Qualität und Quantität, systematische Fehler und Statistik-Unwesen: Ein Exkurs

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #13

In Zeiten eines wahren Informations-Overkills wetteifern Massenmedien darin, dem Publikum Zukunftsprognosen anhand statistischer Modelle zu liefern – häufig basierend auf Umfragen. Konsumenten gieren nach diesem Stoff, die unverminderte Präsenz von Horoskopen, Kartenlegerinnen, Zahlenmystik und anderen Orakeln in fast allen Kulturen zeigt es. „Statistik-Experten“ in Talkshows oder Pressekonferenzen sind oft nicht glaubwürdiger. Werden aber Menschen hauptsächlich als statistische Größen behandelt, entfremden sie sich einander. Hilft dagegen Bürgersinn?

Qualität und Quantität, systematische Fehler und Statistik-Unwesen: Ein Exkurs

Was bedeuten die beiden Begriffe Qualität und Quantität? Das Lateinische quantitas lässt sich mit „Größe“ oder „Menge“ übersetzen. Für sich genommen hat sie soviel Sinn wie die Antwort „42“ in Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“. 42 ist dort letzte Antwort auf alle Fragen, sie bedarf nur einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren auf den besten Rechnern einer hoffentlich noch fernen Zukunft. 

Spaß beiseite: Ihren Sinn bekommt die Quantität erst durch eine Bezugsgröße wie etwa „Anzahl“, sie erfasst dann einzelne, wohlunterschiedene Objekte. Sie kann ebensogut Massen, Volumina, Temperaturen, elektrische Ladungen, magnetische Feldstärken, Impulse oder Energien veranschaulichen. Zu diesem Zweck wurden Maßeinheiten erfunden; nach jahrhundertelangem „Wildwuchs“ einigte man sich bei vielen – etwa aufs metrische System. Im Gegensatz zur Quantität, die selbst keine Qualität hat, entwickelten sich die Maßeinheiten mit den Anforderungen, die Märkte, Technik, Wissenschaft an deren Qualität stellen: Sie mussten vergleichbares, verlässliches Berechnen erlauben. Vielleicht hilft es, die Quantität von der Mathematik her anzuschauen, um sich ihr zu nähern.

Dinge, Zeichen, Zahlen und Maße

Spätestens wenn Mengen von Wasser, Sand oder Flächen erfasst werden sollen, also Volumina, Gewichte oder Anteile wird klar, dass die „Natürlichen Zahlen“ nur Quantitäten diskreter Objekte erfassen, für alle teilbaren Größen bedarf es der Bruchrechnung – „gebrochener“ Zahlen. Römische Ziffern wurden obsolet, sie taugen nicht für mathematische Berechnungen. Seit der Antike erweiterten sich die mathematischen Methoden fortwährend, ihre Qualität nahm zu, ohne dass der Grundbaustein, das Zählen, eigentlich der Unterschied von nichts und etwas, sich jemals erübrigte. Die gesamte digitale Technik mit ihren aus Nullen und Einsen bestehenden Algorithmen lebt bis heute davon. Vielleicht bedeuten Quantencomputer einen Sprung in der Qualität – aber ich kenne  mich einfach nicht genügend aus, um eine Vorhersage zu wagen. 

In jedem Fall muss, wer Mathematik betreibt, Zeit und Energie aufwenden. Zugleich steckt Mathematik in allem, was uns im Universum begegnet; es zu entdecken und zu beschreiben, also die innewohnenden Informationen zu enträtseln, ist eine aufregende Beschäftigung. Gern verweise ich hier noch einmal auf die Arbeit von Bernd-Olaf Küppers zur „Berechenbarkeit der Welt“ in Teil 5.

Der Mensch erfindet Mathematik nicht – so meine ich – er lauscht sie dem Universum nur ab und fasst sie in Zeichensysteme unterschiedlicher Gestalt. Diese beweisen dann, werden sie in Anwendungen auf Realitätstauglichkeit geprüft, ihre Qualitäten.

Eine „reine“ Quantität gibt es nicht, ebensowenig sind Qualität und Quantität austauschbar; sie sind komplementär: die eine gibt es nicht ohne die andere, so wie das Nichts nur als Abwesenheit des Etwas zu fassen ist.

Qualitäten zu erfassen erfordert andererseits, die Wechselbeziehung sämtlicher Eigenheiten eines Etwas – ob Elementarteilchen oder Zelle eines Organismus – mit inneren und äußeren Gegebenheiten („Randbedingungen“ nennt sie die Mathematik) im Auge zu haben.

Ränder und Grenzen

Jahrhundertelang war das Studium der menschlichen Anatomie auf Untersuchungen an Leichen angewiesen, der Vergleich zu heutigen Methoden zeigt enorme Fortschritte in der Medizin. Doch schafft jede Untersuchung besondere „Randbedingungen“. Sie sind beim Auswerten der Daten zu berücksichtigen. Zellen unterm Mikroskop verhalten sich immer noch anders als im lebenden Organismus. Forscher haben aus Laborstudien, aus der Beobachtung der Himmelskörper oder des Wetters gleichwohl immer bessere Modelle realer Vorgänge in der Natur, sogar für menschliche Verhaltensweisen entwickelt. 

Vielleicht kennen Sie das Milgram-Experiment. Es offenbarte 1961 bestürzende Einsichten in die Bereitschaft von Menschen, auf autoritäre Weisungen hin sadistischen Impulsen nachzugeben und gewissenlos zu handeln. Mindestens ebenso interessant sind aber auch dabei die „Randbedingungen“: Das Experiment wird immer noch diskutiert und um neue, genauere Beobachtungen ergänzt.

Die „vollkommene“ Qualität wäre also Eigenschaft des Universums, die sich unserer Beobachtung jedenfalls entzieht, weil wir außerstande sind, das Universum in Gänze zu quantifizieren, zu „berechnen“ und daraus ein – identisches – Modell zu entwickeln. Dagegen sprechen sowohl die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wie die „Unbestimmtheitsrelation“ der Quantenphysik: Es ist unmöglich, alle Informationen gleichzeitig zu gewinnen und zu verarbeiten. 

Dasselbe gilt für die Gesamtheit der Informationen über einen einzelnen Menschen. Selbst wenn höchst entwickelte Sensoren nebst Datenspeicher 1:1 aufzeichnen könnten, was in jeder Körperzelle geschieht: Sie müssten nicht nur genetische und epigenetische Prozesse in molekularer Dimension, sondern auch die Abermilliarden Interaktionen mit Mikroorganismen innerhalb unserer Organe, auf der Oberfläche und in der Umgebung – die Randbedingungen – erfassen. Die wahrhaft astronomische Datenmenge wäre aber schon im Moment des Erfassens obsolet: Versunken hinterm von der Lichtgeschwindigkeit bedingten Ereignishorizont.

Sie sind einschlägig vorgebildet und wenden ein, man könne ja vom gemessenen Zeitpunkt t, würde man über einige Zeit beobachten, auf einen Zeitpunkt t1 schließen? Dagegen spricht die Unbestimmtheitsrelation der Quantenphysik, die besagt, dass Ort und Impuls von Elementarteilchen nicht gleichzeitig genau messbar sind. Spätestens hier stößt das „Superlabor“ über die vollständige Vermessung des Individuums an unüberwindliche Barrieren. Und schließlich: kein Organismus, wie auch immer er „verkabelt“ sein mag, bleibt in der Verkabelung qualitativ unbeeinflusst: sie ändert die Randbedingungen. 

Jede Datenerhebung ist letztlich immer ein „Blick in den Rückspiegel“, die Welt ist in ihrem Lauf jeglichem Messvorgang voraus.

Erfolgreiche Hilfsmittel des Menschen im Umgang mit „Unberechenbarkeit“ sind die Konzentration auf überschaubare Ausschnitte der Realität, Simulationen und Modelle. Mit ihrer Hilfe lässt sich über Wahrscheinlichkeiten reden – vor allem, wenn es um Erwartungen an die Zukunft geht. Zu erörtern, welche Anfangs- und Randbedingungen zum jeweiligen Vorgehen gehören, ist für dessen Qualität mindestens ebenso wichtig wie seine Ergebnisse.

Das Elend der Prognosen

Systematische Fehler beim Versuchsaufbau im Labor, beim Konstruieren eines Modells oder einer Simulation, beim „Setting“ einer statistischen Untersuchung, können deren Qualität ebenso ruinieren, wie Auswertungsfehler. In den exakten Wissenschaften ist es üblich, Ergebnisse sehr sorgfältig daraufhin zu prüfen, wie sie zustande kamen und ob sie sich in vergleichbaren Experimenten verifizieren lassen. Der Zweifel ist gewissermaßen die unentbehrliche „Störung“, ohne die neue Erkenntnis nicht zu gewinnen ist. 

Soll menschliches Verhalten analysiert werden, machen die enorme Komplexität fast aller Vorgänge und die unvermeidliche Wechselwirkung zwischen Probanden – etwa Patienten oder Teilnehmern einer Umfrage –, Forschern, deren Auftraggebern und anderen möglichen Nutznießern das Auswerten und Verifizieren zu einem schier unerschöpflichen Quell von Streitigkeiten, gar Kämpfen um die Deutungshoheit. Systematische Fehler entstehen schon dadurch, dass subjektive Voreingenommenheit die Items einer Umfrage färbt, selektives Wahrnehmen obendrein ihre Ergebnisse.

In Zeiten eines wahren Informations-Overkills wetteifern Massenmedien darin, dem Publikum Zukunftsprognosen anhand statistischer Modelle zu liefern – häufig basierend auf Umfragen. Wie sehr Konsumenten nach diesem Stoff gieren, weiß jeder, der die unverminderte Präsenz von Horoskopen, Kartenlegerinnen, Zahlenmystik und anderen Orakeln in fast allen Kulturen kennt. Leider sind viele „Statistik-Experten“ in Talkshows oder Pressekonferenzen nicht sehr viel glaubwürdiger.

 Am Schluss des Exkurses empfehle ich die Arbeiten von Professor Walter Krämer. „So lügt man mit Statistik“, heißt sein wohl bekanntestes Buch von 2015. Es eröffnet einen reichen Erfahrungsschatz statistischer Irrtümer und Missgriffe, und Krämer erklärt gut verständlich, was die Qualität von Rückspiegeln – äääähhh – Wahrscheinlichkeits-Aussagen aufgrund statistischer Daten ausmacht.

Düsentrieb und Sorgenfalter

Wie wechselwirken individuelle Verhaltensmuster mit sozialen Randbedingungen? Worin unterscheiden sich die Strategien Einzelner von jenen der Kollektive? Das ist Aufgabenfeld der Politik. Und es ist DAS Konfliktfeld. Die Aussicht, dass Politik und Staat sich einmal erübrigen könnten, war nie zuvor utopischer. Wundert sich irgendwer, dass die Verteidiger der „reinen“ Marktwirtschaft ebenso katastrophale Schäden anrichten können wie die einer – totalen – Staatswirtschaft marxistisch-leninistisch-maoistischer Provenienz? 

Wer will, erkennt hier, wie sich in kollektiven Verhaltensmustern – im Sinne fraktaler Selbstähnlichkeiten – individuelle ausprägen. Sie könnten gewiss mühelos Organisationen nennen, deren Auftritt selbstverliebt, selbstgewiss, selbstgerecht und realitätsblind genug ist, um den aus Mythos und Psychologie bekannten Narziss trefflich zu inkorporieren. Seine Gefallsucht kann anziehen, er versteht, Wünsche zu wecken und zu verführen. Und nun fragen Sie nicht „warum?“, sondern „wozu?“: Das war einfach – oder?

Gegensätze sind im Leben freilich so wenig klar und einfach, wie es „reine“ Verhaltensschemata geben kann, aber auffällig sind immerhin gegensätzliche Strategien: die des Erlangens unter Inkaufnahme von Risiken und die des Vermeidens unter Inkaufnahme der Bewegungslosigkeit. Schon die Geschichte des Narziss illustriert, wie viele, scheinbar gegensätzliche Impulse zusammenwirken, um typische Strategien hervorzubringen. 

Zwischen Freiheit und Subalternität

Der Einsatz von selbständigen Unternehmern oder Freiberuflern ist nicht durch Tarifregeln begrenzt. Sie haben nicht mal einen garantierten Anspruch auf Urlaub oder auch nur „Freizeit“. Über ihre Risiken entscheiden sie selbst. Das kann die Existenz bedrohen – auch die anderer, und dafür haften sie. Im Abschnitt „Die Erschaffung des Angestellten“ haben Sie vielleicht schon verfolgt, wie die im und vom Gestell Lebenden dagegen persönliche Risiken zu minimieren, womöglich ganz zu vermeiden suchen. Ihre Verantwortung haben sie durch Delegieren eingeschränkt, das treibt wie die Warenwirtschaft – wie das Geld – jenen Prozess, der unter dem Begriff „Entfremdung“ bekannt wurde. Der Mensch wird dem Menschen, womöglich gar sich selbst, zum Objekt, zur Ware, zum austauschbaren „Rädchen im Getriebe“.

Wer unter der informellen und materiellen Vorherrschaft der Gestelle den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ nicht akzeptiert, sein Leben als „Arbeit an und für sich“ im Zusammenwirken mit anderen gestaltet, wer Freiräume und persönliche Verantwortung verteidigt – gegen das Streben der Gestelle nach innerer Stabilität und umfassender Kontrolle von Informationen –, wer nötigenfalls Regeln missachtet oder umgeht, wird Regulierern und Kontrolleuren automatisch verdächtig. 

Andererseits sichert ein solcher Gegenspieler deren Existenzberechtigung. So folgerichtig wie der „Ketzer“ dem Gottesstaat erwächst, erwachsen den Gestellen ihre „Whistleblower“, „Querdenker“, „Nestbeschmutzer“. Sie werden mit dem nämlichen Furor verfolgt. Die jeweilige Gegenseite wird sie zu Helden küren, falls sie damit öffentliche Aufmerksamkeit und neue Anhänger gewinnen kann. Falls nicht, muss sich der Betreffende in der Rolle des Außenseiters zwischen allen Stühlen zurechtfinden – und damit hat er womöglich noch Glück. 

Medien leben nicht zuletzt von Schadenfreude, also davon, andere beim Versagen vorzuführen; die eigenen inneren Konflikte und ihren Anteil am Scheitern von Alternativen sehen sie ungern beleuchtet. Dafür war die Corona-Krise ein ebensolches Lehrstück wie die durch ungebremste Migration herbeigeführte. Sie hat ihre schlimmsten Tiefpunkte noch vor sich.

Wer wendet den Kollaps ab?

Allmählich macht sich erfreulicherweise die Einsicht breit, dass diese Rollenspiele und Strategien in den Bankrott führen – nicht nur in den fiskalischen eines unvorstellbar überschuldeten Staates samt seinen Sozial- und Kontrollsystemen, sondern in den wirtschaftlichen und moralischen einer Gesellschaft, in der möglichst viele mit der Ein-Stellung leben „Heiliger Sankt Florian, verschon‘ mein Haus, zünd‘ andere an!“ 

Ob die von Marx, Lenin und ihren Adepten gesetzte Dichotomie zwischen „Arbeit und Kapital“ – fortlebend in „links und rechts“, „sozialem Fortschritt und Reaktion“, verallgemeinert zu „wir und die anderen“, also „Gut und Böse“ – die Wahrnehmung wieder dominieren wird bis zum Kollaps? 

Längst spielen Manager von Großunternehmen, Staat und NGO aller Art samt den ihnen hörigen Medienmachern nach denselben Regeln – denen des Gestells, wo ausschließlich korporative und Privatinteressen abgeglichen werden und politisches von wirtschaftlichem Kalkül längst nicht mehr zu trennen ist. Werden weiterhin Korporationen mit Gestellcharakter unwidersprochen fortfahren können, den einzelnen Menschen wie das Gemeinwesen moralisch zu dominieren, nicht mehr und nicht weniger als Kirchenfürsten die Gemeinde, Dorftyrannen ihre Clans? Werden sie weiterhin unterm Applaus ihrer „anspruchsberechtigten“ Gefolgschaft daran schmarotzen dürfen, was von anderen erwirtschaftet wird?

Sie und ich erleben die Krise dieses Systems, insbesondere des „Sozialstaates“, denn die Strategie der „Zukunftssicherheit“ aller als Gestell organisierten Korporationen hat Erwartungen angehäuft, die eine Volkswirtschaft einfach nicht mehr erfüllen kann. Ihre Zukunft ist verstopft: von den Gewinnerwartungen der Konzerne, dem Kündigungsschutz der Heere von Beamten und „Verwaltern“, den Forderungen der NGO-Gefolgschaften, denen der Beitragszahler an die Versicherungssysteme, den Fürsorgewünschen der Transfer-Empfänger. Ihre Zahl wächst immer schneller – wegen des Renteneintritts der „Babyboomer“, wegen erwartbarer Verwerfungen am Arbeitsmarkt, wegen von Kanzlerin Merkel und ihren Nachfolgern geöffneten Schleusen für Millionen Zuwanderer in die Sozialsysteme. 

Sie und ich: sind wir nicht fähig, unsere Strategien im Umgang mit Mandatsträgern, Behörden, Medien zu ändern, so manche Anspruchsberechtigung durch selbständiges, eigenverantwortliches Handeln abzulösen, das „mehr Desselben“ – auf allen Seiten –  beispielhaft zu verweigern, statt die folgerichtige Blockade nur zu bejammern? 

Die Qualitäten des Zusammenlebens liegen in den Händen jedes Einzelnen, nicht beim Kollektiv, bei Konzernen, Institutionen, Führungsfiguren: im alltäglichen Handeln ohne Salär und Orden, aber mit ansteckender Wirkung, wie sie sich bei den Corona-Spaziergängen gegen absurde Maßnahmen und Zwangsimpfung zeigten, ebenso bei den Demonstrationen der Landwirte, Mittelständler und tausender Sympathisanten gegen Politbürokraten in Berlin, Brüssel und anderen Hauptstädten der Bewohner von Elfenbeintürmen. 

Es sind die Qualitäten von Nachbarschaftshilfe bei Unfällen und Katastrophen, freiwilligen Diensten für Bedürftige, Aufmerksamkeit beim Vorbeugen gegen Gewalttaten und Schlampereien, es ist gegenseitige Rücksichtnahme UND Offenheit im Umgang miteinander, nicht zuletzt Offenheit gegenüber immer feudaler auftretenden narzisstischen Herrschern. Solcher Qualitäten bedarf es mit jedem Tag dringlicher.  

Ich kenne und schätze sie als Bürgersinn. Sie auch?

Das süße Gift der Quoten

Was ist „soziale Gerechtigkeit“? Wirklich die Frage einer quantitativen Gleichheit der Einkommen? Der „Gleichbehandlung“? Das Wort „Gleich-Stellung“ verrät, welchem Denken solche Vor-Stellungen entsprechen. Sie sind mechanisch, rein quantitativ, sie sind blind für das komplementäre Verhältnis zwischen Qualität und Quantität.  

„Und was wird aus den Schwachen?“ heißt es aus den Reihen sozialistischer Fürsorger. „Wollen Sie eine Gesellschaft der Ellbogen, der schonungslosen Konkurrenz? Wollen Sie Sozialdarwinismus?“ 

Höre ich da Mitleid? Oder handelt es sich nicht genau um das Mitleids-Ritual, verinnerlicht, um eigene Ängste und billigend in Kauf genommenen kollektive Risiken und Katastrophen ausblenden zu können, indem die eigene Verantwortung delegiert wird?

Die Fürsprecher der Barmherzigkeit sind gut angesehen, während sie auf unerfüllbaren Forderungen an kollektive Anstrengungen anderer beharren und die Sozialsysteme ausbluten lassen. Konflikte, die mit Schablonen von sozialer Gerechtigkeit und simpler Quotenmechanik nicht zu lösen sind, dürfen sie ignorieren. Auch die Bedeutung von Konkurrenz und den zugrunde liegenden Impulsen: Selbständigkeit, individuelle Freiheit und – bitteschön – Ehrgeiz. Schließlich sei die Frage erlaubt: Wer zahlt eigentlich für den Ehrgeiz und die Konkurrenzkämpfe bei den Fürsorgern?

Deutschland war nie das „Land der Dichter und Denker“. Die Großen erschufen ihre Werke nicht im Eiapopeia einer Kollektivanstrengung, sondern miteinander konkurrierend, oft genug aus existenziellen Konflikten heraus, im Widerstreit mit ihrem sozialen Umfeld, mit der Politik, last but not least mit sich selbst. Das gilt natürlich nicht nur hierzulande. 

Berühmt wird, wessen Arbeit im Interesse derjenigen liegt, die sich einen Zugewinn an Ansehen, sozialem Rang, informeller Macht davon versprechen. Sie erheben sich selbst moralisch mit dem Gefeierten, zehren gern vom Ruhm der Künstler, der Wissenschaftler, der Unternehmer, wenn sie möglichst konform zu eigenen Interessen agieren. Sie stürzen Helden auch ebenso rasch vom Sockel, wenn sie nicht mehr parieren. Der Star von gestern ist der Sündenbock von morgen, den Aasgeiern der Medien zum Fraß. Das ändert freilich nichts daran, dass wichtigste Quelle des Schöpfertums die qualitative Ungleichheit ist: die unverwechselbare, unersetzliche, vielleicht unsterbliche Individualität.

Deutschland ist keine Nation der Unternehmer mehr, sondern in bedrückendem Maß eine der an-gestellten Bedenkenträger, Regulierer, Kontrolleure, Verhinderer, Unterlasser. Aber niemand kommt auf die Welt, um An-Gestellter zu werden, und es darf als bewiesen gelten, dass Sozialismus vor allem Würdenträgern sozialistischer Parteien das Paradies auf Erden verschafft. In der DDR gab es davon reichlich. Sie bewirkten in ihrem Sicherstellungswahn die vollkommene Stagnation; das Land brach zusammen. Der Westen übernahm gern die Geschichte von den armen aber mutigen revolutionären Ostdeutschen, die den bösen Kommunismus besiegten und beglückte sie alle – auch Politbürokraten des SED-Staates – mit mehr sozialer Fürsorge als die DDR je hatte. Der Westen hat den Untergang des Sozialismus noch vor sich.

Unvollendet: Ein Umsturz ohne Gewalt

Den Bezirk Suhl im Südwesten der DDR kujonierten besonders engstirnige SED-Funktionäre. Auch in der „autonomen Gebirgsrepublik“ wurden Straßen und Schulen nach sozialistischen Säulenheiligen umbenannt, Geschichte geklittert, gewachsene Traditionen unterdrückt oder bis zum Vergessen ignoriert. Altstädte und Denkmäler verrotteten. 

Der Deutschlehrer Hans-Jürgen Salier war Ende der 80er Jahre in Hildburghausen einer der Mutigen, die dem wirtschaftlich, ökologisch, moralisch hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ in einem friedlichen Aufstand die Macht entwanden. Er gehörte dem Bürgerkomitee an, das die Stasi auflöste, gründete 1990 als Rentner den Verlag „Frankenschwelle“ und wurde zu einem bedeutenden Heimatforscher und Autor. Die drei Bände mit „Grenzerfahrungen“ enthalten einzigartige Dokumente der Regionalgeschichte entlang des innerdeutschen Todesstreifens, und Saliers Notizen aus der Zeit der Grenzöffnung beweisen, wie waghalsig, gleichwohl besonnen sich Bürger ihre Freiheit und Selbstbestimmung zurückholten. Sie übten keine Rache. Der Autor erspart dem Leser auch nicht die bittere Einsicht, dass die Apparatschiks der DDR samt Hilfstruppen in den Medien im vereinigten Deutschland seit 30 Jahren Karriere machen und reichlich ideologisch verblendeten Nachwuchs heranziehen konnten, der das Wort „Volk“ nur mit langen Zähnen über die Lippen bringt, die deutsche Sprache mit doktrinären Phrasen verunstaltet und Sozialismus als Verheißung proklamiert. Sie erfreuten sich nicht zuletzt in Thüringen politischer Wiedererweckung.

Hans-Jürgen Salier dürfen Sie in den Fußstapfen eines anderen berühmten Unternehmers in Hildburghausen sehen: Karl Joseph Meyer gab in seinem „Bibliographischen Institut“ nicht nur die berühmten Lexika heraus, er verlegte auch preisgünstige Auflagen klassischer Literatur, Bildbände mit Illustrationen aus aller Welt, und er bemühte sich  mit Leidenschaft unter hohem finanziellen und politischen Risiko um den Fortschritt im Eisenbahnbau. Beide engagierten sich für die Volksaufklärung, Meyer saß – wegen seiner Sympathien für die Revolution von 1848 und seines Eintretens für politische Reformen – monatelang in der Fronveste, Salier erfreute sich intensiver Überwachung durch die Stasi. 

2009 waren Hans-Jürgen Salier und ich gemeinsam in Hildburghausen unterwegs, für den SWR-Hörfunk entstand das Feature „Wikipedias Urgroßvater: Der Lexikon-Meyer“. Mir imponierten  Saliers Sachkenntnis sowohl wie seine Heimatverbundenheit. 2020 erschien „Im Land der Anderen. Begegnungen mit dem Sozialismus in der DDR im Leipziger Verlag des Sohnes Bastian. Der aufklärerische Impuls beider erstrebte keineswegs jene sich anbiedernde „trinkbare Information“, wie sie mir etwa der SWR-Fernsehdirektor im Quoten-Zeitalter fürs „Storytelling“ verordnet hatte. Im Gegenteil: Genaue Datierung, Fußnoten, Bezüge zu Personen sind mit der Sorgfalt des Dokumentaristen und Historikers vermerkt, es sind anspruchsvolle Texte; und sie werden – ebenso wie die „Grenzerfahrungen“ aus dem Bezirk Suhl an der Grenze zu Bayern und Hessen – wichtige zeithistorische Quellen bleiben. Für DDR-Unkundige erläutert ein Glossar am Ende des Buches Begriffe und deren Missbrauch im „Kaderwelsch“ der SED.

Hans-Jürgen Salier hat bis kurz vor seinem Tod 2021, unbeirrt von schwerer Krankheit, gearbeitet. Wohin die Entwicklung in Südthüringen gehen wird, ist noch ungewiss, aber dass an der Basis der Wunsch nach einem Ende der Politbürokratie, nach mehr Selbständigkeit, Meinungsfreiheit und verantwortungsbewusstem Handeln weiter wächst, ist unübersehbar. Die Bürger von Hildburghausen haben einmal die Erfahrung gemacht, dass noch so mächtige Parteien und von ihnen dominierte Medien nicht dauerhaft gegen das Volk regieren können. Eine Erneuerung „von unten auf“ ist möglich.

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