Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Das System der demokratischen Widersprüche #13
Schauen wir uns einen konkreten Fall an. Als in der Schweiz, dem Musterland der Demokratie, 2010 die «Ausschaffungsinitiative» für kriminelle Ausländer angenommen wurde, wurde deren Umsetzung durch die Legislative immer wieder verzögert, bis dann das Volk 2016 endlich «richtig» entschieden hat und eine Verschärfung des Ausländerrechts ablehnte. Nicht besser erging es einer Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», die Anfang 2014 die notwendige Mehrheit erhielt.
Die Schweizer Volkspartei, die die ausländerfeindlichen Initiativen unterstützte, empfand die offizielle Verzögerungstaktik als Skandal und forderte, Volksentscheide konsequent umzusetzen. Ob sie genau das gleiche Engagement aufbrächte, falls die Umsetzung eines politisch links verorteten Projekts behindert werden würde, sei hier bloß ein Zweifel am Rande. Man wolle, hieß es in einer Presseerklärung 2015, «Parlamentariern und dem Bundesrat in Erinnerung rufen, wer der Chef im Lande ist: Nämlich das Volk!»
«Das Volk!», das hört sich nach großer Homogenität an. Die Initiativen sind mit einer Differenz von kaum sechs resp. weniger als einem Prozent entschieden worden. «Das Volk!» schrumpft aber noch weiter zusammen. Die Beteiligung an den Initiativen lag jeweils nur knapp über fünfzig Prozent. Die Zustimmung beläuft sich demnach auf kaum mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten.
Nichtwähler werden üblicherweise der Mehrheit zugeschlagen. Das ist ein Trick, denn man könnte sie genauso gut zur Gegenseite rechnen. Wenn jemand die Wahl zwischen zwei Produkten hat und sich für keines entscheidet, wird er nicht gezwungen, das zu erwerben, wofür eine Mehrheit votiert. In allen anderen gesellschaftlichen Verhältnissen zählt die aktive Zustimmung, nur in der Politik wird der Indifferente gezwungen, das zu kaufen, was die Anderen ihm vorschreiben. Demokratie hat mit Freiheit nichts zu tun, sondern ist ein Herrschaftssystem.
Regional gesehen gab es sechs bzw. neun Kantone, die sich anders als die Gesamtschweiz entschieden haben. Auch hier erhebt sich die Frage, woher diejenigen Kantone, in denen die ausländerfeindlichen Initiativen angenommen wurden, das Recht nehmen, die ablehnenden Kantone den eigenen Regeln zu unterwerfen. Der einzige mir bekannte Versuch einer Antwort wird zwar allgemein unbefragt akzeptiert, stellt sich aber genauer betrachtet als rechtsphilosophischer Slapstick heraus, die Antwort nämlich, schließlich müsse in einem Land ein homogenes Recht herrschen.
Der Umstand, dass ein Sachzwang zu homogenem Recht sich auf historisch zufällige Grenzen bezieht, klingt allerdings merkwürdig. Die Staaten der Erde sind groß oder klein, teilweise sehr klein, und in jedem Staat gibt es ein eigenes Recht. Wenn die europäische Union sich dereinst zu Vereinigten Staaten von Europa oder zur Europäischen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entwickelt haben wird, gibt es auf diesem Gebiet einen «Sachzwang» zum homogenen Recht, der vorher Jahrhunderte lang nicht in Kraft war. Seit dem «Brexit» 2016 besteht umgekehrt kein Sachzwang mehr für eine homogene Gesetzgebung in europäischer Union und Großbritannien. Oder wenn Schottland aus Großbritannien ausbricht oder wenn Katalonien sich von Spanien abspaltet, hört der Sachzwang zum homogenen Recht innerhalb der Grenzen der ehemaligen Gesamtstaaten auf. Dieser Sachzwang ist kein objektiver des Zusammenlebens, sondern einzig und allein orientiert an einer zufälligen Staatsgrenze.
In der praktischen Durchführung der (verbindlichen) Volksabstimmung ist meist ein «Quorum» vorausgesetzt, das heißt, es muss ein gewisser Prozentsatz von Wahlberechtigten teilnehmen, damit das Ergebnis für die Politik verbindlich wird. So will man verhindern, dass Minderheitsentscheidungen sich durchsetzen, sofern die überwiegende Mehrheit an der Frage uninteressiert ist. Überdies gibt es in Volksabstimmungen meist nur zwei Optionen, ja oder nein. Auch das soll zu klaren Mehrheitsentscheidungen beitragen.
Dadurch ergibt sich die folgende paradoxe Situation: Nehmen wir an, es sehe erstens so aus, dass eine Volksabstimmung am Quorum scheitern könnte, und zweitens, dass die große Mehrheit derer, die zur Wahl gehen, mit Ja votieren wollen. Für den Gegner der zur Abstimmung stehenden Frage ist es in diesem Fall rational, dass er nicht wählt und somit darauf hinwirkt, dass das Quorum unterschritten wird. Pech hat er allerdings, sollte sich herausstellen, dass das Quorum erreicht wurde und zugleich doch eine nur knappe Mehrheit an Ja-Stimmen vorlag. Umgekehrt hat er Pech, falls seine Wahlbeteiligung dazu beiträgt, die Hürde des Quorums knapp zu nehmen, und es eine Mehrheit an Ja-Stimmen gibt.
Geht dagegen sein Kalkül auf, mit einem Fernbleiben der Wahl das Quorum zu verfehlen (während die Mehrheit der Abstimmenden das Ja-Wort gaben), half er auf diese Weise, dass die Meinung der (abstimmenden) Minderheit sich durchsetzen konnte. Üblicherweise behauptet man, wie gesagt, dass die Nichtwähler automatisch der Mehrheitsmeinung zustimmen. Hier haben wir den interessanten Fall des genauen Gegenteils. Nach libertärer Demokratiekritik ist es zwar Unrecht, die Mehrheit herrschen zu lassen, doch das Argument dieser Kritik lässt sich nicht umkehren, dass es Recht sei, wenn die Minderheit herrsche; denn es lautet, dass Herrschaft unrecht sei, egal wie sie zustande kommt, durch die Mehrheits- oder eine Minderheitsmeinung.
Bis weit in die 1990er Jahre hinein war die Forderung nach direkter Demokratie das Projekt von linken Umstürzlern. Spätestens seit es so scheint, dass weitere Einschränkungen des Asylrechts, härteres Vorgehen gegen Asylbetrüger und Wirtschaftsflüchtlinge, erleichterte Abschiebung usw., Ausstieg aus dem Euro, Widerstand gegen die Islamisierung, gegen die Brüsseler Bürokratie sowie gegen Masken- und Impfpflicht, Verhinderung der «Ehe für alle», Wiedereinführung der Strafbarkeit von Homosexualität, von Abtreibung und von Wehrpflicht mehrheitsfähig sein könnten, macht sich eine rechte außerparlamentarische Opposition die Forderung nach direkter Demokratie zu eigen. Die etablierte Politik, die in Deutschland teils immer noch von Protagonisten der ehemals linken außerparlamentarischen Opposition beherrscht wird, reagiert in gleicher Weise wie damals mit Entsetzen. Die Etikettierung als Rechtspopulist oder gar Rechtsextremer war früher einmal der Fahrschein ins politische Aus; diese Waffe aber ist inzwischen aufgrund ihrer Überbeanspruchung stumpf geworden.
Linke wie rechte Befürworter direkter Demokratie preisen sie auf ähnliche Art, meist jedoch zu verschiedenen Zeiten oder Anlässen, als ein Instrument, den wahren Volkswillen durchzusetzen: Verkrustete, bürokratische sowie korrupte Eliten der Parteien werden mattgesetzt und somit das demokratische Versprechen eingelöst.
Aber: Ist es denn wirklich besser, dass der Volkswille sich durchsetzt? Wenn wir das Wort Volkswille entmystifizieren, bedeutet es in Wirklichkeit, dass ein Teil des Volkes gegen einen anderen Teil des Volkes obsiegt, es sei denn, es läge Einstimmigkeit vor – dann aber käme es auf Modalitäten des Abstimmungsverfahrens nicht an. Für die Unterlegenen ist es kaum tröstlicher, dass in direkter Abstimmung der Mob über sie befindet, als wenn es ein einzelner Monarch oder Diktator oder wenn es eine Parteienoligarchie wäre. Das Klima von Unduldsamkeit kann nach dem Sieg des angeblich ganzen und geeinigten Volkes sogar unheimlicher und bedrohlicher werden.
Denn eine demokratische Mehrheit ist nicht einfach «das Volk» und schon gar nicht «der Volkswille». Kein Volk besteht natürlicherweise aus Mehrheit und Minderheit. Es setzt sich zusammen aus Individuen und sozialen Gruppen, die gemeinsame Interessen, kulturelle Hintergründe und dergleichen verbinden. Ob nun Bäcker, Kaninchenzüchter, Fließbandarbeiter, Gläubige einer bestimmten Konfession, Lyrikliebhaber oder welche Gruppe auch immer: Selten stellt eine per se die Mehrheit. Mehrheiten werden vielmehr mit dem demokratischen Verfahren hergestellt. Da spielt der Gruppendruck eine Rolle, vor allem aber die Angst, dass es einem selber Nachteile bringen werde, falls die Gegenseite «ans Ruder kommt». Alle vier Jahre können wir in den USA beobachten, wie es Kandidaten, die zunächst einmal nichts anderes als lächerlichste Figuren darstellten, beim Schlussspurt gelingt, ein Klima der Hysterie zu verbreiten, das der Wählerschaft suggeriert, als ob die Welt unterginge, sobald «der Andere» Präsident wird.
Doch sogar wenn es in einer bestimmten Frage eine natürliche Mehrheit in einer Gegend oder in einem ganzen Land gibt, etwa ein dominantes religiöses Bekenntnis, ist nicht einzusehen, warum diese Mehrheit ein Recht haben sollte, die Minderheit unter ihre Gesetze zu zwingen. Dies wird schnell klar, wenn wir ein Land mit z.B. einer moslemischen Mehrheit betrachten. Freilich, eine solche Mehrheit könnte zum Beispiel die Scharia als für alle gültige Rechtsgrundlage demokratisch durchsetzen. Aber sollten wir das als ihr Recht betrachten? Als den Volkswillen, der berechtigterweise sich per direkter Demokratie durchsetzen sollte?
Ein Problem der Demokratie besteht hierin, dass abgestimmt wird von Nichtbetroffenen über Betroffene. Ob Heterosexuelle die Scharia gegen Homosexuelle befürworten oder ihnen die Eheschließung verweigert zu sehen trachten, ob Besserbezahlte und Besserqualifizierte mit dem Mindestlohn den Arbeitslosen und den weniger Qualifizierten den Zugang zur Arbeit versauen, ob Gesundheitsfanatiker den Übrigen ihre Laster verbieten wollen, ob Staatsangestellte über die Regulationen befinden, die in der privaten Wirtschaft gelten sollen: In der Demokratie geht es ausschließlich darum, dass das Wahlvolk über Dinge sich auslässt, die es einen feuchten Kehricht angehen. Alle meinen, zu jeder Frage nicht nur eine Meinung haben zu dürfen, vielmehr auch das «Recht», sie zu entscheiden. Weder Sachkenntnis noch Betroffensein sind Kriterien für demokratische Abstimmung, sei es eine indirekte über Parteien, sei es eine direkte über eine einzelne Fragestellung in einem Plebiszit.
Einen Aspekt gibt es noch zu beachten, nämlich die durch die direkte Demokratie mögliche Dezentralisation der Entscheidungen. Sie macht ihren Vorzug aus. Obwohl es durchaus denkbar wäre, dass etwa ein Volksentscheid europaweit durchgeführt wird, haben Plebiszite die Tendenz zur lokalen Redistribution der Macht. Dies wirkt der Zentralisierung und Bürokratisierung entgegen, wenn man nicht Halt macht bei der Rückführung der Macht Brüssels in die nationale Souveränität, sondern weitere Dezentralisation eine Chance bekäme. Doch auch dann gilt: Es ist keineswegs sicher, dass lokale Entscheidungen zugunsten der Freiheit ausfallen. Vielmehr sind Re-Kommunalisierung von Dienstleistungen und Verteilung von staatlichen Wohltaten auf lokaler Ebene durchaus wahrscheinlich.
Das liberale Prinzip, der Staat solle, egal auf welche Weise etwas entschieden werde, möglichst wenig entscheiden und möglichst viel der Willkür der Bürger überlassen, wird im politischen Tageskampf zur beliebigen Knetmasse; es wird seiner grundsätzlichen Bedeutung beraubt. Wer glaubt, dass ein Volksbegehren erfolgreich die Privatisierung eines Versorgungsunternehmens rückgängig macht, wird dies Mittel einsetzen. Geht es dann aber um die Frage der Zuwanderung und die Mehrheitsverhältnisse liegen anders als gewünscht, redet die gleiche Person davon, dem Pöbel dürfe man nicht erlauben, über die Dinge zu befinden, die er nicht einschätzen könne. Derartige Inkonsistenzen werden oft der Gegenstand von Spott, manchmal von Empörung; wenn wir sie aber genauer betrachten, enthüllen sie die erschreckende Tendenz des demokratischen Staats: Diejenigen, die für eine Begrenzung dessen eintreten, was der Staat entscheiden dürfe, sind im politischen Tagesgeschäft stets in der Minderheit. Sie sind in der Minderheit und können bestenfalls mit juristischen Tricks eine Entwicklung verlangsamen, sie nie aber aufhalten. Die Mehrheit ist, solange sie politisch agiert, immer die, die für mehr Staat und damit mehr Repression eintritt.
Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Verschwinde Staat: Weniger Demokratie wagen, Berlin 2019.
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