Yukio Mishima: Politik als ästhetische Geste

Widerstand kann verschiedenste Formen annehmen. Manchmal ist er ohne jede Frage berechtigt, manchmal ist er fehlgeleitet, und manchmal, ja wahrscheinlich sogar meistens, befindet sich die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Ein typisches Beispiel hierfür ist sicher Yukio Mishima, der auch im Westen immer noch bekannte japanische Schriftsteller, der viermal für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war und auch heute noch zu den größten Klassikern der japanischen Literatur des 20. Jahrhunderts zählt. 

Mishima war nicht nur ein Glanzlicht der Stilistik, dessen Werke wie die Tetralogie „Das Meer der Fruchtbarkeit“ oder „Der goldene Pavillon“ in die Weltliteratur eingegangen sind, sondern auch eine politisch höchst umstrittene Persönlichkeit, dessen Laufbahn ein spektakuläres Ende fand, als Mishima im Jahre 1970 einen von Anfang an aussichtslosen Staatsstreich unternahm, nach dessen Scheitern er sich auf rituelle Weise den japanischen Freitod gab.

Ein anti-progressiver Geist

Kehren wir zurück zum Anfang. Nachdem der 1925 geborene Mishima schon früh seine Begabung für die Schriftstellerei entdeckt hatte, in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aufgrund seiner gesundheitlichen Konstitution aber nicht mehr in die Japanische Armee eingezogen wurde, entwickelte er sich zunehmend zu einem konservativen Ästheten, der die Amerikanisierung Japans in den Jahren nach der Niederlage ebenso wie die zunehmende Abkehr der Japaner von der eigenen Identität zugunsten von Konsumgesellschaft oder Sozialismus zutiefst bedauerte und in seinen Schriften zunehmend anprangerte. 

Schon früh galt er Kritikern daher als dezidiert anti-progressiver Geist und politisch Ewiggestriger, erlangte aber aufgrund der stilistischen Brillanz seiner Werke früh Kultstatus und wurde einer ganzen Generation zum Vorbild, die durch den Schock der Atombombe, der militärischen Niederlage und der kulturellen Unterwerfung unter die US-amerikanische Besatzungsmacht zutiefst traumatisiert und desorientiert war.

Mishima hatte sich immer schon für den Ehrenkodex der Samurai interessiert und eine Faszination für die zahlreichen Beispiele tragischen Patriotismus und feudalen Ehrgefühls entwickelt. Auch das Datum seines eigenen Todes hatte er im Voraus bestimmt, und so war es denn kein Zufall, daß er diesen mit einer letzten Geste sublimieren wollte, die gleichzeitig auch als ebenso ästhetisches wie politisches Symbol und Zeichen gedacht war, mit welcher er die Niederlage 1945 gewissermaßen aufheben wollte, indem er sich selbst als Sühneopfer für das kollektive Versagen anbot.

Die Tat

So kam es denn zur tragischen Szene des 25. November 1970, dem Jahrestag der Thronbesteigung Kaiser Hirohitos, als der 45jährige Mishima, begleitet von einigen Getreuen, im Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungskräfte (dem heutigen Verteidigungsministerium in Tokyo) vorstellig wurde, den dortigen Oberkommandierenden, Kanetoshi Mashita, höflich, aber bestimmt festsetzte, sich in seinem Büro verbarrikadierte und vom Balkon aus eine von langer Hand vorbereitete Proklamation vorlas, in welcher er die im Hof zusammengerufenen Soldaten zur Rückbesinnung auf die alten japanischen Werte ermutigte und einen allgemeinen Umsturz zugunsten einer Restitution der kaiserlichen Machtvollkommenheit forderte.

Die Truppen allerdings zeigten kaum Interesse an der ohne jegliche politische oder konspirative Vorbereitung vorgebrachten Aufforderung, und der Lärm eines über dem Hauptquartier kreisenden Helikopters machte die Worte schließlich unverständlich. Mishima brach daher seine Ansprache mit einem Hochruf auf den Kaiser vorzeitig ab, zog sich in das besetzte Büro zurück, ließ den Oberkommandierenden, dem kein Leid geschehen war, höflich frei und beging schließlich mit der Hilfe seiner Getreuen den Freitod, indem er sich zunächst selbst die Eingeweide herausschnitt und sich dann rituell enthaupten ließ – ein Vorgang, der grausigerweise dreimal wiederholt werden mußte, bevor er gelang. 

Sympathie und Hochachtung

Es ist erstaunlich und letztlich für die weitgehend symbolische, von Anfang an zum Scheitern verurteilte Natur der Tat bezeichnend, daß Mishima und seine Getreuen weder von der Öffentlichkeit noch während des anschließenden Gerichtsprozesses je als tatsächlich gefährliche Hochverräter betrachtet wurden, sondern trotz aller Verstörung vielmehr auf Mitleid, ja gar Sympathie stießen: Selbst der Oberkommandierende drückte seine Hochachtung für den tragischen Ästheten aus. 

Auch heute gilt Mishima der japanischen Öffentlichkeit immer noch als herausragende, wenn auch politisch durchaus umstrittene, gleichsam tragisch-skurrile Persönlichkeit, dem sogar ein wichtiger Literaturpreis gewidmet ist – eine im Westen wohl unvorstellbare Situation, denkt man – comparaison n’est pas raison – etwa an den ganz bewußt an Mishimas Tat angelegten Freitod Dominique Venners auf den Stufen des Hauptaltars der Kathedrale Notre-Dame in Paris, die unvermeidlich als (kaum bedauerte) Tat eines rechtsradikalen Spinners beschrieben und entsprechend ignoriert wurde.

Kultureller Selbstverrat

Nun läßt sich sicher trefflich streiten über die Berechtigung Mishimas, sein Leben und seine Glaubwürdigkeit in den Dienst der Erinnerung an ein Regime zu stellen, dessen Grausamkeit und Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs der Unterstützung des großen Schriftstellers alles andere als würdig waren, wenn man auch zu bedenken hat, daß Grausamkeit nicht nur gegen andere, sondern auch und gerade gegen sich selbst in der klassischen japanischen Kultur eine völlig andere Bedeutung besaß als diejenige, welche sie im Kontext der westlichen Weltsicht besitzt. 

Doch ging es Mishima ohnehin nicht in erster Linie um eine Idealisierung jenes Intermezzos des aggressiven japanischen Militarismus der 30er Jahre, dessen kollektivistischen Tendenzen er zum Leidwesen der japanischen Konservativen offen anprangerte, sondern um viel mehr: Er beklagte, wie mit der militärischen Niederlage und der für viele Japaner schockierenden 1946er Erklärung des Kaisers, seiner eigenen Heiligkeit zu entsagen, gleichzeitig auch der Traditionsfaden zu einer mehr als 1000jährigen einzigartigen kulturellen Vergangenheit abgerissen war und Japan sich auf dem besten Weg befand, seine eigene Identität zu verlieren. 

Schuld daran war Mishima zufolge keineswegs nur die „Reeducation“ der Japaner durch die US-Amerikaner (die Mishima übrigens privat äußerst schätzte), sondern vielmehr die latente Bereitschaft seiner Mitbürger, den Prozeß der Verwestlichung, der ja bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hatte, in enthusiastischer Weise zu vollenden und die Scham der Niederlage letztlich nur als praktischen Grund vorzuschieben, um die hohen Ansprüche der eigenen Vorfahren als anachronistisch beiseiteschieben zu können. 

Mishimas Tat sollte daher auch nicht unter dem Blickwinkel eines platten militärisch-politischen Revisionismus gesehen werden, sondern vielmehr als Ausdruck eines allumfassenden japanischen Patriotismus, für den der kulturelle Selbstverrat erheblich schwerer ins Gewicht fiel als die bloße militärische Niederlage.

Wer wäre heute noch fähig?

All dies wirft leider auch ein bezeichnendes Licht auf unsere eigene Gegenwart. Wer wäre heute noch fähig, die Schönheit, Gutheit und Wahrheit der eigenen abendländischen Tradition im Gegensatz zum Hedonismus und Materialismus der modernen Konsumkultur zu feiern, ohne dabei in vulgären Revisionismus oder nostalgischen Kitsch zu verfallen? Und vor allem: Wer wäre noch willens, die eigene ästhetisch-politische Überzeugung durch die symbolische Tat einem breiteren Publikum näherzubringen? 

Gemeint sind dabei natürlich keineswegs moralisch hochproblematische Handlungen wie Staatsstreich und Selbstmord, von denen der erstere ohnehin im Europa des 21. Jahrhunderts jenseits der Möglichkeiten des Individuums steht, während letzterer mit den Werten des Christentums unvereinbar ist, sondern vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Lebenswelt, das eigene Renommee, ja notfalls selbst die eigene Zukunft aufs Spiel zu setzen, um einer höheren Idee symbolischen oder ästhetischen Ausdruck zu verleihen und sie somit der Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen einzuprägen?

Der Mut Zeichen zu setzen

Freilich, die Gegebenheiten sind mittlerweile gänzlich andere als in der Vergangenheit: Wieviele unserer Mitbürger wären überhaupt noch fähig dazu, eine solche symbolische Geste inhaltlich und kulturell zu begreifen oder gar zu würdigen, und welche Medien würden überhaupt hierüber berichten, ohne die Botschaft einer solchen hypothetischen Tat in ihr genaues Gegenteil zu verkehren? 

Ein moderner Mishima und seine Helfer würden heute bestenfalls völliges Unverständnis, schlimmstenfalls allgemeine Verachtung und gravierende staats- und strafrechtliche Konsequenzen fürchten müssen – und schlimmer noch: Ihr Opfer würde faktisch wohl eher das Gegenteil von dem bewirken, was intendiert war, nämlich eine noch größere Delegitimierung und Schwächung dessen, was von Tradition und Konservatismus noch übrig geblieben ist – was denn auch der eigentliche Grund dafür sein dürfte, daß heutzutage die meisten symbolischen politischen Akte in Europa von denen begangen werden, die des Applauses der Medien sicher sein können …

Und doch: Wie in allen anderen Fallstudien dieser kleinen publizistischen Reihe wird es früher oder später auch im Abendland der Tat bedürfen, um eine kulturell völlig verirrte und desorientierte Gesellschaft wieder in gesündere Fahrwasser zu bringen, und zwar gerade dann, wenn die Lage am aussichtslosesten scheint und derjenige, der vom Waldgang zum Widerstand übergeht, seine Geste in dem vollen Bewußtsein vollbringt, selber wie Moses die Früchte seiner Handlung nie miterleben zu können. 

Auch heute brauchen wir daher dringender denn je Menschen, welche nicht nur durch ihre Kunst zeigen, daß Schönheit, Wahrheit und Gutheit noch lange nicht ausgestorben sind und auch der Geist der abendländischen Kultur immerhin noch in einigen wenigen überlebt, sondern auch solche, welche bereit sind, gegen jede Unterdrückung mutige, wenn auch vorläufig hoffnungslose Zeichen für Freiheit, Heimat und den Glauben an die Transzendenz zu setzen.

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1 Kommentar. Leave new

  • Helmut Lazina
    8. April 2023 10:33

    Ganz hervorragender Artikel!
    Der (rituelle) Selbstmord hat in Japan eine andere religiöse und kulturelle Grundlage; die Tat Venners kann also zwar verglichen, aber nicht gleichgesetzt werden.

    Man darf auch nicht vergessen, daß die japanischen Kriegsverbrechen während des 2. Weltkrieges nichts Altjapanisches, sondern das Erbe der verwestlichenden Pseudomorphose (Nationalismus und Rassismus) waren.

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