Vor wenigen Tagen erschien auf Übermedien ein kritischer Artikel über den Scoop des Jahres: Correctiv hatte im Januar einen Geheimplan für Deutschland aufgedeckt. Die Autoren wagen sich ins Feindesland. Das ist ein Fortschritt, aber er dokumentiert gleichzeitig die Borniertheit eines journalistischen Milieus.
Am 11. Januar dieses Jahres veröffentlichte das ARD-Magazin Kontraste um 06:12 Uhr ein Interview mit Thomas Haldenwang. Es war Teil einer am gleichen Tag in die ARD-Mediathek gestellte Dokumentation über „Judenhass – unser Leben nach dem 7. Oktober”. Dort sprach der Präsident des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“ denkwürdige Worte: Man habe sich in Deutschland „in seinem komfortablen Privatleben eingerichtet“ und nehme „nicht hinreichend wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.” Sicherheitsbehörden könnten nur bedingt gegen die Gefahren für die Demokratie vorgehen. Er wünsche sich daher, „dass die Mitte der Gesellschaft, die schweigende Mehrheit in diesem Land, dass die wach wird und auch endlich klar Position bezieht gegen Extremismus in Deutschland”.
Einen Tag vorher erschien im Online-Magazin „Correctiv“ ein Artikel namens „Geheimplan gegen Deutschland“. Dort wurde über ein Treffen von Privatpersonen berichtet, die sich vermeintlich über die massenweise Ausweisung deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund Gedanken machten.
Durch die Nutzung des Stilmittels der Reportage wurde Authentizität vermittelt, sicherlich nicht zufällig an die örtliche Nähe zur berüchtigten Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 erinnert. Eine Woche später wurde der nicht mehr geheime Geheimplan vom Intendanten des Volkstheaters Wien, Kay Voges, als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble und dem Volkstheater in Berlin auf die Bühne gebracht. Dafür gab es den „Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis 2024“. Auch das Online-Magazin konnte sich über fehlende Auszeichnungen nicht beklagen. Es gab einen der Sparkasse Leipzig, der Carlo-Schmid-Stiftung und schließlich vor drei Wochen einen vom Netzwerk Recherche. Die Arbeit von Correctiv stehe „exemplarisch für den Wert und die Notwendigkeit von investigativem Journalismus“, sagte deren Vorsitzender Daniel Drepper, einer der Gründer des Online-Magazins. Selten habe eine einzelne Recherche „einen solchen Impact gehabt und uns allen gezeigt, wie wichtig diese Art von Journalismus für unseren demokratischen Diskurs ist.“
Vor Gericht implodiert
Diese Aussage lässt sich über den Live-Ticker von Correctiv empirisch überprüfen. Dort kommt auch Haldenwang vor, der wundersamerweise das forderte, was anschließend passierte, obwohl solche Reportagen bekanntlich nicht in diesen wenigen Stunden entstehen.
In vielen deutschen Städten gab es Demonstrationen gegen die Geheimpläne „rechtsextremistischer Netzwerke“, die der Forderung des ersten Eintrags im Live-Ticker entsprachen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz forderte ein AfD-Verbotsverfahren und wurde mit dieser Aussage zitiert: „Die AfD und ihre Spießgesellen, darunter verbuche ich ausdrücklich auch die Unternehmer, die sie unterstützen, verfolgen leider konsequent ihre verfassungsfeindlichen Ziele.“
In den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten überschlugen sich die Ereignisse, allerdings nur bezüglich dieser einen Forderung, die AfD schnellstmöglich zu verbieten. Daran beteiligten sich private Medienunternehmen, einst als „Mainstream“ bezeichnet. Die Resonanz war wochenlang in den Medien nachzuvollziehen, dieser Bericht aus der Leipziger Volkszeitung vom 15. Januar ist exemplarisch für die Aufregung, die das Online-Magazin ausgelöst hat.
Haldenwangs Mitte, konkreter das alte rot-grüne Milieu, demonstrierte, während die Rednerbeiträge häufig den Untiefen linker Milieus entsprangen. So hieß es auf dieser Demonstration, die AfD „möchte alle aus Deutschland vertreiben, die nicht in ihr völkisches Weltbild passen.“ Es sei die CDU, die „eine sogenannte Brandmauer einreißt. Die CDU treibt den rechten Kulturkampf voran“ und stände „der AfD in ihrem Rassismus in nichts nach.“ Zudem seien es „die Parteien der Mitte, die rechte Forderungen bereitwillig in Politiken gießen.“ Grüne, SPD und FDP setzten „den Rechtsruck mit rassistischen Gesetzen um.“
Es gibt zahllose weitere Beispiele für das, was dieses Verständnis von Journalismus im demokratischen Diskurs auslöste. Verbotsforderungen, denen es aber bald an empirischer Relevanz mangelte. Denn die Kernaussage, es seien in Potsdam Pläne zur massenweisen Vertreibung hier legal lebender Menschen diskutiert worden, war vor Gericht regelrecht implodiert, wie es Matthias Brodkorb am 3. März im Cicero ausdrückte.
Wogegen das rot-grüne Milieu protestierte? Gegen die Meinung der Correctiv-Autoren über ein Treffen in Potsdam, so Brodkorb. Sie suggerierten eine Tatsachenbehauptung, die sie kleinlaut zurückziehen mussten. Die in anderen Online-Magazinen formulierten Vorbehalte wurden ignoriert, etwa ein Interview mit dem Kölner Staatsrechtler Ulrich Vosgerau auf Tichys Einblick am 18. Januar. Der durch diese Falschdarstellung ausgelöste soziale Druck war enorm, wie die Teilnehmer dieser Veranstaltung bestätigt haben.
Es hatten noch nicht alle etwas gesagt
Das hinderte niemanden, Correctiv noch im Juli mit Preisen auszuzeichnen. Im Bewusstsein von Menschen, die sich über die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten informieren, blieb die Falschaussage aus dem Artikel in Erinnerung, die die Rednerin in Leipzig zum Besten gab. Vor wenigen Tagen musste sich die Tagesschau erst von einem Gericht überzeugen lassen, sie nicht mehr zu verwenden.
Es ist der mediale Wahnsinn für den politischen Zweck eines AfD-Verbots, wenn er auch Methode hat, die die taz zum Ausdruck brachte. Genutzt hat es wenig, wie es die Europawahlen dokumentierten. Sie wurden für SPD, Grüne und Linke zu desaströsen Wahlniederlagen, trotz der Millionen Menschen, die laut taz für die Meinung von Correctiv-Autoren auf die Straßen gingen.
Das ist alles bekannt, es gibt nichts Neues zu berichten, so denkt man. Aber es hatten noch nicht alle etwas gesagt. Zweihunderteins Tage nach der Meinungsäußerung über einen Geheimplan veröffentlichten drei renommierte Journalisten einen Artikel im Online-Magazin „Übermedien“ unter dem Titel „Der Correctiv-Bericht verdient nicht Preise, sondern Kritik – und endlich eine Debatte.“ Es sind der Leiter der Henri-Nannen Schule, Christoph Kucklick, der Gründer von Übermedien, Stefan Niggemeier, und Felix W. Zimmermann, Chefredakteur von Legal Tribune Online.
Offensichtlich war das ein heißes Eisen, was einer allein sich nicht anzupacken traute, so kurz nach der Preisverleihung durch das Netzwerk Recherche. Die Autoren mussten sich fühlen, wie ein Autor der New York Times, der vor dem Fernsehduell mit Donald Trump die Amtsfähigkeit Joe Bidens bestritten hätte.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf, so lässt sich deren Kritik am milieuspezifischen Umgang mit dem Correctiv-Artikel zusammenfassen. Längst sei „offenkundig, wie problematisch die Correctiv-Berichterstattung und ihre Rezeption sind. Und wie sehr gleichzeitig in weiten Teilen der seriösen Presse eine kritische Auseinandersetzung“ fehle. Wobei die Seriosität einer Presse zu bezweifeln ist, der erst nach zweihunderteins Tagen auffällt, was jeder schon längst wissen konnte. Correctiv hatte einen Prozess gegen „Nius“ verloren, dem laut der Autoren rechten „Wut-Medium“, das „den Bericht und die Art, wie er verstanden wurde, kritisiert hatte“. Leider, so die Perspektive der Autoren. Der Link zum Artikel von Nius fehlt übrigens.
Seltsam
In ihrer Kritik sind die Autoren schonungslos, wobei sie nur so argumentieren, wie zahllose andere Autoren schon vorher argumentiert haben. Außer zwei Artikel im Cicero und in der Welt haben sie keine weiteren kritischen Artikel im Internet gefunden. Wohlwollend werden beide Presseerzeugnisse konservativ genannt. Dabei hatte Alexander Wendt schon am 21. Januar auf Tichys Einblick zentrale Kritikpunkte formuliert. Seltsam, könnte man meinen, um das Modewort der Woche einmal zu verwenden.
Kucklick und seine Co-Autoren fassen ihre eigene Argumentation so zusammen: Der Text behaupte „Dinge, die er nicht behauptet – man muss es so merkwürdig sagen.“ Sie zerlegen ihn kunstvoll, deren Balancieren an presserechtlichen Grenzen, die auch das möglich machen, was journalistisch abzulehnen ist. Ihre Fragestellung beschreiben sie so: „Stattdessen findet die Debatte um den „Geheimplan gegen Deutschland“-Bericht vor allem in zwei Extremen statt. Die einen vermeiden es, den Text zu durchleuchten, weil sie seine Wirkung feiern. Die anderen zerlegen den Text vor allem, um seine Wirkung zu diskreditieren.“
Eine Antwort finden sie nicht, weil sie schon an der literarischen Einordnung scheitern. Denn dieser Artikel war nie als journalistisches Produkt gedacht. Vielmehr handelt es sich um eine Erzählung unter Beimischung von Wirklichkeit: Es gab eine Villa Adlon, eine Veranstaltung, Martin Sellner, einen Reporter mit der Kaffeetasse in der Hand. So wurde es zu Agitation und Propaganda, die noch nie den Anspruch an neutraler Berichterstattung hatte. Sie sollte Solidarisierungseffekte auslösen und politische Feinde markieren.
Diesen publizistischen Ansatz vertritt auch Jürgen Elsässer, Chefredakteur des von der Bundesinnenministerin verbotenen Compact-Magazins. Sein Magazin mache „keine Zeitung, indem wir uns hinter den warmen Ofen oder den Computer verziehen und irgendwelche Texte wie eine Laubsägearbeit auf den Markt bringen.“ Vielmehr sei sein Ziel „der Sturz des Regimes.”
Das alles ist weder verboten noch neu: Bertolt Brecht verstand seine Theaterstücke auch nicht als Laubsägearbeit, um die Bourgeoisie in ihren Theatersesseln zu unterhalten. Er war nicht Gustaf Gründgens.
Correctiv wählt die gleiche Methode, nur mit einem anderen politischen Ziel: Den von Elsässer ersehnten Sturz des Regimes zu verhindern. Da lässt man Fünfe gerade sein, und wo gesägt wird, fallen halt journalistische Späne.
Daran scheitern Kucklick und seine Co-Autoren. Sie können sich nicht von der Markierung des politischen Feindes lösen, begrüßen deren Bekämpfung ausdrücklich, fürchten nur die Konsequenzen publizistischer Agitation. Das führe dazu, dass „diese Lücke rechtspopulistische Medien wie „Nius“ und andere“ ausfüllten. Sie täten „das nicht nur einseitig verzerrend, sondern können gleichzeitig empört-triumphierend auf das Schweigen der anderen verweisen.“
In dieser Perspektive zwischen einem selbst (Seriös) und den anderen (Unseriös) fällt dem früheren Mainstream buchstäblich jedes Thema auf die Füße. Schließlich ist jede Kritik, von der Energiewende bis zum Migrationspolitik, dem Verdikt des Rechtspopulismus ausgesetzt. Die Medien beschäftigen sich den ganzen Tag lang kaum noch mit etwas anderem.
Das in Deutschland zur Posse gewordene Schauspiel um das Alter des amerikanischen Präsidenten brachte der Faktenfinder der Tagesschau auf den Punkt. Bis zum TV-Duell mit Donald Trump vermutete er eine rechte Verschwörung, um sich nach dessen Auswechslung schützend vor seine Nachfolgerin zu werfen. Das Denken kreist nur noch um Narrative: Was nutzt dem eigenen Lager und was schadet dem Feind? In den USA lässt sich das gut beobachten: Demokratischer Trumpismus.
Der Correctiv-Bericht verdient eine echte Debatte
Schon in der Pandemie wurde diese Logik deutlich, das Denken zu unterlassen, um Erzählungen an dessen Stelle zu setzen. Sie führte zu kuriosen Wendungen, wenn aus einer rechten Panikmache wenige Wochen später die rechte Verharmlosung wurde. In diesen Kontext ist diese Kritik am Correctiv-Artikel einzuordnen. Zum einen lesen den Artikel nur wenige Menschen, während dessen publizistische Weiterverbreitung ab dem 11. Januar wochenlang die Berichterstattung des Mainstreams dominierte. Aktivisten und Journalisten, häufig in Personalunion, wurden regelrecht euphorisch, dass die vom Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz angesprochene „Mitte“ auf die Straße ging. Es wirkte auf den Beobachter fast wie eine Dienstanweisung zur Delegitimierung der Opposition.
Zum anderen hat die Correctiv-Schelte die Funktion zur Legitimierung der sich selbst für seriös haltenden Medien. Seht her, wir können sogar Selbstkritik, wenn auch zweihunderteins Tage später. Das eigentliche Problem adressieren Kucklick, Niggemeier und Zimmermann aber nicht: Sich mit den Argumenten derjenigen zu beschäftigen, die sie für unseriös halten. Diese Einschätzung teilt die andere Seite: Deren Seriosität zu bestreiten. Warum das so ist, wird in dem Artikel immerhin deutlich. So ist eine Aussage richtig: Der Correctiv-Bericht verdient eine echte Debatte. Ansonsten bleibt alles, wie es ist.