«Deep State»: Lob der Bremsen für die Mehrheitsherrschaft

Das System der demokratischen Widersprüche #6

Den jeweils neu gewählten Volksvertretern, die das ganze Volk repräsentieren, schlägt oft die Beharrungstendenz des überkommenen Staatsapparats entgegen, so es ihnen um Innovationen zu tun ist.

Die stärkste Bremse für die regierende Mehrheit stellt die Bürokratie dar. Die Bürokratie ist zwar von der regierenden Mehrheit in der Vergangenheit eingerichtet worden und Teile des Personals wurden von einer früheren regierenden Mehrheit ins Amt befördert (der größere Teil allerdings kommt durch die Karriereleiter nach oben), das Personal der Bürokratie wird aber höchstens an der obersten Spitze mit der Wahl einer neuen Partei, einer neuen Koalition oder eines neues Präsidenten ausgetauscht. 

Die Behäbigkeit der Bürokratie ist richtigerweise Gegenstand von Kritik und auch Spott, denn diese Behäbigkeit führt zu verschleppter Anpassung an neue Umstände und zu einem Mangel an Innovationsfreudigkeit. Gleichwohl hat diese Behäbigkeit auch eine gute Seite: Sie schützt die Bevölkerung und besonders jene Teile der Bevölkerung, die der Regierung nicht zugestimmt haben, vor Veränderungswut und Fehlentscheidungen der jeweils neu Gewählten.

Wie man zu der Behäbigkeit der Bürokratie steht, hängt vor allem davon ab, ob man den gegenwärtig Regierenden inhaltlich zustimmt oder eben nicht. Gehen wir aus rein illustrativen Zwecken von der ungeeigneten Rechts-Links-Achse der Politik aus, so ist man als ein Linker bei einer rechten Regierung heilfroh, wenn Richter und Bürokraten der Regierung so viele Steine wie möglich in den Weg legen, man beklagt genau dies aber, wenn eine linke Koalition an die Regierung kommt. Und umgekehrt. 

In den letzten Jahren hat sich für diese politische Bremswirkung der Bürokratie der Begriff «Deep State» eingebürgert. Allerdings wird der Begriff meist so verwandt, dass er es erschwert, die Bürde der Demokratie zu benennen. Dies hängt an zwei Problempunkten. Zum einen wird die Bremswirkung des Deep State (also der Bürokratie) als ein Demokratie-Defizit angeprangert, so als ob die Lösung darin bestünde, die Bürokratie der kompletten Kontrolle durch die Regierenden zu unterwerfen. Spätestens aber, wenn dann die andere Partei an den Drücker kommt, wünscht man sich hingegen einen starken Deep State und beklagt, dass die neue Regierung ungebührlichen Einfluss auf die Bürokratie (oder auf die Gerichte) nehme. 

Der andere problematische Punkt im Deep-State-Begriff ist die Unterstellung, dass das Personal der Bürokratie aus persönlicher Bosheit sich untereinander verschwöre, um der als das reine Gute verkörpernden Mehrheitsregierung das Leben schwer zu machen. Die Bremswirkung der behäbigen Bürokratie ist dagegen gar kein Ergebnis der Entscheidung von einzelnen Bürokraten oder der Bürokraten in ihrer Gesamtheit, sondern des bürokratischen Systems. Genauso wichtig ist freilich die Einsicht, dass die Bremswirkung des Deep State die nicht regierende Opposition vor der übergriffigen Regierung schützt. Denn die Regierung kann der Opposition schaden; und sie tut es.

An dieser Stelle wird das Thema des Schadens brisant. Weil die Regierungstätigkeit nicht nur zustimmende Personen betrifft – sie mithin (im Gegensatz zu Tätigkeiten auf dem freien Markt) keine freiwillige Kooperation darstellt –, ist es ihr inhärent, Einzelpersonen und Personengruppen zu schaden. Entgegen der Demokratietheorie heilt die Regel, die Mehrheit möge die Tätigkeit der Regierung bestimmen, das Problem des Schadens nicht. Vielmehr ist es für den, dem geschadet wird, völlig einerlei, ob die Zufügung von Schaden durch einen Kriminellen, durch einen Diktator oder aber eben durch einen von der Mehrheit gewählten Präsidenten erfolgt. 

Selbst Demokraten gehen nicht davon aus, Mehrheiten würden sich per se freundlich und rücksichtsvoll gegenüber der Opposition verhalten; ganz im Gegenteil, die Demokratietheorie selber geht davon aus, die Mehrheit müsse mit Regeln gehindert werden, die Opposition – Minderheit – zu unterdrücken. Dass sie die Minderheit auch ausbeutet, ist etwas, dass die gängigen Demokratietheorien nicht reflektieren.

Mit dem Hinweis auf den Widerstand des «Deep State» gegen die aktuelle Regierung gibt man zu, dass sie eben nicht das ganze Volk repräsentiert. Dabei ist Begriff «Deep State» in sich selber problematisch und zwar in einer zweifachen Hinsicht: 

1. Zum ersten suggeriert er, dass es ein einheitliches Interesse der (oder von Teilen der) Staatsbürokratie unterhalb der politischen Regierung gäbe, was sicherlich nicht zutrifft; da bleibt der Begriff vom «militärisch-industriellen Komplex» präziser: Er bezeichnet die demokratisch nicht vollständig legitimierte Zusammenarbeit eines Teils der Staatsbürokratie, und zwar der militärischen Verwaltung beziehungsweise eines Teiles von ihr, mit einem Teil der Industrie, nämlich (Teilen) der Rüstungsindustrie. Dabei unterstellt man, dieser «militärisch-industrielle Komplex» entwickele eine unkontrollierte Eigendynamik.

2. Das zweite Problem im Begriff «Deep State» besteht darin, dass er das sicherlich generell vorhandene Beharrungsinteresse der Bürokratie gegenüber der jeweils aktuellen politischen Führung nur unter dem negativen Gesichtspunkt anspricht. Eine frisch gewählte Regierung, egal von welcher politischen Seite sie stammt, erbost natürlich das Widerstreben von Teilen der Bürokratie gegenüber ihren Reformversuchen. Die Anhänger dieser neuen Regierung prangern jedes amtliche Widerstreben postwendend als undemokratisch an; die Qualifizierung als undemokratisch ist dabei zweifellos richtig, denn die Bürokratie ist nicht gewählt worden, hat mithin keinen Auftrag von dem Wähler. Dennoch: Die Gegner der Neuerungsversuche, die in den meisten westlichen Demokratien ja die knappe Minderheit der abgegebenen gültigen Stimme hinter sich wissen, aber meist die Mehrheit der gesamten Wahlberechtigten ausmachen (denn die Wähler kleiner, nicht repräsentierter Parteien fallen unter den Tisch, und die Nichtwähler haben jedenfalls nicht explizit zugestimmt), sind heilfroh über die Bremswirkung, die die Bürokratie hat. So gesehen ist das konservative Beharrungsvermögen des «Deep State» in gewisser Weise auch ein Schutz der Bevölkerung vor der Willkür der gewählten Regierung. 

Diese Problematik kann man in letzter Zeit gut beobachten: Diejenigen, die, als Trump regierte, den «Deep State» dafür verantwortlich machten, dem Präsidenten Steine in den Weg zu legen, waren es dann, die einen Teil des «Deep State» (das Justizwesen) benutzten, um gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung vorzugehen, und es war die andere Seite, die über den «Deep State» jammerte, weil er die besten Absichten der Regierung behinderte. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Da Trump die Wahl gewonnen hat, werden die Harris-Anhänger versuchen, die Macht der Bürokratie als Bremse einzusetzen; hätte Harris gewonnen, hätten es die Trump-Anhänger getan.

Jene Gruppen, die nach Einfluss auf die Instrumentarien der Staatsgewalt streben, haben freilich keine homogene Interessenlage. Sie befinden sich mitunter in einem Wettbewerb, teilweise in scharfen, teils (bürger-) kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Vorstellung einer einzigen Weltverschwörung, die alle Regierungen unterjocht (bildlich: das oberste Promille oder die eine streng geheime Geheimgesellschaft gegen den Rest der Welt), ist zu simpel.

Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Wider den Triumph repressiver Egalität: Zur Anatomie gekränkter Herrschaft, Berlin 2023.

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