Künstler: The Buggles
Song: Video Killed the Radio Star – veröffentlicht auf dem Album „The Age of Plastic“ (Island Records, 1979)
„Ladies and gentlemen – rock and roll!“ – Mit diesen Worten begann am 1. August 1981 eine der größten Revolutionen der Musikgeschichte: MTV ging erstmals auf Sendung – und sprengte die bisherigen Grenzen der Musikindustrie.
Zwar war es nicht der erste Musiksender überhaupt, doch als erster, der rund um die Uhr ausschließlich Musikvideos zeigte, wurde er auf Anhieb zur führenden Plattform und übertraf alle Erwartungen. Musik wurde nicht mehr nur gehört, sondern in einer völlig neuen, visuellen Dimension erlebt. Diese Freiheit der Darstellung machte sie zu einer umfassenderen Kunstform – einem Gesamtkunstwerk, das weit über Plattenläden und Radiowellen hinausging und Künstlern völlig neue Möglichkeiten eröffnete.
Die Wahl des ersten auf MTV ausgestrahlten Musikvideos fiel auf „Video Killed the Radio Star“ von der britischen Band The Buggles – eine Entscheidung, die alles andere als zufällig war. Der Song thematisierte den Wandel von alten zu neuen Medien und spiegelte damit perfekt die Vision des Senders wider. Zudem wurde das Video bereits bei der Veröffentlichung der Single 1979 professionell produziert und erfüllte die technischen Anforderungen des neuen Formats. Auch strategische Überlegungen spielten eine Rolle: The Buggles waren bei Island Records unter Vertrag, einem einflussreichen Label mit engen Verbindungen zu weiteren Unternehmen in der Musikindustrie, die alle ein Interesse an MTVs Erfolg hatten. Obwohl der Track zu diesem Zeitpunkt kein aktueller Hit mehr war, machte ihn seine Bekanntheit und die symbolische Aussage zum idealen Auftakt.
Fast schon prophetisch zeigte sich dabei der Songtext, denn während 1981 die Auswirkungen des Musikfernsehens noch überschaubar waren, sollte sich in den kommenden Jahren zeigen, wie tiefgreifend es die Musikwelt verändern würde – und wie zutreffend der Text letztlich war:
Video killed the radio star
We can’t rewind, we’ve gone too far
Pictures came and broke your heart
Put the blame on VCR
Für alle, die – wie ich – in einer Zeit aufgewachsen sind, in der Musikfernsehen bereits eine Selbstverständlichkeit war, fühlte sich der erste Gedanke daran, dass es einmal anders war, fast unvorstellbar an. Denn: Wie funktionierte die Musikindustrie dann eigentlich, bevor es das Fernsehen gab? Wie entdeckten Menschen damals neue Künstler? Wie wurde Musik beworben, verbreitet und erfolgreich gemacht? Wie war Musik ganz ohne die visuelle Ebene – ohne die Möglichkeit, sich als Künstler durch Bildsprache und Ästhetik auszudrücken – allein durch Tonträger, Live-Auftritte und das Radio? Ein Blick zurück in diese Zeit offenbart, wie grundlegend sich die Mechanismen der Branche durch das Musikfernsehen damals verändert haben.
Vor der Einführung von MTV führte für Musiker nur ein Weg zum Ruhm: Ein Vertrag mit einer großen Plattenfirma, die wiederum Sendezeit bei den führenden Radiosendern sicherte. Radio war das dominierende Medium – gelegentliche TV-Auftritte spielten nur eine untergeordnete Rolle, da Musiksendungen noch selten waren. Dies machte den Zugang zu einem breiten Publikum zu einem langwierigen, schwierigen und oft willkürlichen Prozess, bei dem nur wenige die Chance auf echten Erfolg erhielten.
Das Musikgeschäft war von intransparenten Deals geprägt. Plattenfirmen und Radiosender trafen Absprachen, die oft wenig mit künstlerischer Qualität zu tun hatten: Ein Sender erhielt etwa die exklusive Premiere eines Superstar-Hits – und bekam somit Prestige – musste dafür aber auch Songs weniger bekannter Künstler ins Programm nehmen. Solche Deals waren Gang und Gäbe und wurden nicht selten durch finanzielle Anreize, Bestechung oder sogar Korruption begünstigt – alles nur, um ein wenig Sendezeit zu sichern!
Independent-Künstler, die viel Geld in die Hand nahmen, um eine Eigenproduktion zu finanzieren, die Demos auf Kassetten aufnehmen ließen und diese massenhaft an Radiosender verschickten, wurden nahezu immer enttäuscht und fanden kaum Gehör. Selbst Künstler, die ein Label fanden, aber dessen Verhandlungen mit den Sendern nicht erfolgreich waren, verschwanden schnell in der Bedeutungslosigkeit.
Mit dem Aufkommen von MTV veränderte sich dies grundlegend. MTV bot eine Plattform, auf der Musiker auch völlig unerwartet Erfolg haben konnten – „ganz aus Versehen“, selbst wenn ihr Label kaum in Promotion investierte. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind A-ha, die 1985 mit dem animierten Video zu „Take on Me“ weltweit berühmt wurden. Auch Guns N’ Roses erlebten 1987 einen plötzlichen Durchbruch, als das Musikvideo zu „Welcome to the Jungle“ sie unerwartet ins Rampenlicht katapultierte.
MTV war somit weit mehr als nur ein neuer TV-Sender – es revolutionierte die Art und Weise, wie Musik vermarktet und konsumiert wurde. Ein Musikvideo war nicht länger nur ein optionales, zusätzliches Marketing-Tool für die größten Stars, sondern wurde zunehmend zu einem festen Bestandteil der Single-Veröffentlichung. Und es machte das Musikbusiness kreativer: Videos entwickelten sich zu eigenständigen Kunstwerken, die nicht nur die Ästhetik eines Songs unterstrichen, sondern auch das Image eines Künstlers formten.
Die ersten Musikvideos folgten größtenteils Mustern, die auf der Hand liegen: Sie zeigten die Bands und Sänger beim Musizieren, bei der Aufnahme im Studio oder setzten auf einfache Performance-Szenen. Doch bald begannen Künstler, die Grenzen zu sprengen.
Bon Jovi, Genesis, The Police – sie alle, bzw. deren Manager, verstanden schnell, dass das Video mehr sein konnte als nur die visuelle Darstellung eines Songs. Sie erschufen eigene Welten, die die Musik und das Image des jeweiligen Interpreten in neue Dimensionen hoben.
Manche Videos erzählten Geschichten, die sich in puncto Inhalt mit der Musik zu einem größeren Bild verbanden. Andere, wie das Video zu „Like a Prayer“ von Madonna, waren von provokant eingesetzten religiösen und kulturellen Symbolen durchzogen, was das Video zu einer riesigen Diskussionseinladung machte. Es gab Clips, die eine eigene künstlerische Ebene entfaltet haben, wie „Sledgehammer“ von Peter Gabriel, dessen Stop-Motion-Techniken und surrealen Bilder eine eigene Geschichte erschufen.
Es wurde immer freier, immer kreativer: Es gab irgendwann Künstler, die mit Zeit und Raum spielten – die beispielsweise Aufnahmen rückwärts abspielten oder sich in visuelle Rätsel verwandelten, bei denen der Song nur den Hintergrund für ein abstraktes Meisterwerk bildete.
Das berühmt-berüchtigte Musikvideo zu „Thriller“ von Michael Jackson, das teuerste Musikvideo aller Zeiten, verwandelte sich in einen cinematischen Kurzfilm. Allein die Veröffentlichung dieses Videos wurde zu einem riesigen Event, das weltweite Schlagzeilen machte und die Musikvideokultur nachhaltig prägte.
Doch bei all dem Positiven war die Kehrseite der Medaille der Druck, dem die Plattenfirmen und ihre Künstler fortan ausgesetzt waren. Denn wer kein beeindruckendes Video hatte, konnte sich bald schon kaum mehr Gehör verschaffen. Wer es auf MTV schaffte, hatte die Chance auf weltweiten Ruhm – doch wer außen vor blieb, verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Die Labels investierten daher zunehmend Unsummen in die Produktionen der Clips; die Abhängigkeit von MTV und der visuellen Präsentation veränderte das Musikgeschäft an diesem Punkt komplett. Es war ein ständiger Wettlauf um Innovation und finanzielle und technische Mittel – und nicht jeder Künstler konnte oder wollte sich diesem Druck fügen.
MTV begann als Revolutionär, der alte Strukturen aufbrach und Künstlern neue Freiheiten bot – doch mit der Zeit wurde der Sender selbst zum System, das er einst herausforderte. Die Kontrolle über das Programm lag zunehmend in den Händen der Musikindustrie, und an die Stelle kreativer Vielfalt traten irgendwann formelhafte Inszenierungen und kalkulierte Vermarktungsstrategien. Was einst Künstler befreite, wurde für viele zu einem neuen Käfig.
Doch kein Imperium hält ewig: Bedrohliche Konkurrenz bekam MTV zwar nie. Mit dem Aufstieg des Internets und neuer Plattformen wie Youtube verlor der Sender aber nach und nach seine zentrale Rolle in der Musiklandschaft. Künstler mussten nicht länger auf die Gunst eines Senders hoffen – sie konnten ihr Publikum direkt erreichen. So wie MTV einst das alte Musikgeschäft entthronte, wurde es schließlich selbst gestürzt, überholt von einer noch größeren Welle digitaler Unabhängigkeit.
Mit dem Wissen um diese Entwicklung von 1981 bis heute klingt „Video Killed the Radio Star“ fast wie eine erfüllte Prophezeiung. Und obwohl die Karriere der Buggles nur von 1977 bis 1981 dauerte und sie lediglich zwei Alben veröffentlichten, hinterließen sie mit ihren Hits – und besonders mit der Premiere des ersten Musikvideos auf MTV – einen bleibenden Eindruck in der Musikgeschichte. Nach der Auflösung der Band gingen die Mitglieder ihre eigenen Wege, blieben jedoch musikalisch aktiv. Besonders Frontmann Trevor Horn machte sich interessanterweise als erfolgreicher Musikproduzent einen Namen und prägte den Sound der 1980er-Jahre. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen unter anderem „Relax“ von Frankie Goes to Hollywood und „Slave to the Rhythm“ von Grace Jones.