Nachtgedanken eines kunstliebendem Klosterbruders

So ähnlich wie diese Überschrift lautet der Titel des heute wenig bekannten Werks von Wilhelm Wackenroder, das als Beginn der deutschen Romantik gilt: „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders” – Ersetzt man „Klosterbruder“ – nicht ganz zu Unrecht – durch „Rentner“, dürfte man nicht völlig falsch liegen: Vieles, was sich heute einem, der noch Zeit zur Reflexion hat, aufdrängt, hat etwas mächtig Düsteres.

Oft hat man ja das Gefühl, dass ein höheres Ich einem bestimmte Lektüren an den Ohrensessel spült. In meinem Fall war es der 1964 erschienene Essay Sebastian Haffners: „Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg”

Haffner gehört eindeutig dem vergangenen Jahrhundert an – was seine Gedanken aber nicht weniger gültig erscheinen lässt. Für diejenigen, denen der Name nichts mehr sagt: Sebastian Haffner (*27. Dezember 1907 in Berlin; †2. Januar 1999 ebenda; eigentlich Raimund Werner Martin Pretzel) war ein deutsch-britischer Journalist, Publizist, Schriftsteller und Zeitgeschichtler.

Seine Kurzbiografie laut Wikipedia schildert, dass Haffner, von Haus aus Jurist, sich in den 1930er Jahren dem Journalismus zuwandte. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er im Exil in Großbritannien und schrieb dort für den Observer, für den er in den 1950er Jahren als Korrespondent nach Deutschland zurückkehrte. Später wurde er Kolumnist für den Stern und verfasste zahlreiche biografische und zeitgeschichtliche Werke zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Besonders seine Arbeiten über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus haben bleibende Beachtung gefunden.

Grübeleien darüber, warum Kriege und Schlachten gewonnen oder verloren wurden, gehören zweifellos zum Standardrepertoire sinnender Rentner – zumal wir Deutsche einigen Grund haben, die fatalen, aber teilweise auch wohlverdienten Folgen eigenen Versagens zu überdenken.

Um es vorwegzunehmen: Haffner erhebt keine grundsätzlichen moralischen Einwände gegen Krieg als solchen. Er betont, dass selbst im Ersten Weltkrieg der Krieg im Sinne von Clausewitz als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ galt. Doch wenn man einen Krieg beginnt, so sollte dieser wenigstens gewonnen – oder zumindest nicht verloren – werden. Das deutsche Versagen lag laut Haffner in der Selbstüberschätzung der wilhelminischen Eliten und in klaren politischen Fehlentscheidungen.

Die Zeit bis 1914 beschreibt er als eine quasi goldene Ära Deutschlands: Der Aufstieg zur wissenschaftlich, wirtschaftlich und kulturell führenden Macht des europäischen Kontinents – aber auch eine Zeit fiebrigen Nationalismus‘ und Militarismus‘, eines zwanghaften Strebens nach Geltung und einem „Platz an der Sonne“, den andere Mächte der Weltpolitik längst besetzt hielten.

Haffner zeigt auf, wie sich Deutschland bewusst vom außenpolitischen Erbe Otto von Bismarcks abwandte – und so den Weg in die Katastrophe selbst bereitete. Zu nennen ist insbesondere die Kündigung des Rückversicherungsvertrags mit Russland und vor allem die zunehmende, fatale Konkurrenz mit der damaligen Weltmacht Großbritannien.

Es ist durchaus möglich, dass Haffner – als Exilant im Vereinigten Königreich – Englands Rolle etwas zu positiv darstellt, doch das sei hier nicht Gegenstand der Erörterung.

Haffner beschreibt den Kriegseintritt 1914 als die erste und größte „Todsünde“. Das Deutsche Reich trat nicht durch äußeren Zwang, sondern aus eigenem Machtstreben und politischem Kalkül in den Krieg ein – mit dem Ziel, zur europäischen Hegemonialmacht aufzusteigen.

Zentral ist dabei die Abkehr von Bismarcks außenpolitischem Kurs: Während dieser stets auf Ausgleich, Abschreckung und Isolation Frankreichs bedacht war und ein Bündnissystem schuf, das Frieden durch Gleichgewicht sicherte, verließ die deutsche Führung unter Wilhelm II. diesen Pfad. Man setzte auf militärische Stärke und aggressive Risikopolitik.

Diese Haltung – die sogenannte Politik der „freien Hand“ – isolierte Deutschland zunehmend und führte zur selbstverschuldeten Einkreisung, die Bismarck stets hatte verhindern wollen. Haffner erkennt darin eine gefährliche Mischung aus Arroganz und strategischer Kurzsichtigkeit: Man wählte den Krieg, weil man ihn für kontrollierbar und kurzfristig gewinnbar hielt.

Die zweite Todsünde war der Einmarsch ins neutrale Belgien, um Frankreich schnell zu besiegen. Damit wurde bewusst das Völkerrecht gebrochen – was nicht nur Großbritannien zum Kriegseintritt bewegte, sondern auch Deutschlands moralische Glaubwürdigkeit nachhaltig zerstörte.

Auch hier wird die Abkehr von Bismarcks Prinzipien deutlich: Während dieser auf Bündnistreue und Stabilität bedacht war, brach man nun mit Macht und Recht, wenn es dem vermeintlichen strategischen Vorteil diente. Das Ergebnis: eine totale Isolierung Deutschlands – moralisch wie politisch –, und eine diplomatische Rückkehr zum Frieden war schon zu Kriegsbeginn kaum mehr möglich.

Diese ersten beiden Todsünden machen deutlich: Der Erste Weltkrieg war kein schicksalhaftes Unheil, das über Deutschland hereinbrach, sondern eine Folge bewusster Fehlentscheidungen – insbesondere durch die Abwendung von Bismarcks kluger, zurückhaltender Außenpolitik. An deren Stelle trat ein aggressiver Nationalismus, der Deutschland in einen Krieg führte, den es letztlich nicht gewinnen konnte.

Weitgehend wird Haffner recht haben – und man fragt sich unweigerlich, welche dieser Todsünden heute wieder im Umlauf sind.

Seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs hört man allenthalben von „Krieg und Kriegstüchtigkeit“. Wehertüchtigung, Kriegstüchtigkeit – überhaupt Tüchtigkeit, ein Wort, das schon ausgestorben schien, vollkommen veraltet im „woken“ kollektiven Freizeitpark. Wieder richtet sich der Blick gegen Russland, wieder werden die eigenen militärischen Fähigkeiten überschätzt, wieder wird das Thukydides-Dilemma beschworen: Wenn wir bis 2029 nicht massiv aufgerüstet haben, kommt der Russe. 

Beispiel: Berliner Morgenpost vom 28.6.25: „Außenminister Johann Wadephul hat eindringlich davor gewarnt, die Bedrohung durch Russland zu unterschätzen. „Russland bedroht direkt auch unser Leben in Frieden und Freiheit in Deutschland“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. „Investitionen in unsere Verteidigung, genau wie Unterstützungsleistungen für die Ukraine, sind Investitionen in eine Zukunft in Frieden.“

Das Beispiel steht hier für unzählige andere derartige Äußerungen, die wie Maschinengewehrsalven auf den Leser niederprasseln: Man selbst stehe für Frieden und Freiheit, im Osten sei die Bedrohung. 

Geradezu archetypisch behandelt das Verteidigungsminister Pistorius. Über Putin sagt er: „Dieser Imperialist will keinen Frieden.”(AFP, Fr., 27. Juni 2025) 

Pistorius verteidigte beim SPD-Parteitag seien Kurs gegen Vorbehalte in seiner Partei: „Dieser Imperialist im Kreml will nicht verhandeln, er will keinen Frieden”, wiederholte er. Um Frieden zu gewährleisten, brauche es „immer die Bereitschaft beider Seiten”.

Pistorius erinnerte an das aggressive Vorgehen Putins gegen Georgien, dann an die Annexion der Krim, schließlich an die Vollinvasion der Ukraine mit einem „maximal brutalen” Krieg. Russland habe komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt, „Russlands Armee wird nächstes Jahr doppelt so groß sein wie vor Beginn des Ukraine-Krieges”, warnte Pistorius weiter.

Daher gehe es für Deutschland und die Nato aktuell auch nicht um Aufrüstung, sondern „es geht um Nachholen”, sagte der Verteidigungsminister. Auch er wünsche sich Frieden, „aber das macht sich nicht von alleine”. Putin verstehe nur eine Sprache, nämlich die der Stärke, mahnte Pistorius. Daher wandte er sich gegen eine „zwar verständliche, aber jetzt nicht hilfreiche Friedenssehnsucht”. Es sei weiterhin wichtig, die Ukraine zu unterstützen „und uns gleichzeitig zu schützen”.

Ich erspare mir die mögliche Diskussion und das ausführliche Zurechtrücken von Fakten, besonders auffällig in der Schuldzuweisung am Georgienkrieg. Man selbst will nur „nachholen“, der „Imperialist“ auf der Gegenseite führt eine „maximal, brutale Vollinvasion.“ – Sprachlich durchaus originelle Wortwahl. Wie sähe ein Halbinvasion aus?

Gegen Herrn Pistorius war Wilhelm II. fast noch diplomatisch. Die Presse marschiert – man muss es fast so sagen – im Gleichschritt, wie man es bisher für unmöglich gehalten hätte. Sogar die Schützenvereine heben die Flinten, um dem Obergefreiten-Minister Pistorius beizustehen. Wer da noch vom Frieden spricht, wird schnell zum Putinversteher, zum vaterlandslosen Gesellen oder zur Gesellin – Namen erspare ich mir. Die Friedenssehnsucht ist nicht „hilfreich“: Merkelsche Wortwahl!

Kann man Parallelen zur wilhelminischen Epoche ziehen? Kann man Bismarck durch Schröder ersetzen? Spürt man nicht wieder einen geistigen Uniformzwang? Ist nicht schon wieder der Heinrich Mannsche „Untertan“ gefragt? – Ich finde schon. Noch zu meiner Zeit als Wehrpflichtiger schämte man sich beinahe, in Uniform in der Öffentlichkeit aufzutreten. Diese Zeit ist vorbei. Oliv ist wieder „in“ und Skepsis „out“.

Natürlich glaubt niemand ernsthaft, dass hierzulande Bomben hageln werden. Ich erinnere an dieser Stelle aber an das lesenswerte Buch von Florian Illies: 1913. Es porträtiert die führenden Persönlichkeiten im Jahr vor dem Krieg. Keiner glaubte an den Krieg – außer, interessanterweise, Rudolf Steiner, der den „Braten“ roch.

Seine Vorträge über die Ursachen des Ersten Weltkriegs betitelte er mit Das Karma der Lüge. Und man hat durchaus den Eindruck, heute wieder in einem fiebrigen Lügengespinst gefangen zu sein – liest man die Zeitungen mit wachem Blick.

Noch zwei Punkte: Eine weitere Todsünde Deutschlands nach Haffner war der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, der den Kriegseintritt der USA – und damit den definitiven Untergang des Reiches – erzwang. Mir fällt dazu die Taurus-Debatte ein.

Und dann war da die Verletzung der belgischen Neutralität, die England in die Arena brachte. Es gab einst einen nach eigener Definition neutralen Staat im Osten – man will ihn in die NATO holen. Immer noch, wenn man Herrn Rutte glauben darf.

Seltsame Parallelen.

Die Frage bleibt: Erleben wir zuerst eine kriegerische Katastrophe – oder geht uns angesichts drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs und ausufernder Verschuldung zuerst die Luft aus?

Vor 1914 war Deutschland wirtschaftlich und militärisch ein Gigant. Und heute? Höchstens noch eine versiegende Finanzquelle – und ein möglicher Proxy für andere Interessen. Man ist vom „Heartland“ zur Peripherie geworden. Gottseidank, möchte man sagen – wenn man es denn endlich einsehen würde.

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1 Kommentar. Leave new

  • Nordlicht
    5. Juli 2025 14:13

    „Wie sähe ein Halbinvasion aus?“
    Bisher ist es eine Viertelinvasion. Wenn der Herr in Kiew nicht zur Einsicht kommt, wird sicherlich mehr draus.

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