Ausgrenzung mit Geschichte

«Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus» – wie schön das klingt! Wir leben in einer repräsentativen, demokratischen Republik.

Republik, weil wir keinen Monarchen mehr haben, Kaiser Wilhelm oder König Ludwig von Baiern kennen wir nur noch aus den Geschichtsbüchern. 

Repräsentativ ist diese Staatsform, weil in Deutschland die Wahlbürger zwar nach Artikel 20 Grundgesetz zu Wahlen und Abstimmungen aufgerufen sind, Wahlen finden in der Regel aber nur alle vier bis sechs Jahre statt. Abstimmungen kennt Deutschland fast ausschliesslich auf der kommunalen Ebene, Stichwort «Bürgerentscheid». Initiativen oder Referenden des Stimmvolkes, wie in der Schweiz üblich, sind nicht vorgesehen. 

Demokratie bedeutet die grundlegende Ausrichtung des Staatswesens auf die Volkssouveränität. Wenn aus freien, gleichen und geheimen Wahlen ein neuer Bundestag gewählt ist und dieser sich konstituiert hat, dann sind die Wähler darauf angewiesen, dass die abgegebene Stimme entsprechend dem Stimmgewicht im Parlament repräsentiert wird. 

Das war es dann auch schon. 

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsenden Sie die von Ihnen gewählten Bundestagsabgeordneten in das Parlament, was hinter den Mauern des Bundestages passiert, geschieht – mit Ausnahme der Gesetzgebung – weitgehend im Rahmen des sogenannten «Selbstorganisationsrechts» des Parlaments. Die Geschäftsordnung des Bundestages wird vom Bundesverfassungsgericht auf die Bedeutung einer Satzung herabgestuft, die verfassungsrechtliche Prüfungsdichte verdient dadurch ihren Namen nicht mehr. «Willkür» ist der letztlich verbliebene Prüfungsmaßstab. 

Das Ansehen des ganzen Landes

Es ist nach den jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Fraktion der AfD keine Ausschussvorsitzenden mehr stellt und noch nie einen Bundestagsvizepräsidenten. Die Ablehnung sei nicht «willkürlich», weil die Sorge besteht, dass mit Rechtsanwalt Stephan Brandner als Vorsitzendem des Rechtsausschusses das Ansehen des Parlaments in Gefahr gerät und bei Bundestagsvizepräsidenten wie Gerold Otten, Oberst der Reserve, oder Gereon Bollmann, ehemals Richter am Oberlandesgericht Schleswig, das Ansehen Deutschlands in der Welt in Gefahr geriete. 

Der Bundestagspräsident ist protokollarisch tatsächlich die «Nummer Zwei» im Staate, nach dem Bundespräsident. Der Aufgabenzuschnitt der Bundestagspräsidenten ist jedoch ganz überwiegend organisatorischer Natur. Seine Repräsentationsaufgaben beschränken sich auf die Aussendarstellung des Bundestages. Bei Verhinderung im Amt wird der Bundespräsident nämlich durch den Bundesratspräsidenten vertreten. Das schreibt Artikel 57 Grundgesetz vor. 

Die Nichtwahl der Kandidaten, der zwischenzeitlich größten Oppositionspartei, wird im Ergebnis mit deren Parteizugehörigkeit begründet. Die AfD hat in der politischen Wirklichkeit des Bundestages den Status eines Aussätzigen, eines «Parias» – ist diese Blockadehaltung nicht willkürlich? 

Leistungsausweis vs. Parteizugehörigkeit 

Willkür im rechtlichen Sinne ist eine Entscheidung oder Handlung, die ohne sachliche Grundlage, unverhältnismäßig oder offensichtlich unvernünftig ist und damit gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstößt. Gleiches darf nicht wesentlich ungleich behandelt werden. 

Werfen wir einen Blick auf den Leistungsausweis der amtierenden Bundestagspräsidenten und Vizepräsidenten: 

Julia Klöckner, CDU, Volljuristin arbeitete vor ihrer politischen Karriere als Journalistin, u.a. als Redakteurin beim Weinwirtschaft-Magazin, seit 2002 im Deutschen Bundestag. Berühmt wurde Frau Klöckner 1994 als Nahe-Weinkönigin und 1995/1996 als Deutschen Weinkönigin. 

Andrea Lindholz, CSU, Rechtsanwältin, seit 2009 Abgeordnete.

Josephine Ortleb, SPD, Restaurantfachfrau, Fachwirtin im Gastgewerbe, seit 2017 im Bundestag.

Omid Nouripour, Bündnis 90/ Die Grünen, diverse Studiengänge ohne Abschluss, freier Journalist u.a. für taz und Frankfurter Rundschau, seit 2006 im Bundestag.

Bodo Ramelow, Die Linke, Einzelhandelskaufmann, Gewerkschafter, 2005 bis 2009 im Bundestag, 2014 bis 2024 Thüringer Ministerpräsident, 2025 als Nachfolger von Petra Pau gewählt. 

Der Leistungsausweis eines Obersts der Reserve oder eines Richters am Oberlandesgericht wiegt für die Parlamentsmehrheit weniger als die Parteizugehörigkeit. Auf die Idee, dass man der Demokratie die Ehre erweist und auch die Bewerber der AfD-Fraktion wählt und notfalls wieder «abwählt», wenn sie das Amt in irgendeiner Weise «missbrauchen» würden, kommen die Mehrheitsparlamentarier nicht, sie stehen fest an der sogenannten «Brandmauer». 

Der «Otto-Wels-Saal» und effektive Opposition 

Die Zuweisung der Räumlichkeiten für die Fraktionssäle ist ein weiteres Ärgernis: Die Fraktion der SPD hatte in der letzten Wahlperiode 207 Abgeordnete jetzt nur noch 120 MdBs. Der Otto-Wels-Saal bringt es auf 462 Quadratmeter, womit die SPD es rechnerisch auf 3,85 Quadratmeter pro Abgeordnetem bringt. 

Die AfD-Fraktion hatte in der letzten Wahlperiode 76 Abgeordnete, jetzt in verdoppelter Stärke der Fraktion mit 151 Abgeordneten auf 251 Quadratmeter 1,66 Quadratmeter pro MdB. Die Abweichung zu Gunsten der SPD beträgt mehr als das Doppelte, rechnerisch 232 Prozent. Würden Sie sagen, das ist Willkür? 

Das Recht auf effektive Opposition ist ein zentraler Bestandteil der parlamentarischen Demokratie und beschreibt die Möglichkeit der Opposition, ihre politische Rolle wirksam wahrzunehmen. Es umfasst die rechtlichen, organisatorischen und praktischen Voraussetzungen, die sicherstellen, dass die Oppositionsparteien im Parlament die Regierung kontrollieren, kritische Debatten führen und alternative politische Positionen entwickeln sowie öffentlich vertreten können. 

Dieses Recht ist nicht explizit im Grundgesetz (GG) verankert, wird aber aus den Prinzipien der Demokratie (Artikel 20 GG) und dem freien Mandat der Abgeordneten (Artikel 38 GG) abgeleitet. Hierzu gehört auch der Zugang zu Ressourcen, wie finanziellen Mitteln, Büros, Personal und Räumlichkeiten. 

Verfassungsgericht mit «spitzen Fingern» 

Die fortwährende Beschneidung einer Fraktion in ihrer parlamentarischen Mitwirkung stellt die Demokratie und die Justiz vor ein wiederkehrendes Problem, das im Karlsruher Schlossbezirk bisher nur mit «spitzen Fingern» angefasst wird. Das Gericht will sich aus den Interna des anderen Verfassungsorgans heraushalten. Das Bundesverfassungsgericht legt den Prüfungsmaßstab von Willkür und Verstoß gegen grundlegende Verfassungsprinzipien an. 

Artikel 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an die verfassungsmäßige Ordnung. Zu dieser verfassungsmäßigen Ordnung gehört auch das Verfassungsgewohnheitsrecht und die sogenannten «parlamentarischen Usancen», also das, was man seit Generationen und Jahrzehnten in ständiger parlamentarischer Übung und in einem grundlegenden parlamentarischen Konsens gepflegt hat – eine Akzeptanz und Beteiligung der in das Parlament gewählten Parteien, weil das Leben als Bundestagsabgeordneter kein Selbstzweck ist, sondern der Ausübung des Wählerwillens zu dienen hat. 

Wenn der Wählerwille die Beteiligung einer Partei mit mehr als 1/5 der abgegebenen Stimmen dem Parlament vorschreibt, dann zeigt der Umgang im Bundestag mit der AfD-Fraktion, dass sich die große Einheits-Partei aus CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken von den Grundwerten der repräsentativen Demokratie entfernt haben. Dabei sind sie zu Teilen Wiederholungstäter: 

Von ihrem Einzug in den Bundestag im Jahr 1983 musste die Fraktion der Grünen bis 1994 warten, bis ihr mit Antje Vollmer nach 11 Jahren Parlamentszugehörigkeit erstmals ein Bundestagsvizepräsident zugestanden wurde. 

Bei der SED-Nachfolgepartei «PDS/Die Linke» verhielt sich die Parlamentsmehrheit ähnlich: 1990 zog die PDS in den Bundestag ein. Erstmals 2006 wurde mit Petra Pau eine Bundestagsvizepräsidentin gewählt. Es gingen 16 Jahre ins Land. 

Die AfD ist seit 2017 im Bundestag vertreten. In über 50 Wahlgängen wurden alle von ihr vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt eines Bundestagsvizepräsidenten nicht (!) gewählt. Wenn sie das Schicksal der Grünen teilt, kann sie frühestens 2028 auf einen Vizepräsidenten hoffen, andernfalls erst 2033. 

Vielleicht erkennen die Abgeordneten der angeblich so «demokratischen Mitte» ihren Irrtum früher. 

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