Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #14
Individuen – egal, ob sie sich einem biologischen oder sozial konstruierten Geschlecht zurechnen – geraten immer wieder in Konflikte. Das gilt in Familien, unter Nachbarn, zwischen ethnischen Gruppen, Staaten, Konzernen und andere Konstellationen menschlichen Lebens. Oft gelingt es, Interessen gegeneinander abzuwägen und Kompromisse zu finden; dauerhaft sind sie selten. Ein Frieden, der auf Unterwerfung gründet, ist es ganz sicher nicht. Was helfen könnte, wären akzeptierte Rituale im Umgang mit Konflikten
Das Paradies – ein tödliches Versprechen
Dass alle Menschen dieser Welt denselben Interessen folgten, unabhängig von zufälligen, unbeherrschbaren Naturereignissen, also in allgemeinem Konsens und „in Harmonie mit der Natur“, ist mit der Realität schlechterdings unvereinbar. Wer immer ein solches „Paradies auf Erden“ anstrebte, scheiterte – meist katastrophal. Allerdings ist der Glaube, zumindest die Gläubigen seien nach göttlichem Willen fürs Paradies bestimmt, so wenig verschwunden, wie es an Priestern und Heilsversprechen fehlt. Konflikte mit Andersgläubigen, Ketzern, Leugnern, Zweiflern sind unvermeidlich.
Ohne abweichende Interessen aggressiv zu unterdrücken oder passiv zu dulden, nötigenfalls zu unterlaufen, kann sich Sendungsbewusstsein nicht etablieren. Konsens bedeutet immer eine – vorübergehende – Balance der Deutungshoheit. Es löst keinen Konflikt, sich ihm flüchtend zu entziehen. Seit jeher bestimmen Dominanz und Unterwerfung die Verhaltensstrategien der Gattung.
Macht der Rituale und Rituale der Macht
Allerdings wechseln die Rollen von Herrschenden und Beherrschten – etwa zwischen Mann und Frau oder Eltern und Kindern schon deshalb andauernd, weil materielle Überlegenheit eben nicht die einzige Dimension der Macht ist. Die informelle Dimension der Macht – sozialer Rangordnungen, des Rufs und Ansehens – ist für das Leben nicht weniger substanziell. Unweigerlich, unablässig wirkt sie in der nonverbalen und verbalen Kommunikation.
Soziale Rangordnungen werden durch Rituale definiert, die dem Einzelnen bestimmte Rollen zuschreiben. Das geschieht meist ebenso unbewusst, wie alltägliches, routinertes Handeln – etwa das automatisierte Anlegen des Sicherheitsgurtes. Die Corona-Masken wurden nur zeitweise, wohl nicht einmal bei den meisten, zur Routine, einfach weil der von Politikern und ihnen dienstbaren Wissenschaftlern und Medien versprochene Schutz, anders als beim Gurt, ausblieb. Die Pflicht zu Gummiband und Filtertüte wurde schiere Machtdemonstration. Die Masken als Symbol der Fügsamkeit unter kollektive Zwänge – Korporationen, die daran interessiert waren, verkauften sie als „Solidarität“ – verschwanden wieder. Nur wenige „Gläubige“ ziehen sie noch so routiniert wie unsachgemäß ins Gesicht. Das allerdings hat die Qualität eines sozialen Rituals: Es signalisiert die Bereitschaft, sich zu unterwerfen.
Unentbehrlich: Gewohnheiten
Niemand kann den Alltag ohne Routinen und Rituale meistern. Machen Sie ein kleines Selbstexperiment, denn diese Folge gehört wieder Ihnen, wenn Sie eigene Erfahrungen aufarbeiten wollen und bereit sind, selbst etwas Neues auszuprobieren.
Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo Sie mit sich alleine sind, wirklich ungestört, mindestens für eine Viertelstunde. Legen Sie sich auf den Rücken, entspannen Sie sich, um Ihren Körper zu spüren. Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich des Tagesablaufs – so als liefe ein Film ab, der Sie alles der Reihe nach noch einmal erleben lässt, was vorgefallen ist. Nehmen Sie sich nicht zu viel vor: zwischen Nachtlager und Morgentoilette passiert schon eine ganze Menge. Setzen Sie sich lieber einen Endpunkt – etwa die Verabschiedung der Kinder auf den Schulweg.
Wenn Sie eine erste grobe Ablaufskizze haben und nicht eingeschlafen sind, gehen Sie in die Details. Was war ihr erster Gedanke beim Wachwerden? Erinnern Sie sich wirklich noch, mit welchem Bein zuerst Sie aufgestanden sind? Was war Ihr erster Kontakt zu einem anderen Menschen? Was genau haben Sie beide getan? Und in welcher Reihenfolge?
Sie werden feststellen, dass es Mühe macht, jeden Augenblick in der Erinnerung zu verfolgen und dass viele Handlungen unbewusst und routiniert ablaufen. Besondere Aufmerksamkeit und eine klarere Erinnerung verbinden sich mit jenen, die neu sind, die Sie überraschen oder stören und Abweichungen erzwingen. Eine ganze Reihe von Handlungszielen erreichen Sie, ohne lange nachzudenken, meist sind sie mit Ihren Gedanken woanders, während Sie Filtertüten mit Kaffee füllen oder Orangensaft aus dem Kühlschrank nehmen. Auch, wenn Sie Ihrem Lebenspartner einen Kuss geben und sagen: „Das Frühstück ist fertig“.
Der Kuss ist dennoch wichtig, denn das Ritual konsolidiert häusliche Rollenmuster.
Unbewusste Stabilisatoren
Jede noch so gewohnheitsmäßige Handlung stabilisiert Ihr Gleichgewicht. Wie sehr Sie von funktionierenden Handlungsroutinen und Ritualen abhängen, merken Sie, wenn ihnen morgens der Filter platzt und Sie den Satz im Kaffee haben oder das putzmuntere Söhnchen Sie anrempelt und die Eier statt im Kocher auf dem Boden landen. Manchmal reicht weniger, um heftige Reaktionen zu provozieren.
Sei’s drum: normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren. Es muss nicht ein fehlender Kuss sein, an dem Ihnen das bewusst wird: Immer wenn ein solches Ritual merklich verändert wird oder wegfällt, bedeutet das eine erhebliche Veränderung der Interaktionsmuster und stört das Gleichgewicht. Menschen haben ein tief wurzelndes Bedürfnis, ihr Umfeld mit Ritualen und routinierten Handlungen zu beherrschen und zugleich sind sie von diesem Umfeld abhängig – es handelt sich eben um Wechselbeziehungen.
Wessen Interaktionsmöglichkeiten eingeschränkt sind, für den können Handlungsroutinen besonders wichtig werden: für Autisten oder alte Menschen zum Beispiel.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie meine Großmutter im hohen Alter immer mehr die Fähigkeit verlor, spontan auf Veränderungen zu reagieren. Sie nahm nicht auf, was um sie herum vorging. Aber bestimmte Dinge liefen routiniert ab: das Wegräumen des Bettzeugs und das Kaffeekochen ebenso wie das Saubermachen und Einkaufen.
Wie sehr sich Routinen und Rituale vom Wahrnehmungsvermögen abkoppelten, merkten wir daran, dass sie immer dieselben Waren einkaufte, ohne dass sie gebraucht wurden, zum Beispiel -zig Butterpackungen. Wenn meine Großmutter ihr Appartement verließ, schloss sie ihre Tür ab und steckte den Schlüssel in die Einkaufstasche. Am Ende ihres Lebens – sie war schon neunzig Jahre alt – funktionierte auch dabei die Rückkopplung nicht mehr. Mehrmals wandte sie sich auf dem Flur des Appartementhauses um und fragte: „Habe ich denn auch abgeschlossen?“ und dann suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, fand ihn und hatte ihn augenblicklich wieder vergessen, genau wie die vielen Butterstücke in ihrem Kühlschrank.
Meine Besuche bei ihr waren natürlich rituell: im Winter stellte ich meine Langlaufski im Flur ab, sie deckte den Tisch mit Kaffee und Kuchen, wenn ich durchgefroren von den Bergen herunterkam; im Frühling sprachen wir von den blühenden Gärten und dann folgten unabhängig von der Jahreszeit Beschwerden darüber, dass meine Mutter sie zu selten besuchte.
Solche Rituale in der Familie können Sie bestimmt auch beschreiben. Vielleicht können Sie sogar herausfinden, welche Rollenzuweisungen sich mit den Ritualen verbinden.
Vertrauensverlust und Phantomschmerz
Am stärksten wirken jene Rituale, die soziale Interaktionen betreffen. Wenn jemand seinen Lebenspartner verlässt, ist er vielleicht von der neuen Liebe aufgewühlt oder den neuen Möglichkeiten gefangen genommen, für die er ein fade gewordenes Zusammensein aufgibt. Der Alleingebliebene stürzt – selbst wenn die Trennung für ihn nicht überraschend kommt – in ein Chaos. Es ist übrigens egal, ob die verlorene Liebe oder der Tod zur Trennung führt: Die unterbrochenen Lebensmuster bringen aus der Balance. Handlungsroutinen laufen ins Leere, fehlende Sekunden eines vertraulichen Kusses am Morgen irritieren.
Die Antizipation der durch Rituale gesteuerten Wechselbeziehungen funktioniert weiter, aber das Ziel der Erwartung ist nicht mehr da. Und das Ergebnis ist Phantomschmerz, der das Dasein verstört, egal ob es sich um den Verlust eines Körperteils, eines geliebten Menschen, eine Vertreibung aus der Heimat oder auch nur den Tod eines Haustieres handelt, das lange Zeit mit uns zusammenlebte.
Der Rauhaardackel meiner Mutter lag gewöhnlich im Wohnzimmer auf dem Sofa und sprang, wenn jemand die Wohnung betrat, herunter. Dann flitzte er in den Flur, um den Ankömmling zu begrüßen. Er bellte nur, wenn es geklingelt hatte.
Als der Bursche in die ewigen Jagdgründe einging, war diese stereotype Bewegung samt dem Geräusch der Pfoten immer noch da, als hätte der Dackel eine Spur in der Raumatmosphäre hinterlassen. Natürlich war der Vorgang nur in unsere Wahrnehmung eingewachsen. Jedes Mal, wenn wir im Wohnzimmer saßen und sich ein Schlüssel im Türschloss drehte, antizipierten wir den alten Gefährten. Mit dem Geist von Hamlets Vater ist es vielleicht ähnlich.
Kinder an die Macht?
So wenig es ein Leben ohne Interaktion geben kann, so wenig kommt Interaktion ohne Rituale und Routinen aus. Routinen hatte ich der Unterscheidung halber schon als zweckbestimmte Handlungen definiert, die im Gegensatz zu Ritualen keine sozialen Rollen definieren. Das Anschnallen im Auto ist eine solche Routine, das Frisieren vor dem Spiegel nur, wenn es nicht der Selbstinteraktion dient – also praktisch nie. Es ist normalerweise ein Ritual, sich seiner selbst zu vergewissern, ähnlich wie das „Selfie“.
Heben Sie nun mit mir einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.
Männliche Körpergröße begünstigt zwar eine Rollenverteilung nach dem Schema „Vater und Kind“. Sie wäre aber wirkungslos, wenn nicht entsprechende Rituale zwischen dem „Riesen“ und seiner Umgebung dieses Schema fortwährend reproduzieren würden. „Die anderen spielen den König“, das gilt für die kleine Prinzessin und ihre Spielkameraden wie für Kleinwüchsige in der großen Politik: wenn nicht Hofschranzen und politische Gehilfen die Korona des Patriarchen erzeugen, wenn es seine Feinde nicht sehr viel Mut kostet, sich ihm und seinem Klüngel entgegenzustellen, fehlt ihm das Wichtigste zu seiner Rolle. Und damit bin ich an einem wichtigen Punkt gelandet: beim Dominanzprinzip.
Der Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, den Absichten des Kindes nicht einfach zu folgen oder sie brachial zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf andere Ziele zu lenken. Das ist zunächst auch eine Form der Dominanz, aber dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je dauerhaft funktionierende Patentlösungen zu finden, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss, die Führung wechselt. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?
Frei wovon? – Frei wozu?
Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht.
Das Paradox lässt sich auflösen. Dazu braucht es nur eines: zu akzeptieren, dass es Erde, Sonne und Menschen nur gemeinsam und als Teil des Universums gibt und dass die Zeit nicht nach Uhren abläuft. Vergangenes ist unerreichbar, unabänderlich aber auch unverlierbar gewordene Realität, und die Zukunft ist nicht unbestimmt – sie ist nur unbestimmbar.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken vom Moment ihres Todes aus zurück. Sehen Sie die Zeit nicht mit dem Ticktack der Uhren ablaufen, sondern als Ihnen verfügbare Zeit, deren Maß ausschließlich Ihre Interaktionen mit der Umgebung sind.
Es ist schwer, sich vom Diktat der mechanischen Zerhacker freizumachen, nicht wahr? Dabei ist dieses Instrument erst seit etwa 200 Jahren jedermann an jedem Ort verfügbar; noch Ende des 18. Jahrhunderts machte sich der längst vergessene preußische Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel in einem Theaterstück über den „Mann nach der Uhr“ lustig.
Heute sind fast alle „Menschen nach der Uhr“, abhängig bis zur besinnungslosen Hatz nach Terminen. „Zeiteinteilung“ meint fast immer ein mechanisches Raster, das zu den Abläufen des Gestells kompatibel sein muss. Aber die verfügbare Zeit hat ein anderes Maß. Die Dauer eines Traumes, einer Geburt, eines Liebesaktes, eines schweren Konfliktes sind nicht mit der Stoppuhr zu messen. Denn wann genau sollte sie ein- wann ausgeschaltet werden? Wann beginnt der Traum vom Fliegen, wann endet er? Wenn Sie zurückblickend die Chance hätten, durch Streichen eines Ereignisses Zeit „zurückzugewinnen“ – wie wollten Sie das messen und berechnen? Dem mechanischen Verständnis fällt das scheinbar leicht:
„Die betrunkene Silvesternacht von 1969 ab Schlag zwölf bis vier Uhr früh streiche ich. Ich wende mich nicht der aufreizend hübschen Babsy zu, sondern stoße mit meinen Kumpels an und gehe irgendwann sturzbetrunken aber solo ins Bett. Damit mache ich den Neujahrstag zum Ausnüchtern und die folgenden Monate für das Studium verfügbar, promoviere erfolgreich und sterbe in einem schönen Haus im Grünen, statt in einer Mansarde in Berlin-Schöneberg“.
Wieviel Zeit gewonnen, wieviel Zeit verloren? Wenn der Tod in der Villa durch Herzinfarkt und zwanzig Jahre vor dem in der Mansarde eintritt? Wenn aber andererseits dem Doktor die Zeit erfüllt war mit Glück im Beruf und in der Familie und ihm „im Fluge“ verging, während sich der Glücksritter der Jugendjahre als alter Single dahingrämte?
Zeit ist keineswegs gleich Zeit, wie die mechanischen oder quarzgesteuerten Zerhacker glauben machen wollen. Vor allem: „zurückblickend“ nähert sich niemand der „Vergangenheit“, er entfernt sich definitiv von ihr immer weiter. Um seine Gedanken zurück wandern zu lassen, braucht er Zeit – die er im Moment des Todes gar nicht mehr hätte. Sie werden mir nachsehen, dass ich Sie erst jetzt über dieses Paradox stolpern lasse – falls Sie mir nicht längst auf die Schliche gekommen sind, weil Sie aufmerksam gelesen haben.
Wer dominiert – oder Was?
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. Sie wird meist unbewusst gefällt. Beim Zurückschauen ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Die Geschichtsschreibung und die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Diesem Prinzip ist der Mensch seinem Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt gegenüber einige Jahrtausende hindurch gefolgt, und er beherrscht sie mit seinem bewundernswert entwickelten Instrumentarium heute in Bereichen, von denen nur Visionäre vor hundert Jahren träumten. Überschall-flüge, Raumgleiter, Tiefseetaucher, Rasterkraft-Mikroskope für Millionstel Millimeter kleine Räume, Laserimpulse gewaltiger Energiedichte, die so kurz sind, dass sich 10–15 Sekunden kurze Prozesse im Zellinneren fotografieren lassen. In den Medien jagen sich die Meldungen von immer mächtigeren Wirtschaftsunternehmen und Supercomputern, gentechnischen Wunderwaffen gegen Krankheiten; bald sollen Roboter, so klein wie Bakterien, unsere Körper durchwandern, diagnostizieren und reparieren.
Aber immer noch mehr fesseln das Publikum und die für Werbeeinnahmen zuständigen Medienmanager Nachrichten von Katastrophen: Wirbelstürme, Killerviren, abstürzende Jets, Massenmorde, Erdbeben. „Wird es schlimmer?“ fragen die Journalisten mit Mienen voller Besorgnis, „Und wenn ja: Warum? Und wer ist schuld?“
Sie sollten sich damit nicht weiter quälen. Womöglich ist die Menschheit verurteilt, sich zu Tode zu siegen. Das wäre normal, denn jede Strategie ist eine Strategie zum Tod, wenn sie sich nicht ändern lässt. Solange Menschen dem Dominanzprinzip huldigen, die Welt als Maschine betrachten, deren Rädchen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung ineinandergreifen und nur nach dem Warum statt auch nach dem Wozu fragen sind die Tage menschlicher Existenz gezählt wie die Minuten eines Igels, der sich vor einem Vierzigtonner zusammenrollt.
Der Mensch: ein Gewohnheits- und Herdentier
Was sagt die Erfahrung? Frieden, der auf Unterwerfung gründet, ist brüchig. Aber es kann durchaus vorteilhaft sein, sich zu unterwerfen. Jeder Despot verspricht und gewährt den materiell und informell Leistungsfähigen Teilhabe an der Macht. Er bindet sie durch Rituale in die Herrschaft ein: Zugang zum Kreis der besser Gestellten und dessen Prestige, Zeremonien, Privilegien, Ämter, Orden und Ehrenzeichen… Aufstieg in die informelle Macht ist eine mindestens ebenso wirksame Droge wie Geld. Manche werden abhängig. Man könnte es Korruption nennen, aber dieser Begriff zielt zu sehr auf materielle Vorteile und übersieht die Bedeutung der informellen Korruption: Teilhabe an Herrschaftswissen und sozialem Rang.
Die Kehrseite: Erpressbarkeit, die Drohung mit Entzug. Das zugehörige Ritual ist der Pranger. Jedes Kind kommt schnell darauf, sein Geschwister bei Papa oder Mama zu verpetzen, oder einen der beiden beim anderen anzuschwärzen. Oder beide bei der Oma. Oder alle Deutschen, Muslime, Schwulen, Juden, Rechten, Linken, alten weißen Männer… – fügen sie hier Ihren bevorzugten Sündenbock ein. „Mit nützt, was anderen schadet“ kennt viele Spielarten.
Beim Pranger-Ritual zerstört das Kollektiv den Ruf des Denunzierten, er wird ausgeschlossen, mit nicht selten dramatischen Folgen. Nein hier geht es nicht um berechtigte Kritik, die ein qualifizierter, sogar unterhaltsamer Schlagabtausch sein könnte; es tobt impulsiver Kampf um informelle Dominanz. Das Ziel dauerhafter Rufschädigung macht den Unterschied. „Audacter calumniare – semper aliquid haeret“ hieß es bei den Römern: „Nur dreist verleumden, es bleibt immer etwas hängen“. Die „Social Media“ haben das zum Volkssport gemacht.
Es lohnt zu fragen, wer sich beim kollektiven Schmähen, Demütigen, Erniedrigen wohl eher hervortut: ein Freigeist oder ein devoter Subalterner?
Trutzburgen der Manipulation
Die rasch wechselnden Eiapopeia- und Grusel-„Narrative“ allgegenwärtiger Medien leben von heuchlerischen Mitleids- ebenso wie von Pranger- und Sündenbock-Ritualen. Sie lügen andererseits gern darüber hinweg. Sie vertrauen auf das Gewohnheitstier im Menschen, auf Herdenimpulse und – Vergesslichkeit.
Fast jeder richtet sein Verhalten unbewusst an dem von Nachbarn, Verwandten, Freunden, Kollegen aus. Massenmedien bieten im Repertoire möglichst quotenstarker Zerstreuung – mit Krimi, Sport und Talkshows rund um die Uhr – vertraute Gesichter „nahe am Zuschauer“. In Jahrzehnten wurden sie fast Familienmitglieder, viele Sendungen wurden rituell eingeschaltet, sie gewannen Vertrauen und übten sich darin, Gefühle zu bewirtschaften. Für Menschen im Osten waren sie Gegenspieler jener Figuren des Staatsfernsehens, die ich zum Beispiel nicht ins Haus ließ.
Seit „Medienmacher“ hierzulande versuchen, Einschaltrituale für Propagandazwecke zu nutzen, Informationen passend zu ihrer selbstgewissen „Haltung“ zu „framen“ – wie in Staatsmedien der DDR – und sich diese Form verblödenden sozialen „Hausfriedens“ als moralisches Verdienst anzurechnen, vertraue ich ihnen wie einst Karl-Eduard von Schnitzler.
Der rituelle Medienkonsum funktioniert trotzdem, weil kaum irgendwer sich nach Konflikten sehnt, fast alle sich aber gern im Fernsehen, Kino, im Buch oder Videospiel mitleidend den Verfolgten als Hüter der Gerechtigkeit gesellen und schadenfroh das Böse unterliegen sehen. Sie halten sich an die Moral der „Guten“ – Quoten dienen der Selbstgewissheit.
Für fast alle Konsumenten sind Krieg, Spucken und Schläge ins Gesicht, Vergewaltigung, Raub, Einbruch in die eigene Wohnung fern ihres realen Erlebens. Sie arbeiten sich aber gern emotional in virtuellen Räumen daran ab: lesend, zuschauend oder -hörend, Killer-spielend oder in den Scharmützeln der Social Media. Sie haben das alles jederzeit unter Kontrolle, so genießen sie den Kitzel von Angstlust und Schadenfreude. Falls sie bei Facebook, Instagram oder Twitter selbst einmal unter verbalen Beschuss geraten, gar in einen „Shitstorm“, erwacht jäh der Impuls, diesen Gegner auch unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Organisationen, die ihnen beizustehen versprechen, natürlich bieten sich – fürsorglich – der Staat, die ihm ergebenen Medien und von ihm finanzierte Körperschaften an. Sie übernehmen nicht nur die Zensur, sondern dazu den medialen Pranger.
Migration als Waffe
Inzwischen dringen hierzulande die weltweit brennenden Konflikte ins reale Leben ein. Das Vertrauen der Vielen in eine staatliche Ordnung, die sich das Gewaltmonopol vorbehält, wird erschüttert, wenn sie außerstande ist, es durchzusetzen. Polizisten sind längst permanent ebenso überfordert wie Staatsanwälte und Gerichte. Derweil blüht das Geschäft von Anwälten und „Experten“, die soziale Benachteiligung, kulturellen (religiösen) Hintergrund, persönliche Traumatisierung ihrer kriminellen Klientel wortreich zu deren Verteidigung ins Feld führen. Der Rechtsstaat kapituliert in immer mehr Fällen vor der schieren Masse notwendiger gerichtsfester Ermittlungen.
Manchen Staats-Führern dieser Welt gefällt es, wenn die Rechtsordnung westlicher Länder in Krisen gerät. Sie fördern deshalb illegale Migration – egal ob über den Balkan, das Mittelmeer oder Belorussland. Wer glaubt ernsthaft, dass es nicht im Interesse Putins ist, wenn seine Feldzüge in Syrien oder der Ukraine die Wirtschaft, sowie Rechts- und Sozialsysteme in fast ganz Europa unter dem Zustrom von Migranten ächzen lassen?
Die ideologischen Zwangsjacken herrschender Parteien in Deutschland kommen ihm ebenso zupass, wie den Hauptleuten organisierter Kriminalität und Extremisten jeglicher Couleur. Keiner wagt mehr, offensiv auf Übergriffe gegen die Rechtsordnung, gegen Leben und Eigentum der Bürger zu reagieren, denn Parteien sind nicht auf das Gemeinwohl fixiert, sondern auf den Erhalt und Ausbau ihrer Macht. Konkurrenz käme höchst ungelegen, daran ließ Angela Merkel, die „Alternativlose“ keine Zweifel. Jeder Orden für sie ist ein Ritual, sie und ihre Gefolgschaft darin noch im Nachhinein zu bestärken.
Im System aus Sozialistischer Einheits- und fügsamen Blockparteien der DDR waren Alternativen eliminiert, Sitzungen des Scheinparlaments „Volkskammer“ waren mustergültige Rituale der Unterwerfung. „GroKo“ und „Ampel“ lassen, anhand der Aktivitäten zur Zensur im Internet und zur Ermächtigung nichtstaatlicher Korporationen erkennen, wohin sie steuern. Der BND und der Verfassungsschutz mögen demokratischer Kontrolle unterliegen – eine wachsende Zahl von mit Steuern finanzierten und von Parteien oder NGO gesteuerten politischen Korporationen sind längst unkontrollierbar. Und sie zeigen erstaunlichen Ehrgeiz, unliebsame Meinungen nicht nur im bislang noch wenig kontrollierten Internet, sondern in der gesamten Kultur zu unterdrücken. Sie wollen eine außerstaatliche Zensur, sie wollen unangreifbar werden wie Öffentlich-Rechtliche Anstalten, deren Quotenfixierung, Versorgungsmonopol und Finanzgebaren seit langem ihren grundgesetzlichen Auftrag zur Farce werden lassen.
„Cancel Culture“ bedient sich inzwischen einer ganze Palette von Dominanzritualen: Verleumdung, Einschüchterung, moralische Erpressung mittels Kontaktschuld, Opfer- und Tugendposen, sprachliche und sittliche Vorschriften, dazu einer Flut von Gesinnungskitsch, der sie überzuckert.
Sie alle haben ihre Wirklichkeiten: Die Parteiführer, die Medienchefs, die Mitläufer, die wütenden Gegenspieler von der linken, rechten, feministischen, Gender-, Islam-, Irgendwiefundi-, Veganerfront. In diesen Wirklichkeiten werden genau jene realen Konfliktfelder ausgeblendet, für die sie keine Konzepte und Strategien haben. Die Realität aber hat eine unendlich scharfe, harte und unausweichliche Kante. Sie scheidet Wollen von Erfahrung, Wahnideen von Wissen. Wer mit der Realität in Konflikt gerät, wird am Ende immer unterworfen. Da helfen keine Phrasenrituale.
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