubigen in der Volksrepublik China geworden sind; Xuyun aber erkrankte im Herbst 1959, starb nach einer letzten Ermahnung seiner Schüler am 13. Oktober und wird bis heute überall in China als einer der wichtigsten Restauratoren des Buddhismus verehrt.

Das Bindeglied

Die 1966 in Gang gesetzte Kulturrevolution, die für viele Jahre einen Rückschlag für die Lage organisierter Religion in China bedeutete, mußte er allerdings nicht mehr miterleben: Die Buddhistische Gesellschaft wurde wieder aufgelöst, zahlreiche Klöster zerstört, öffentliche Religionsausübung weitgehend kriminalisiert, viele Geistliche sogar getötet. 

Doch schon seit den 1980ern beruhigte sich die Lage: Die Gesellschaft wurde unter starker staatlicher Kontrolle neugegründet und mit ihr viele Tempel und Klöster wiederaufgebaut, wenn auch die Religionsausübung in einem engen, vom Staat vorgegebenen Rahmen zu geschehen hat und die Partei letztlich bei allen wichtigen Ernennungen das letzte Wort besitzt. Freilich stellt dieser Staatsbuddhismus in gewisser Hinsicht auch eine „Normalisierung“ der historischen Verhältnisse dar, da er sich in die Parteistrategie einschreibt, weniger Bruch als vielmehr Kontinuität mit der jahrtausendealten chinesischen Geschichte schaffen und entsprechend auch einen staatstragenden Ort für die verschiedenen nationalen Religionsgemeinschaften reservieren zu wollen, denen der chinesische Kommunismus geistig zwar fremd entgegensteht, sie aber als Ausdruck der eigenen zivilisatorischen Größe durchaus würdigt und kulturpolitisch einzusetzen weiß.

Heute bekennen sich ca. 100 Millionen der 1,4 Milliarden Chinesen zum Buddhismus, auch wenn wir sahen, daß der Begriff des „Bekenntnisses“ nur bedingt auf die religiöse Lage Chinas anzuwenden ist. Tempel und Klöster werden jedenfalls trotz innerer Distanz der Herrschenden überall wieder gepflegt und gefördert, und wenn auch viele Jahrzehnte des kommunistischen und nunmehr staatskapitalistischen Materialismus den Glauben an die alten Götter im Kern erschüttert haben, findet doch gerade in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance statt, die bezeichnenderweise weniger die Welt der Klöster als vielmehr die der Einsiedeleien betrifft und von jungen Menschen ausgeht, die freiwillig die Moderne hinter sich lassen und allesamt Xuyun als wichtiges Bindeglied zwischen der eigenen Frömmigkeit und der weitgehend vergangenen Welt der vormodernen Tradition empfinden. 

Höchste Zeit also für einen abendländischen Xuyun!

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