2024 lesen wir auf X und in anderen sozialen Medien viel über die RKI-Files und im Zusammenhang damit über die Aufarbeitung der Zeitspanne, in der Zwangsmaßnahmen mit Corona begründet wurden. Viele verlangen eine solche Aufarbeitung jetzt, einige wollen gar „Handschellen klicken“ hören.
Für „Austrians“ ist seit Jahrzehnten, ja seit noch viel Längerem „Corona“, aber eben nicht eingeschränkt auf den Bereich von Zwangsmaßnahmen, die medizinisch begründet werden, sondern auch im Hinblick auf zahlreiche andere Lebensbereiche, in denen uns institutionalisierter und systematischer Zwang gegen friedliche Menschen tagtäglich begegnet.
Bereichsskepsis – Kritik der Interpretation von Daten durch „Experten“
Mittlerweile misstrauen einige der Interpretation von Daten im Hinblick beispielsweise auf Corona-Zwangsmaßnahmen, aber auch betreffend Zwangsmaßnahmen, die mit einem vorgeblich vorwiegend menschengemachten Klimawandel begründet werden. Dieselben Leute zeigen jedoch keine Skepsis betreffend wohlfeile Narrative, welche etwa wirtschaftliche Interventionen des Staates betreffen, die Notwendigkeit eines Zwei-Prozent-Inflationsziels und einer Notenbank oder Schul- und Militärzwang. Dieselben Leute, die Zwangsmaßnahmen gegen friedliche Menschen wegen „Corona“ oder „Klima“ nunmehr ablehnen, weil sie beim subjektiven Interpretieren korrelierender Daten zu anderen Einschätzungen kommen als die Experten der herrschenden Meinung, kommen nicht auf die Idee, die Narrative, die der Legitimierung staatlichen Zwanges dienen, in anderen Bereichen anzuzweifeln.
Tiefer in den Kaninchenbau
Wer wissen möchte, wie tief der Kaninchenbau wirklich ist, kann beispielsweise bereits bei Dante Alighieri (1265 – 1321) beginnen, der um 1316 in seiner Schrift „De Monarchia“ feststellte, dass „Demokratien, Oligarchien und Tyranneien“ die „Menschen zu Sklaven machen“, wenn sie nicht wie „richtige Staatsverfassungen … die Freiheit“ beabsichtigen, „das heißt, dass die Menschen ihrer selbst wegen da sind.“
Methodenstreit
Ich will hier aber nicht noch weiter zurückgehen, sondern auf den Methodenstreit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinweisen, der zwischen der Deutschen Historischen Schule und der Österreichischen Schule der Nationalökonomie ausgetragen wurde. Auf der Seite der Deutschen standen prominent Gustav Schmoller (1838 – 1917) und Werner Sombart (1863 – 1941), auf der Seite der Österreicher Carl Menger (1840 – 1921) und Ludwig von Mises (1881 – 1973).
Bei diesem Streit ging es insbesondere darum, mit welcher wissenschaftlichen Methode man Licht ins Dunkel bringen kann betreffend komplexe historische Phänomene, im Speziellen ging es um die Nationalökonomie, und wie „sicher“ das – abhängig von der Methode – gewonnene Wissen ist.
Während die Vertreter der Deutschen Historischen Schule meinten, man könne – ebenso wie bei den Naturwissenschaften – aus korrelierenden Erfahrungstatsachen mehr oder weniger theorielos auf kausale Zusammenhänge schließen, wiesen die Österreicher dies strikt zurück. Sie stellten die Wissenschaft von der Gesellschaft auf ein theoretisches Fundament: die Handlungslogik, Ludwig von Mises nannte sie auch Praxeologie.
Solche komplexen historischen (Letzteres bedeutet: nicht-wiederholbar) Phänomene sind etwa der Gang des Erdklimas oder der Verlauf von Krankheitswellen, aber auch die Volkswirtschaft oder die Menschheitsgeschichte, denn all diese Phänomene lassen sich nicht unter gleichen Bedingungen wiederholen und – anders als in den klassischen Naturwissenschaften – gibt es keine isolierbaren konstanten Zusammenhänge zwischen messbaren Größen. Deshalb gab es beispielsweise in der sogenannten „Corona-Zeit“ unterschiedliche, ja zuweilen gegensätzliche Einschätzungen der Experten was Ansteckung betraf oder Gefährlichkeit, Aussagefähigkeit der PCR-Tests, ob Menschen „mit“ oder „an“ Covid19 gestorben sind, Impfung, Lockdowns, Abstandsregeln, Masken – und so weiter. Das ist kein Bug, also kein Fehler der Methode des subjektiven Interpretierens komplexer historischer Phänomene, sondern es ist ein Feature, also eine charakteristische Eigenschaft.
Der US-Ökonom Frank Hollenbeck fasste es wie folgt schön zusammen:
„Komplexe Phänomene […] haben einige oder viele nicht messbare oder nicht beobachtbare Faktoren oder Variablen, deren Einflüsse und Wechselwirkungen variieren können. Daher ist es unmöglich, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen, um die Einflüsse der einzelnen Faktoren zu isolieren. Dies schränkt den Wert empirischer oder historischer Erkenntnisse über komplexe Phänomene stark ein, da es unmöglich ist, zwischen Verursachung und Auftreten-zusammen-mit zu unterscheiden.
Diese Komplexität führt zu einer wichtigen Schlussfolgerung: die Anerkennung der Begrenztheit des Wissens …“
Mit der Methode des subjektiven Interpretierens korrelierender Daten aus komplexen historischen Phänomenen lassen sich letztlich nur persönliche Einschätzungen erlangen, und es lässt sich bei weitem nicht diejenige „Sicherheit des Wissens“ erlangen, wie wir sie etwa von den klassischen Naturwissenschaften kennen oder gar von den apriorischen Wissenschaften wie der Mathematik, der Logik und der Handlungslogik.
Die Österreichische Schule hätte aus dem Methodenstreit aus wissenschaftlichen und moralischen Gründen zwar als der Sieger hervorgehen müssen, wie der US-Ökonom Jonathan Newman schreibt:
„Der moralische Bankrott, der politische Ruin, das erkenntnistheoretische Durcheinander und das akademische Scheitern der Deutschen Historischen Schule hätten zu einem vollständigen Aussterben ihrer Ideen führen müssen …“
Aber es kam ganz anders: Die Deutsche Historische Schule wurde zur herrschenden Meinung. Denn sie lässt sich hervorragend für politische Zwecke einspannen, insbesondere für einen Zweck, den Franz Oppenheimer (1864 – 1943), der Doktorvater Ludwig Erhards (1897 – 1977), als „Legitimismus“ bezeichnete, also die vorgebliche „Rechtfertigung“ staatlichen Zwanges gegen friedliche Menschen.
Handlungslogik und Recht
Recht kann dem Handeln nicht vorausgesetzt sein, sondern entsteht erst durch Handeln. Recht im handlungslogischen Sinne heißt, dass aus einer freiwilligen Verpflichtung des einen für den anderen eine Forderung erwächst oder eben ein Recht. „Aufgezwungenes Recht“ ist handlungslogisch nicht Recht, sondern Unrecht aus der Perspektive des Betroffenen.
Es ist handlungslogisch etwas komplett Unterschiedliches im Hinblick auf das Zustandekommen ebenso wie im Hinblick auf die Folgen eines „Rechtes“, ob dieses vereinbart wurde oder ob einem friedlichen Menschen ein Übel angedroht oder zugefügt wird für den Fall, dass er sich dem Kommando desjenigen widersetzt, der behauptet, einseitig, also ohne Zustimmung der Betroffenen, Recht setzen zu können. Im ersteren Falle liegt ein Vertrag vor, im letzteren eine feindliche Handlung, eine Aggression.
Dabei spielt es handlungslogisch auch keine Rolle, wie groß die Gruppe derjenigen ist, die Zwang gegen friedliche Menschen ausübt, oder ob sie etwa in der Mehrheit sind. Wenn vier einen Fünften misshandeln, spielt es für die Beurteilung der Misshandlung als feindliche Handlung keine Rolle, dass 80 Prozent des gewähnten Kollektivs für die Misshandlung sind. Aus Zahl (quantitativ) kann Recht (normativ) nicht folgen.
Grafik aus „Der Kompass zum lebendigen Leben“ (Andreas Tiedtke), Layout Benjamin Mudlack
Der Philosoph Rolf W. Puster bezeichnet den Ansatz, demzufolge allein derjenige Zwang gerechtfertigt werden kann, dem jeder zugestimmt hat, als Kontraktualismus oder Zustimmungstheorie, und er schreibt:
„Dass die Zustimmungstheorie der Legitimität nur selten ernsthaft erwogen wurde, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie kein Einfallstor dafür bietet, staatlichen Zwang über die Köpfe der Zwangsunterworfenen hinweg für legitim zu erklären. Demgegenüber verrät die intellektuelle Energie, die bis auf den heutigen Tag in die Ersinnung wert- und normbasierter Legitimitätstheorien für staatliche Zwangsausübung geflossen ist, den etatistischen Bias einer langen Reihe von politischen Philosophen, die bei Platon beginnt und bei John Rawls nicht endet.“
Herrschaft an sich, also friedliche Menschen planmäßig und fortgesetzt zur Kooperation zu zwingen durch die Androhung von Übeln und letztlich die Anwendung von Gewalt, kann a priori schon deswegen nicht wissenschaftlich gerechtfertigt werden, weil es gibt keine normative Wissenschaft gibt. Wie Ludwig von Mises bereits sagte, kann Wissenschaft immer nur beschreiben, was ist, sie kann nie sagen, was sein soll. Sollen ist Wollen für andere.
Handlungslogik und Verteidigung bzw. Gefahrenabwehr
Der Versuch, mit der Methode der Deutschen Historischen Schule Zwangsmaßnahmen zu begründen, geht aber darüber hinaus, allgemein institutionalisierten Zwang gegen friedliche Menschen rechtfertigen zu wollen, sondern es ist der unterschwellige Versuch, Zwangsmaßnahmen in Verteidigung umzudeuten beziehungsweise in Maßnahmen der Gefahrenabwehr.
Wie Sie aus dem vorher im Zusammenhang mit dem Methodenstreit Gesagten bereits wissen, muss dies aus handlungslogischen und erkenntnistheoretischen Gründen aber scheitern, denn:
- Handlungslogisch liegt keine Verteidigung vor, sondern eine Aggression, wenn Zwang gegen friedliche Menschen eingesetzt wird und nicht bewiesen werden kann, dass der andere ein Angreifer ist beziehungsweise von ihm eine konkrete Gefahr ausgeht.
- Mit subjektiven Interpretationen und Modellierungen betreffend komplexe nicht-wiederholbare Phänomene lässt sich ein solcher Beweis a priori nicht erbringen.
- Die Zwangsmaßnahmen, zu deren „Rechtfertigung“ diese Modellierungen herangezogen werden, können mit diesen letztlich unbeweisbaren Narrativen eben nicht in Verteidigungsmaßnahmen à la „better safe than sorry“ umgedeutet werden, sondern es handelt sich bei den Zwangsmaßnahmen – aus handlungslogischer Sicht – um Aggressionen.
„Der Schläfer muss erwachen“
Die Methode der Deutschen Historischen Schule – der wirklich große Exportschlager Deutschlands, der vor allem im angelsächsischen Raum im 19. Jahrhundert große Verbreitung fand – ist für die Politik wie ein propagandistischer Wellnesstempel. Man sucht sich diejenigen Experten aus, die für den jeweiligen Bereich die opportunen Mutmaßungen anbieten, die den politischen Parteien gerade in den Kram passen. Und mit den gigantischen finanziellen Mitteln, die der Politik zur Verfügung stehen für „Die Wissenschaft“, also um die willfährigen unter den Experten zu bezahlen, und für Propaganda, wird sodann versucht, diese pseudo-wissenschaftlichen Mutmaßungen als State of the Art der Aufklärung zu verkaufen und damit Zwang gegen die Bürger zu legitimieren. Dabei handelt es sich nur um Popanz.
Der Schläfer muss erwachen, heißt es sinngemäß in Frank Herberts (1920 – 1986) Bestseller „Dune“. Denn wer nicht mitbekommt, was vor sich geht, wer es verschläft, der kann auch schlecht damit umgehen.
Aber es reicht eben nicht aus, nur in einem oder gewissen Bereichen aufzuwachen und in anderen Lebensbereichen weiter zu schlafen. So gibt es beispielsweise im Lager der Gegner der Corona-Zwangsmaßnahmen einige, die diese Zwangsmaßnahmen im Speziellen schlecht fanden, die aber kein grundsätzlicheres Argument dagegen finden können, als dass sie die Daten anders interpretiert hätten – oder dass nun rausgekommen sei, dass selbst die zuständige Fachbehörde, das Robert Koch Institut (RKI), die Daten intern nahezu von Anfang an anders interpretiert hat, als sie es in der Öffentlichkeit tat.
Letzteres ist natürlich nicht unwichtig, sagt es doch etwas über die Geisteshaltung der Beteiligten aus, aber es trifft eben nicht genau den Kern der Sache, nämlich dass mit der angewandten Methode des subjektiven Interpretierens von komplexen historischen Phänomenen Zwangsmaßnahmen weder gerechtfertigt, noch in Verteidigungs- oder Gefahrenabwehrmaßnahmen umgedeutet werden können.
Und ebenso ist dies beispielsweise im Lager der Gegner der Klima-Zwangsmaßnahmen. Und in beiden Lagern gibt es einige, die den Zwang, der mit den Corona- oder Klima-Narrativen gerechtfertigt werden sollte, ablehnen, die aber Zwang, der aufgrund sozialistischer oder – allgemeiner – etatistischer Narrative ausgeübt wird, für gut oder „gerechtfertigt“ halten, also wenn Zwang gegen friedliche Menschen beispielsweise ausgeübt wird zur Umverteilung oder um Renten und Pensionen zu finanzieren oder Straßenbau – und so weiter.
Das Bereichserwachen müsste sich zu einem umfangreichen Aufwachen einer ausreichend großen Anzahl von Menschen auswachsen, damit sich die gesellschaftlichen Umstände grundlegend ändern und Frieden einkehren kann. Aber scheinbar glauben viele, dass ihnen zwar betreffend diesen oder jenen Bereich (Corona, Klima etc.) die Unwahrheit erzählt wurde, aber in anderen Bereichen wird sich strikt an die Wahrheit gehalten.
Um mit Immanuel Kant (1724 – 1804) zu sprechen, müsste eine größere Anzahl der „Bereichserwachten“ den Mut fassen, auch in anderen Lebensbereichen mit alten „eingepflanzten Vorurteilen“ aufzuräumen, und sie müssten erkennen, dass sie auch diesbezüglich in einen geistigen „Gängelwagen“ gesperrt wurden.
In diesem Sinne: „Guten Morgen!“