Ein absurdes Entscheidungsverfahren

Protokolle der Aufklärung #6

Das Thema „Akzeptanz politischer Parteien“ wird zur Zeit heiß diskutiert. Die etablierte Elite hyperventiliert. Viele Leute fluchen. Die Einen blicken ängstlich, die Anderen hoffnungsvoll auf die nächsten Wahltermine. Die Mainstream-Journaille steht in den Startlöchern. Sie kann das Klumpen-Event „Wahljahr 2024“ mit der Aussicht auf einträgliche Produktion neuer Nachrichten und Kommentare kaum erwarten. 

Die verfälschte Unmittelbarkeit der Wahl

Schon die Missachtung der Menschenrechts-Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit machen die gängigen Wahlverfahren – in Gestalt kandidatengebundener Listenwahlen – vom Demokratiestandpunkt her praktisch zur Farce (siehe mein Sandwirt-Beitrag Ein eklatanter Widerspruch“). 

Nun gibt es bei dieser Wahl eine Reihe weiterer Defizite, die zu erörtern wären: Minderheitenproblem, Parlamentarierkompetenz, Repräsentanz als Brotberuf usw. Ihr größtes Manko ist die systemische Anonymität der Wahlkandidaten. 

Die Anonymität ist bedingt durch den fehlenden lebendigen Kontakt zwischen den Akteuren. In einer Gesellschaft, in der man mit einer kandidatenbestückten Liste wählt, findet das alltägliche Leben und Treiben der Listenplatzhalter jenseits des Erfahrungshorizonts der Wählerbasis statt. Man kennt nicht, was man wählen soll. Die Wähler gehen davon aus, dass es schon irgendwie gut gehen wird mit den Leuten, die auf der Liste stehen. Von Jahr zu Jahr zeigt sich deutlicher, wie unrealistisch diese Einschätzung ist.

Die Anonymität der politischen Wahl soll durch das Prinzip „Unmittelbarkeit“ (Art. 38/1 GG) verhindert sein. Was ist der Grund, dieses Prinzip in ein Wahlmodell einzubringen? – Jedes Auswählen geschieht entweder aufgrund bloßer Gläubigkeit oder aufgrund eigenen Beurteilens. Um vernünftig urteilen zu können und Vorgegebenes nicht gläubig hinnehmen zu müssen, sollte man eine Sache oder eine Person kennen. Wirkliche Kenntnis setzt voraus, dass man im unmittelbaren Kontakt mit der Sache oder der Person stand bzw. steht. 

Der Personenkontakt bei kandidatengebundenen Wahlen kommt unleugbar auf dem Wege einer Vermittlung zustande: durch Medienleute und Wahlkampfmanager. So wird Unmittelbarkeit – zumindest für die Wählerbasis – geradezu vereitelt. Allein die Kandidatenauswähler an den Parteispitzen haben den direkten Kontakt zu denen, die auf die Wahllisten gehievt werden. Aus vielen parteiinternen Treffen oder auch aus persönlicher Verbundenheit kennen sie ihre „Schäfchen“. So sind allein sie in der Lage, aufgrund eigenen Urteils eine Auswahl unter ihnen zu treffen. 

Dieses Urteil ist in der Regel parteiideologisch getrübt. So „(wird) der Abgeordnete … nicht als eine von seinen Wählern respektierte Persönlichkeit, ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit, in das Parlament gewählt. Er erfährt Zustimmung oder Ablehnung im Wesentlichen als Kandidat und Repräsentant seiner Partei“ (Hans Apel). 

Die Anonymität der Wahlkandidaten wird im Falle Deutschlands zusätzlich befördert durch die sogenannte Zweitstimmenregelung. Hier haben die Wähler nun gar keine Möglichkeit mehr, einzelne Personen auszusuchen. Nur politische Parteien als anonyme Machtblöcke stehen zur Wahl. Sich zwischen ihren Programmen zu entscheiden, erinnert an das Tun eines Kindes, das beim Osterfrühstück mit dem Finger auf eines der bunten Eier tippen darf. 

Nicht nur die Methode, Parteien und deren Leute auf die Listen zu setzen, dokumentiert den anonymen Charakter der Wahl. Auch jene Personen, die als Listenerste im Scheinwerferlicht der Medien stehen und somit einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen, bleiben für die weitaus meisten Wähler anonym. Sie werden mittels einer Art Waschmittelwerbung bekannt gemacht. Ihr Gesicht und ihre Äußerungen sind für den öffentlichen Auftritt zurechtgeschminkt. Von ihrem wahren Leben, ihren persönlichen Einstellungen, ihren Vorlieben und Abneigungen erfährt das Wahlvolk nichts. Sie werden sogar bewusst vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. – Selbst ein einigermaßen entwickeltes Kommunikationszeitalter ist nicht davor gefeit, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen geheime Soziotope entstehen. Früher, als sie noch nobler waren, nannte man sie „Logen“.

Höchstrichterliche Urteile zeigen: Selbst Verfassungsjuristen glauben, dass kandidatengebundene Listenwahlen Unmittelbarkeitscharakter haben. Der Begriff „Unmittelbarkeit“ in Bezug auf politische Wahlen hat offenbar auch bei ihnen einen ganz neuen Sinn erhalten. Der Begriff, bezogen auf das heutige Wahlrecht, wird offensichtlich auf allen gesellschaftlichen Ebenen sachfremd verwendet. 

Mit der Offenheit des Entscheidens in anderen Lebensbereichen, z. B. bei der Warenauswahl auf dem Markt, hat der Unmittelbarkeitsbegriff der kandidatengebundenen Listenwahl nichts zu tun. Für die Wählerbasis bleiben die Kandidaten anonym. Auf dem Markt haben selbst bei Katalog- oder Digitaleinkäufen die Entscheider das Recht, nach unmittelbarem Kontakt mit der Ware den Kauf sofort rückgängig zu machen. In der Politik haben sie dieses Recht, wenn überhaupt, dann erst wieder nach Jahren. Dann ist es für die Korrektur falsch getroffener Entscheidungen meistens zu spät (siehe Atomausstieg in Deutschland).

Die Dunkelheit um das Leben und Denken derjenigen, die zu wählen sind, ist der schlimmste Feind einer freiheitlich beabsichtigten Personenauswahl. Sie führt zu erheblichen Fehlleistungen bei der Lieferung kollektiver (der sogenannten „öffentlichen“) Güter. Sie lädt zu Betrügereien geradezu ein. Wir sehen das immer wieder bei allfälligen Wahlfälschungen. Eine kandidatengebundene Listenwahl ist nicht korruptionsresistent. 

Politische Wahl als Blindekuhspiel für kalendarisch Erwachsene

Die Anonymität der Wahlkandidaten und damit ihre Ferne vom Volk ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die die politische Wahl ernst nehmen und sie im Sinne einer echten Entscheidung praktizieren wollen. In dieser Hinsicht erscheinen besonders die Wahlen zum europäischen Parlament als völlig bizarr. 

Eine Menschengruppe, die auf die übliche Art politisch wählt, entscheidet blind. Sie entscheidet nicht vernunftgerecht, sondern gläubig. Wen sie als Kandidaten zur Auswahl hat, entscheiden andere. Die meisten Menschen leben in der offenbar unausrottbaren Überzeugung, ihre Obrigkeit aufgrund souveräner Entscheidungen ins Amt zu befördern. Sie verkennen, dass auf dem Wege der kandidatengebundenen Listenwahl eine freiheitskompatible Sozialstruktur prinzipiell nicht entstehen kann. Die Wahl kann immer nur einen weitgehend anonymen Parteienstaat oder ihm ähnliche Gebilde hervorbringen. Eine „Elite“ ist am Ende zwar da, aber nicht eigentlich gewählt und wohl auch deshalb in einem beklagenswerten Zustand. Jeder kann sich ausmalen, was dies in Bezug auf die Legitimität der sogenannten „Parlamentarischen Demokratie“ bedeutet. Darüber wird bis dato nicht öffentlich diskutiert.

Das Wählen in Form einer kandidatengebundenen Listenwahl ist ein Blindekuhspiel für Leute, die ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben, also für kalendarisch Erwachsene. Die Wahl verdummt den „Souverän“ zum Kreuzchenmaler auf einem vorgefertigten Formular. Sie gesteht den Wählern „Entscheidungsrechte von unüberbietbarer Primitivität zu. Sie fordern ihnen ein Wahlverhalten ab, das dem Lallen eines Kindes gleicht“ (Gustav Horn). Jeder Wähler ist nichts anderes als der „nützliche Idiot an der Wahlurne“ (Hermann Scheer). 

Für diese Art des Wählens spielt es in der Tat keine Rolle, ob das Wahlalter auf 18, 16 oder gar 14 Jahre festgelegt wird. Eine erregte Diskussion über das Herabsetzen des Wahlalters, so wie sie momentan wieder geführt wird, ist vor dem Hintergrund des Anonymitätsproblems geradezu lächerlich.

Wo das Auszuwählende unbekannt ist, degeneriert das Wählen zum bloßen Tippvorgang. Es besteht die Gefahr einer Negativauswahl. Hier gelangt nur zufällig Professionalität an die Spitze. Der Beweis dafür, dass bei Parlamentswahlen vor allem Minderwertiges an die Macht kommt, ist die nicht abreißende Kette politischer Skandale und das offensichtliche Versagen der Gewählten bei Entscheidungen von existentieller Bedeutung. Schon mancher hat das Qualitäts- und Kompetenzdefizit derzeitiger Politik beklagt. Dass die Wahlmethode das Defizit mitverantworten könnte, erscheint Vielen immer noch als befremdlich.

Auswirkungen der Anonymität einer Wahl

Die Anonymität bei politischen Wahlen zeigt sich unter anderem auch im Sprachgebrauch. Die Wahlkandidaten verstecken sich hinter nichtssagenden Redefloskeln. Sofern sie den Bürgern bei ihren „Wahlkämpfen“ nicht überhaupt mit einer Kindergartensprache begegnen, pflegen sie einen extraordinären Kommunikationsstil. Colin Crouch diagnostiziert einen regelrechten Verfall politischer Verbalität: „Wir haben uns daran gewöhnt, dass Politiker nicht wie normale Menschen sprechen, sondern aalglatte, ausgefeilte Statements von sich geben, die einen ganz eigenen Charakter haben.“ Außerdem: Welche Partei spielt so klangtreu, dass man sie gern hören mag?

Die kandidatengebundene Listenwahl ist keine Auswahl im natürlichen Sinne. Sie verunmöglicht das Eigentliche an der Wahl, nämlich ein Entscheiden aufgrund umsichtiger Prüfung und Bewertung. Die den Bürgern einzig verbleibende Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, gerät zur stupiden Akklamation. Jeder Gemüseeinkauf auf dem Wochenmarkt verlangt ihnen mehr Verstand und Urteilskraft ab, als der Gang zur Wahlurne, mit einer Liste in der Hand. Wahlkabinen sind insofern nichts weiter als „demokratische Bedürfnisanstalten“ (Andreas Tögel). Die darin enthaltenen Abwurfgefäße verströmen einen unangenehmen Geruch. Deshalb unterdrücken immer mehr Menschen ihre Bedürfnisse. Sie meiden solche „Örtchen“. 

Abschließend lässt sich sagen: Weder die drei Menschenrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit sind bei den in der Politik üblichen Wahlmethoden berücksichtigt, noch ist das Anonymitätsproblem gelöst. Damit fallen die vier tragenden Säulen des staatlichen Wahlrechts (Art. 38/1 GG) in sich zusammen. 

Weil die Menschen freie Wahlakte durchaus kennen, und zwar aus ihren alltäglichen Erfahrungen am Markt, ist zu vermuten, dass sie sich einen menschenwürdigeren Stil politischer Abläufe wünschen, jedenfalls einen anderen als den, welchen die kandidatengebundene Listenwahl kultiviert. An anderer Stelle komme ich darauf zurück.

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2 Kommentare. Leave new

  • Thomas Doll
    5. März 2024 10:12

    Guten Tag Herr Eckardt,

    schon Ihren Beitrag „Ein eklatanter Widerspruch“ habe ich sehr erfreut gelesen, habe ich doch in meinem Bekanntenkreis oftmals über Wahlen Diskussionen, worauf manchmal tatsächlich solche unmöglichen wie dummen Aussprüche folgen wie, dann geh’ doch rüber (womit sie eine Diktatur in Russland meinen), wenn es Dir hier nicht gefällt. Vielen ist ihre eigene Wahlhandlung nicht einmal bewusst, weshalb es sich nur schwerlich diskutieren lässt. Ich persönlich habe seit 1998 aufgegeben zu hoffen, dass sich durch meine Wahlhandlung irgendetwas bessern würde. Im Gegenteil. Es wurde nur schlimmer.

    Insofern fand ich Ihre Sprache, die eingesetzten Begriffe und Zitate sehr verständlich. Ihr heutiger Artikel stimmte mich zumindest ein wenig zuversichtlicher in den Tag. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, wie eine Lösung aussähe und man einen “nützlichen Idioten” zum besseren Verständnis führe und ob ihnen “der Gemüseeinkauf auf dem Wochenmarkt” mehr abverlangt. Daran zweifle ich manchmal.

    Das findet sich allerdings seit Corona vermehrt gesellschaftlich wieder. Der Wille zum Verstehen und die wohlmeinende Gesprächskultur sind abhanden gekommen.

    Mit den besten Grüßen und Wünschen
    Thomas Doll

    Antworten
    • Dietrich Eckardt
      7. März 2024 19:28

      Lieber Herr Doll
      Sie fragen nach einer “Lösung”. In meinem Buch “Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft” bemühe ich mich darum. Das Buch erscheint aber erst im Herbst d. J. wieder (in einer stark überarbeiteten Fassung). Wenn Sie mir Ihr Email-Adresse überlassen, sende ich Ihnen vorab die einschlägigen Abschnitte.
      Beste Grüße Eckardt

      Antworten

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