Naturrecht der Freiheit und Statuarisches Recht

Protokolle der Aufklärung #18

Alle Menschenrechte (sofern sie echte Freiheitsrechte sind!) lassen sich auf einen Grundsatz zurückführen: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. Den Grundsatz habe ich „Naturrecht der Freiheit“ genannt (siehe meinen gleichbenannten Sandwirt-Beitrag). Diesem „Recht“ steht ein ganz anders geartetes Recht gegenüber, das sogenannte Statuarische Recht.

Die Menschenrechte (Freiheitsrechte) bergen eine ideelle Komponente in sich. Sie sind Produkt eines Bekenntnisses (siehe mein Sandwirt-Beitrag „Der Zugang zum Naturrecht der Freiheit“). Das Statuarische Recht hingegen ist ein aus dem Verstand geborenes, künstlich geschaffenes Gebilde auf der Basis von Erkenntnissen. Hier finden wir jene Rechte, die unser reales Leben sichern: die lebensschöpfenden („positiven“) und die lebensschützenden („negativen“) Handlungsnormen.

Eigentlich ist es immer das Statuarische Recht, was wir meinen, wenn wir konkret von bestimmten Ordnungsregeln, Verhaltenskodizes, Sitten usw. sprechen. Es ist das von Menschen gesetzte Recht. Weil es gesetzt (statuiert) ist, heißt es so. Solches Setzen hat als Ergebnis das Gesetz (mittelhochdeutsch: gesetzede = das Gesetzte, Festgelegte). 

In welcher Beziehung stehen nun Menschenrecht (Freiheitsrecht) und Statuarisches Recht zueinander? Um diese Frage hinreichend gründlich beantworten zu können, müssen wir an den Ursprungspunkt zurückgehen, an dem beide Rechte sich berühren. 

Wenn von Ursprung die Rede ist, kann das in zweierlei Sinne gemeint sein: historisch oder ontologisch. Wer es unternimmt, sich historisch auf die soeben gestellte Frage einzulassen, gerät leicht in das Fahrwasser jener Zeitgenossen, die mit der Art ihrer Aussagen über Gewesenes den Eindruck erwecken, als seien sie als Beobachter dabei gewesen. Wir – meine Leser und ich – werden jetzt einen anderen Weg gehen. 

Der Januskopf des Menschenrechts

Das Menschenrecht wird oft als Edikt gesehen, ein friedliches Miteinander der Menschen bewirken zu können. Mit ihm meint man, die Garantie gegenseitiger Verträglichkeit in den Händen zu halten. Außerdem: Man beansprucht, sich beim Kampf für dieses „Recht“ an der richtigen Front zu bewegen, auf Seiten der Guten sozusagen. Um beurteilen zu können, inwieweit dieser Anspruch gerechtfertigt ist, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf eine vielfach unbemerkte bzw. regelmäßig verschwiegene Eigenart dieses „Rechts“ lenken. 

Deutlich sichtbar wird sie bei der Aufschlüsselung des Menschenrechts-Grundsatzes in seine Derivate (a. a. O.). Es kann z. B. dem Recht auf freies Wohnen das Recht auf Freizügigkeit entgegenstehen. Wo ein Platz bereits besetzt ist, kann man nicht ohne weiteres hinziehen, um sich dort Lebensraum zu verschaffen. Man müsste sich diesen gegen den Erstbesitzer erkämpfen. Und das bedeutet Krieg. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf Meinungsfreiheit. Es kann Persönlichkeitsmerkmale verfälschen und die damit verbundenen Lebensmöglichkeiten aushebeln. Auch das kann zum Krieg führen, etwa vor Gericht. 

Mir steht zwar das Menschenrecht zu, aber meinem Nachbarn auch. Das hat zur Folge, dass der durch dieses Recht ebenfalls Begünstigte meine Lebensentfaltung durch die seine behindern, mein Leben gar vernichten kann. Ich hätte gegen ihn nichts in der Hand, außer einer schwächlichen Berufung auf ein „Recht“, das wir beide haben, nämlich unser Menschenrecht. Dieses Recht lässt auch willkürliche und destruktive Aktionen zu. Ich kann sie meinem Nachbarn mit keinem vernünftigen Argument verwehren. Denn auf welchen Beweis sollte ich mich stützen? Für die reale Existenz des Menschenrechts gibt es keinen Beweis. Es ist ein Bekenntnisprodukt (s. o.).

Stellt man die Derivate des Menschenrechts nebeneinander, dann findet man schnell, dass das Recht des Einen mit dem des Anderen kollidiert. Das ist wohl auch der tiefere Sinn der These des Thomas Hobbes vom bellum omnium contra omnes (s. auch John Locke). Es kann zwar jeder das Menschenrecht für sich in Anspruch nehmen. Aber das „Recht“ des einen schränkt dasselbe „Recht“ des anderen ein, vernichtet es unter Umständen sogar. Der sogenannte Naturzustand, in dem Jeder das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung hat, ist offenbar nichts anderes als ein verdeckter bzw. verharmloster Kriegszustand.

Aus solchen Erwägungen ergibt sich: Bei aller Bedeutung des Menschenrechts als Banner der Freiheit und bei aller Wirkkraft als Schlachtruf gegen jede Form von Unterdrückung: Es schafft aus sich selbst heraus keinen Frieden. Auf das Menschenrecht lässt sich vielleicht der Anspruch auf ein freies Leben, aber nicht die Beseitigung des ursprünglichen Kriegszustands aller gegen alle gründen. Dass es uns zu friedfertigen Wesen machen könnte, ist eine absurde Vorstellung. 

Diejenigen, welche überall in der Welt herumreisen, Menschenrechte lauthals proklamieren und sich davon den Frieden der Menschheit versprechen, scheinen an diesem Punkt völlig ahnungslos zu sein. Das Menschenrecht und alle Ableitungen aus ihm fordern lediglich, was jedem Menschen kraft seiner Menschennatur zusteht, nämlich Freiheit. Das Menschenrecht deklariert das freie Leben für alle und fordert damit – als Maxime – ein Existenzrecht für jedes nur mögliche menschliche Wesen. An dieser Maxime kann sich das Zusammenleben der Menschen zwar orientieren. Aber sie verbürgt den Frieden nicht. 

Konflikte wie die oben beschriebenen haben mit der Gesellschaftlichkeit der Menschen zu tun. Ein Robinson – allein auf der Insel – weiß davon nichts. Verfolgt man die Konflikte zurück bis auf ihren Ursprung, dann zeigt sich, dass sie im Menschenrecht selbst verankert sind. Das für alle Menschen gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung ist zugleich die Negation des für alle Menschen gleichen Rechts auf freie Lebensentfaltung. Der Menschenrechts-Grundsatz ist doppelgesichtig. Er hat einen Januskopf. Woran liegt das?

Freiheit und Unfreiheit

In dem Grundsatz ist nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit aller ausgesagt. Weil hier allen die gleiche Freiheit zugesprochen wird, liegt darin schon das Gegeneinander der Freiheit des Einen zu der des Anderen. Ich steht gegen Ich, Wille gegen Wille. Man könnte die Aussage des Reinhard Sprenger: „An der Freiheit des Anderen kommt keiner vorbei“ auch so formulieren: Jedem steht die Freiheit des Anderen im Wege.

Die im Menschenrecht gebotene Freiheit birgt mit den Prinzipien Allgemeinheit und Gleichheit auch die Bändiger der Freiheit in sich. Die dort geforderte Gleichheit und die geforderte Allgemeinheit verweisen die Freiheit in ihre Schranken. Meine Rechtlichkeit muss – der Freiheit gemäß – möglichst uneingeschränkt sein. Sie sollte aber auch – dem Gleichheits- und Allgemeinheitsprinzip gemäß – dem Freiheitsrecht jedes Anderen Raum geben. Die im Menschenrecht verankerte Gleichheit bremst – im Verein mit der gleichfalls dort verankerten Allgemeinheit – meine individuelle Freiheit, und zwar zugunsten der Freiheit aller Anderen. 

Dem Menschenrecht zufolge kann jeder Mensch auch zum Unmenschen werden, zum Freiheitsvernichter. Er kann es aufgrund seiner im Menschenrecht gebotenen Freiheit (i. S. von Spontanautonomie; s. mein Sandwirt-Beitrag „Die Freiheit des Ich“). – „Dass der Mensch frei sein müsse, daran glauben alle; darum sind auch alle liberal. Aber den Unmenschen, der doch in jedem Einzelnen steckt, wie dämmt man den? Wie stellt man’s an, dass man nicht mit dem Menschen zugleich den Unmenschen freilässt?“ (Max Stirner). 

Dieses Dilemma lässt sich nicht beseitigen, ohne das Menschenrecht selbst zu beseitigen. Das will aber niemand. Denn es ist unser Lebenselixier. Nun hat die Menschheit das Dilemma früh erkannt und einen Weg gefunden, ihm zu entkommen bzw. mit ihm vernunftgemäß umzugehen: die Herausbildung des Statuarischen Rechts. 

Das Statuarische Recht als Recht unseres Alltags

Das Statuarische Recht ist es denn auch, was wir gewöhnlich Recht nennen. Von diesem sagt Kant: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann … Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit [dem auch von Kant so bezeichneten ‚Menschenrecht‘] zusammen vereinigt werden kann“. 

Vom Menschenrecht her bleibt offen, wie weit jeder seine Freiheit ausleben darf. Diese Offenheit zu beseitigen, dafür sorgt das Statuarische Recht. Es kann seine Existenz damit rechtfertigen, Friedensstifter zu sein. Beide Arten von Recht sind für ein freies Leben von Menschen unabdingbar, das eine als Garant der Freiheit, das andere als Garant des Friedens. – Weil die Januskopfigkeit des einen besteht, rechtfertigt sich die Existenz des anderen!

Die naheliegende fundamentale Frage „Ist Statuarisches Recht überhaupt erforderlich und warum?“ wird in vielen Rechtstheorien nicht gestellt. Deshalb fehlt dort das intellektuelle Gerüst, das eine verlässliche Stütze sein könnte für unsere alltäglichen Bemühungen um Gerechtigkeit. Ein ausgeprägter Sinn für die Notwendigkeit eines klaren und deutlichen Bekenntnisses zu den Freiheitsrechten, aber auch die Erkenntnis der Dringlichkeit einer sachgerechten(!) Ausformung des Statuarischen Rechts konnte sich deshalb nicht entwickeln. 

Menschenrecht und „Menschenrecht“

Aus dem Menschenrechts-Axiom lassen sich nur solche Menschenrechte ableiten, die reine Freiheitsrechte sind! In den letzten Jahrzehnten sind zusätzlich noch eine Reihe von Regulativen zu „Menschenrechten“ erklärt worden, die teilweise den Freiheitsrechten zuwiderlaufen, so geschehen in der der UNO-Charta und den EU-Protokollen. 

Die UN-Menschenrechtscharta und die EU-Menschenrechtsprotokolle sind im Laufe der Zeit über die klassischen reinen Freiheitsrechte hinaus erweitert worden. Sie beinhalten nicht nur Freiheitsrechte, sondern sind Konglomerate aus Rechten, Pflichten, Verboten, Ansprüchen usw. Dadurch wurde das Menschenrecht verdunkelt und erscheint inzwischen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. 

Ein Teil der neu hinzugekommenen „Menschenrechte“ sind Schöpfungen, die dem Bereich des sogenannten Sozialen zugehören. Sie sind Ansprüche im Sinne von positiven Rechten. Nun gründet jedes positive Recht auf einer Pflicht. Wo sind die Pflichterfüller bei den vielen neu erfundenen „Menschenrechten“? Auf diese Frage schweigen UNO und EU. 

Soziale Ansprüche sind inkompatibel mit Menschenrechten im Sinne von echten Freiheitsrechten. Sie können nur mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Diese Ansprüche und die ursprünglich strikt auf Freiheit bedachten Menschenrechte stehen sich entgegen. Denn „deren vollständige und gleichzeitige Umsetzung (ist) unmöglich“, sagt der italienische Menschenrechtler Norberto Bobbio. 

Friedrich von Hayek meint, es handele sich bei manchem der sogenannten „Menschenrechte“ um reinen Etikettenschwindel. Hier werde von Rechten gesprochen, „wo das, um was es geht, lediglich Hoffnungen sind“. 

Das Versäumnis der Schöpfer der Menschenrechtscharta in der UNO, das Statuarische Recht begrifflich klar von den Freiheitsrechten abzutrennen, hat zu den merkwürdigsten Erscheinungen in der Gesellschaft geführt. Oft beklagte Rechtsverfälschungen gehen auf dieses Versäumnis zurück. Rechtsansprüche, die in der Gesellschaft unbillig und mutwillig gestellt werden, haben hier ihre Wurzel. Ja, man kann sagen: der Mangel an Menschenwürde, der die derzeitigen Rechtsgemeinschaften in vielerlei Hinsicht kennzeichnet, ist begründet in der unzureichend klaren Abgrenzung des Statuarischen Rechts vom Menschenrecht.

Will man den Vorwurf von den „Menschenrechten“ fernhalten, sie seien pure Fiktion und Täuschung, muss man sich über ihren Ursprung und ihre Wesensart Klarheit verschaffen. Der UN-Menschenrechtsrat hat dies bis heute nicht getan. Er scheint ohnehin nicht überall in gutem Ansehen zu stehen. Die ehemalige US-Botschafterin bei der UNO, Nikki Haley, bezeichnete ihn einmal als eine „heuchlerische und eigennützige Organisation“, welche die „Menschenrechte zum Gespött“ mache.

Das Menschenrecht kann man nur explizieren und auf einen praktikablen Begriff bringen aber nicht eigens schaffen. Anders das Statuarische Recht. Hier kommt der Mensch nicht als Explikator ins Spiel, sondern als Akteur. Sein freier Wille ermöglicht ihm, sich selbst solches Recht zu setzen und dadurch sein Handeln zu normieren. Das Statuarische Recht steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen jeder das Menschenrecht (Freiheitsrecht) für sich nutzen und ausleben kann. Erst die Normierung des Handelns, sowohl in Form des positiven, als auch in Form des negativen Rechts, bewirkt Frieden unter den Menschen. Das Menschenrecht schafft Freiheit; das Statuarischen Recht schafft Frieden. 

Meinen oben zitierten früheren Sandwirt-Beiträgen und den soeben vorgestellten Analyseergebnissen ist zu entnehmen: Der Begriff „Menschenrecht“ bedarf einer gründlichen Revision. Dafür muss man „das Rad nicht wieder neu erfinden“. Man könnte auf dem Fundament bauen, das die abendländische Geistestradition geschaffen hat. Derzeit sieht es – wenn man Norberto Bobbio und Friedrich von Hayek glauben darf – noch so aus: Die oft bejammerten „verletzten Menschenrechte“ verletzen sich gewissermaßen selbst am meisten.

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1 Kommentar. Leave new

  • Immo Sennewald
    10. August 2024 13:06

    Für Ihre Kolumne heute erneut ein großes Dankeschön, denn sie korrespondiert aufs Schönste mit „Der menschliche Kosmos“, denn ich lerne in philosophischen und Rechtsfragen eine Menge dazu, kann eigene Aussagen prüfen, korrigieren, ergänzen. Das ist – in meinem Alter zumal – ein so ergiebiges wie erfreuliches Geschehen. Es ist zugleich erholsam, weil es aufgeregten öffentlichen Debatten ausgeruhtes Denken gegenüberstellt. Die Hysterie alltäglicher ideologischer Machtkämpfe erscheint weniger bedrohlich, bisweilen lächerlich. Wenn der „Kosmos“ immer wieder einmal im Feuilleton navigiert, zeigen Sie gut befestigte Leuchtzeichen aus der Philosophie, das schätze ich. Weiterhin viel Erfolg mit Ihren Veröffentlichungen!

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