„Warum der D-Day Teil der deutschen DNA sein muss”, lautet der Titel eines Leitartikels des „Spiegels” von Felix Bohr am 06.06.2024.
Hochinteressant scheint mir, dass in dieser Überschrift eine historische Erfahrung, die sich definitiv anbahnende Niederlage des Nazireichs, mit dem Begriff DNA verbunden wird. Sicher ist die Aussage eher metaphorisch gemeint. Bei weiterem Nachdenken könnte aber doch ein realer psycho-physiologischer Hintergrund mitschwingen.
Generationsübergreifend
Die Erfahrungen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg können nicht anders als ein kollektives Trauma bezeichnet werden. Nach einer sicherlich vorhandenen Phase des nationalen Hochgefühls nach den Siegen über Polen und Frankreich folgte ein unabwendbarer Niedergang: Stalingrad, Kursk, der Zusammenbruch der Ostfront, die Landung der Alliierten, die Bombardierung deutscher Städte und am Ende die Zerstörung Berlins und Hitlers Selbstmord. Alles traumatische Erfahrungen, die sich im Individuellen als Erfahrungen von Angst, Bedrohung, Hunger, Vertreibung, Enttäuschung, Tod, Verwundung, Scham und Schuld manifestiert haben dürften. Diese individuellen Erfahrungen umfassten kollektiv fast jeden deutschen Bürger.
In der Biologie gibt es das Fachgebiet der Epigenetik – ein Konzept, das von der alten Vorstellung einer gewissen Stabilität der vererbbaren DNA abweicht und postuliert, dass der Genpool eines Menschen auch durch traumatische Erfahrungen innerhalb seiner individuellen Biographie veränderbar sei und diese Veränderungen in der Folge auch vererbbar wären. Zum Thema gibt es inzwischen reichlich Literatur. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen Artikel von Ali Jawaid und Isabelle M. Mansuy: „Generationsübergreifende Auswirkungen von Traumata: Implikationen für Individuen und Gesellschaft“, der in Zusammenarbeit mit dem Labor für Neuroepigenetik (Universität Zürich/ETH Zürich) konzipiert wurde.
Die Autoren schreiben, dass „die wissenschaftliche Forschung des letzten Jahrzehnts gezeigt hat, dass die Folgen von Traumaexposition vererbbar sein können“. Dabei ist „eine schwerwiegende Folge psychischer Traumata beim Menschen die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die häufig mit Depressionen und Angstzuständen einhergeht und mit einer größeren Häufigkeit (Prävalenz und Inzidenz) von Demenz assoziiert wird. Abgesehen vom Gehirn hat chronisch traumatischer Stress auch schädliche Auswirkungen auf andere Körperfunktionen. PTBS ist ein Risikofaktor für kardiovaskuläre (den Kreislauf und die Blutgefäße betreffende) und zerebrovaskuläre (die Blutgefäße des Gehirns betreffende) Erkrankungen, Störungen des Verdauungssystems (gastrointestinale Dysfunktionen), rheumatische Arthritis und Krebs.“
Die Liste gerade der medizinischen Folgen einer PTBS liest sich geradezu wie eine Aufzählung der gängigsten Zivilisationskrankheiten. In meinen Überlegungen soll aber eher der kollektivpsychologische und in der Folge politische Aspekt eine Rolle spielen. Als Marker hervorgehoben werden soll hier die Diagnose „Depression“ oder bipolare Störung. Wie das im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg und den momentanen Bemühungen der Politik um Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit in Verbindung gebracht werden kann, möchte ich im Folgenden zeigen.
Gut und böse
Psychologisch geht eine PTBS einher mit einem gewissen Realitätsverlust, mit dem Hervorrufen stark emotional gefärbter Urteile und mit einem auffallenden Schwarz-Weiß-Denken. Die Haltung wohl der Mehrheit der Bevölkerung zum Ukrainekrieg hat sich zuletzt dramatisch geändert. Noch 2022 waren deutsche Städte bis hin zu den privaten Balkonen gelb-blau beflaggt. Der nicht unproblematische, weil im Kern faschistische Gruß „Slava Ukraini – Ruhm der Ukraine“ war allgegenwärtig. Aber heute überwiegt in weiten Teilen des Landes eine von der Politik bedauerte Kriegsmüdigkeit, das Gefühl, eine Fortsetzung von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung würde nichts mehr bringen, und eine gewisse Furcht vor den weltpolitischen Folgen dieses Konfliktes.
Trotzdem bleibt in der veröffentlichten Meinung ein bemerkenswertes Ausmaß von Russophobie, Ablehnung und Diffamierung der sogenannten „Putinisten” bestehen, denen quasi Vaterlandsverrat vorgeworfen wird, auch wenn sie sich nur um Möglichkeiten von Friedensverhandlungen bemühen, was, um es klar zu sagen, nicht in ihren politischen Möglichkeiten liegt.
Auffallend ist dabei die geradezu manichäische Teilung der Welt in Gut und Böse, Grauzonen gibt es nicht mehr. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“, heißt es geradezu schon apokalyptisch. Die faktische Zerstörung der Ukraine wird dabei um der höheren Werte des Westens willen billigend in Kauf genommen. Eine noch bestehende Grenze scheint nur der Unwille zu sein, den eigenen Kopf hinzuhalten.
Viele der vorgebrachten Argumente sind dabei selbstreferenziell: Putin lügt immer, weil böse, und westliche Führer lügen nie, weil gut. Wobei von westlichen Führern, Merkel und Hollande, ja schon zugegeben wurde, dass für sie das Minsker Abkommen nur dazu diente, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen. Aber ich will hier nicht ins Detail gehen.
Meine Frage hier ist: Wie wäre denn die vorherrschende Russophobie auf eine posttraumatische epigenetische Prägung aus dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen?
Identifikation und Assoziation
Zum einen waren die Erfahrungen an der Ostfront sowohl für Soldaten wie Zivilisten eindeutig traumatisierend. Das ging soweit, dass es beim Vorrücken der Roten Armee zu Massenselbstmorden aus purer Angst kam. Übergriffe wie Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, der Kampf im Osten war keine regelbasierte Auseinandersetzung auf Grundlage des Kriegsvölkerrechts.
Nun war auch das Vorgehen der Westalliierten nicht unproblematisch, aber nach Kriegsende kam es zu einer deutlichen Dualität, die sich auch in der deutschen Teilung geografisch ausdrückte. Vom westlichen Standpunkt aus war der Osten das Reich des Bösen, die Zone, der okkupierte Teil des ehemaligen Reichs: Unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten leidend, gab es tatsächlich reale Unterdrückung: der 17. Juni 1953, Budapest 1956, Prag 1968 – alle drei Volksaufstände von den Sowjets brutal niedergeschlagen, das Gegenteil von Recht und Freiheit. Und der Westen blühte, auch wirtschaftlich.
Alles Negative, das aus dem Weltkriegstrauma emotional in den Untergründen da war, wurde auf eine Kriegspartei verschoben. Im Westen identifizierte man sich mit dem Sieger, zumindest bis Vietnam, wo von Teilen der Studentenschaft das kapitalistische Narrativ in Frage gestellt wurde.
Die dabei wohl evozierten kollektiv geteilten Gefühle müssten sich, so die Theorie, in den genetischen Code eingeschrieben haben, der wurde weitergegeben (die Theorie spricht von Wirkungen über mindestens drei Generationen). Und über einen Vorgang der Abspaltung von negativen Gefühlen und Verschiebung auf einen Schuldigen zwecks Entlastung von eventuell eigenen Schuldgefühlen wurde die damalige Sowjetunion zum Reich des Bösen. Deren Erbe ist das heutige Russland, und Putin wird interessanterweise gerne mit Hitler und Stalin assoziiert.
Das Feindbild
Bei der Mobilisierung dieses epigenetisch vermittelten Codes spielen die Erfahrungen im geteilten Deutschland auch noch mehr als 30 Jahre später eine Rolle. Konkrete Erfahrungen mit den russischen Besatzern, die ja offiziell als Freunde und Befreier angesehen wurden, scheinen doch eine problemlose Projektion zu verhindern.
Nun wird, wenn wir mit unseren Annahmen Recht haben, ja nicht die gesamte Bevölkerung in diesem Sinne mobilisiert, sondern nur ein Teil, auch wenn ein gewisser medialer Druck besteht, Russland als Feind zu sehen und konkret bis 2029 die „Kriegstüchtigkeit“ erreicht zu haben. Viele bleiben von diesen propagandistischen Bemühungen unberührt. Dazu ist zu sagen, dass individualpsychologisch die Einflussfaktoren viel zu komplex sind, um sie stringent zu verallgemeinern. Was ich zeigen will, ist mehr eine gesamtgesellschaftliche Neigung.
Zusammenfassend schreiben die Autoren der zitierten Studie: „Auch ein Kriegstrauma wurde als ein wichtiger Stressfaktor vorgeschlagen, der zu vererbbaren Verhaltensstörungen beim Menschen führt. Die Nachkommen von Veteranen des Zweiten Weltkriegs und des Vietnamkriegs zeigen Gewalttätigkeit und Feindseligkeit, die eng mit der Intensität und Dauer der Erfahrung von Kriegstraumata bei ihren Eltern korrelieren. (…) Die Vorstellung, dass traumatische Erfahrungen lang anhaltende Folgen für die geistige und körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der betroffenen Menschen und möglicherweise ihrer Kinder und Enkelkinder haben können, hat weitreichende Folgen für die menschliche Zivilisation und Gesellschaft.“
Schuld und Aggression
Hier scheint eine weitere Überlegung angebracht: Wenn der Zweite Weltkrieg als relevantes traumaauslösendes Ereignis betrachtet wird, betrifft das ja nicht nur die deutsche Bevölkerung allein. Die Verluste der Sowjetunion waren erheblich größer, die Unerbittlichkeit des Krieges war vor allem im Osten spürbarer. Aber im Grunde waren fast alle europäischen Länder vom Weltkrieg betroffen, die Situation der außereuropäischen soll hier erst einmal vernachlässigt werden.
Nun spielen für die längerfristige Wirkung der erlebten Traumata einige Faktoren eine entscheidende Rolle:
- Gehört man zu den Gewinnern oder Verlierern des Krieges?
- Ist man Teil der „schuldigen“ Partei?
- Welche Verdrängungs- und Bewältigungsmechanismen bieten sich für die Traumatisierten an?
Vergleicht man die UdSSR mit Nazideutschland, so hat die erstere ja im „Großen Vaterländischen Krieg“ eindeutig gesiegt. Die gebrachten Opfer schienen also in gewisser Weise gerechtfertigt. Deutschland dagegen war der Verlierer des Krieges und hatte sich auch in den Nürnberger Prozessen und der Entnazifizierung mit dem Schuldvorwurf auseinanderzusetzen. Dies bedingte eine spezifische Form der Verdrängung: die Verschiebung der Schuld auf Hitler selbst und die Nazigranden, das Herausreden mit dem Gehorsamsnotstand und ein Aufgeben des Nationalbewusstseins zugunsten eines paneuropäischen Gedankens. Verdrängung von Schuld kann aber erfahrungsgemäß geradezu zu verstärkter Aggression führen, einerseits gegen die Opfer der eigenen Taten, andererseits gegen den Sieger – in beiden Fällen war das Sowjetrussland. Dazu kommt natürlich die erwähnte Dichotomie in gut und böse in der Bewertung der Siegermächte.
Weiter, immer weiter
Andere Nationen, wie Österreich, pflegten das Narrativ, das „erste Opfer“ der Nazis gewesen zu sein. Franzosen und Niederländer verdrängten ebenfalls die doch erhebliche Kollaboration, was interessanterweise in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu Antipathien gegen alles Deutsche führte.
Klar ist, dass die Kriegstraumata der Deutschen in Kombination mit der Schuldproblematik und deren Abwehr in gewisser Weise einzigartig waren und eine gewisse Grundlage für die epigenetisch auftretende Russophobie bildete. Dass der Kalte Krieg und die Politik der westlichen Besatzungsmächte das unterstützten, steht außer Frage.
Eine Reflexion über epigenetische Traumaübertragung ist sicher für wenige Gesellschaften so angebracht wie für die deutsche. Aus Kriegstraumata entstandene Phobien gerade gegen das russische Volk tragen immer die Gefahr in sich, zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Die gegenwärtige Weltlage und ihre Diskussion scheinen das zu bestätigen.