Das System der demokratischen Widersprüche #10
In der Januar-Folge dieser Serie habe ich die Verfassungsgebung der USA 1787 als Putsch gegen den Liberalismus beschrieben. Dennoch galt die Union weiterhin (und mit einem gewissen Recht) als Vorbild für demokratisch-freiheitliche Anstrengungen in Europa. In den 1820er Jahren bereiste der Franzose Alexis de Tocqueville (1805–1859) die USA und verfasste in den 1830er Jahren zwei immer noch berühmte, zwar weiterhin oft zitierte, aber doch selten genau gelesene kritische Berichte über die dortigen politischen Verhältnisse.
Zunächst ist es jedoch wichtig zu bemerken, dass er voller Bewunderung für die Institutionen dieser Republik ist, in denen Bürger ihre Selbstregierung erproben und ihr Selbstbewusstsein ausdrücken können. Die entscheidende Voraussetzung für solche Institutionen ist nach Tocqueville die Dezentralisierung der Macht.
Er setzt die amerikanische derart in Gegensatz zur französischen Revolution, die eine Zentralisierung der Macht herbeiführte. Allerdings analysiert Tocqueville zudem eine Gefahr der Demokratie, nämlich deren Umschlagen in eine «Allmacht» oder «Tyrannei der Mehrheit».
O-Ton Tocqueville: «Die Unumschränktheit liegt im Wesen der Mehrheit, in den demokratischen Regierungen, denn außer der Mehrheit kann ihr daselbst nichts Widerstand leisten.»
Hellsichtig erkennt Tocqueville schon 1836 den Mechanismus, welcher in der Demokratie den Konsens erzwingt, und zwar das Interesse der am demokratischen Prozess beteiligten Parteien, die Macht ihrem Willen anzupassen: «Alle Parteien sind bereit, die Rechte der Mehrheit anzuerkennen, weil alle hoffen, sie einstens zu ihrem Vorteil benutzen zu können.»
Anschließend entwickelt Tocqueville einen Gedanken, der die Demokratieerzählung an ihrem Ursprung erschüttert. Denn die Erzählung, die Herrschaft der Mehrheit würde den Machtmissbrauch, der anderen Regierungsformen vorgeworfen wird, ausschließen, entbehrt jeder Logik wie jeder Empirie: «Was ist denn die Mehrheit in ihrer Gesamtheit anders, als ein Einzelner, welcher Meinungen und oft sogar Interessen hat, die einem andern Einzelnen der Minderzahl entgegen sind? Muss man nun zugeben, dass ein mit Allmacht begabter Mensch solche wider seine Gegner missbrauchen kann, warum will man das Nämliche bei der Mehrheit nicht als möglich zugeben? Haben die in einer Staatsgesellschaft sich verbindenden Menschen darum ihren Charakter verändert? […] Wenn man gestehen muss, dass ein Volk wider ein anderes tyrannisch handeln kann, warum will man denn leugnen, dass die Parteien in einem gleichen Verhältnisse zu einander stehen können? Was mich anbetrifft, so werde ich, wenn ich einem Einzelnen, der als Mensch mir gleich steht, das Recht, alles zu tun, was ihm beliebt, nicht einräume, dies eben so wenig einer Mehrzahl zugestehen.»
Weit davon entfernt, die Staatsgewalt effektiv zu zügeln, ist die Demokratie, so bereits Tocqueville, ein Werkzeug, um sie zu entfesseln: «Was ich […] der demokratischen Regierung, wie sie in den vereinigten Staaten eingerichtet ist, zur Last lege, das ist nicht ihre Schwäche, wie viele Europäer behaupten, sondern vielmehr ihre unwiderstehliche Kraft; und was mir in Amerika am meisten widerstrebt, das ist nicht die dort herrschende höchste Freiheit, sondern die dort nicht anzutreffende Gewähr wider die Tyrannei.»
Unter der Überschrift «Wirkungen der Allmacht der Mehrheit auf die Willkür der amerikanischen Staatsbeamten» wird bemerkt: «Man muss hier die Willkür von der Tyrannei unterscheiden. […] In der Regel lässt das Gesetz den amerikanischen Beamten weit freiere Hände, als wir das in Europa gewohnt sind. […] Bisweilen erlaubt ihnen sogar die Mehrheit, auszuschreiten. Geschützt durch die Meinung der Mehrheit, und stark durch ihre Mitwirkung, wagen sie dann Dinge, wovon selbst ein an manche Willkürlichkeiten gewohnter Europäer erstaunt.»
Als Beispiel für die «Willkür der Magistrate unter der Herrschaft der amerikanischen Demokratie» führt er an: «In Neuengland können […] Magistrate in den Wirtshäusern die Namen der Trunkenbolde anschlagen, und bei Geldstrafe den Wirten verbieten, ihnen geistige Getränke zu reichen. […] Eine so strenge Sittenzensur würde das Volk in der absolutesten Monarchie zum Aufruhr bringen können, und in Amerika unterwirft man sich solcher Strenge ruhig.»
Nur selbstbewusste Bürger mit stark individualistischem Drang zur Unabhängigkeit, bewehrt mit Meinungs- und Pressefreiheit sind nach Tocqueville Barrikaden gegen die Herausbildung einer derartigen tyrannischen Allmacht der Mehrheit: Damit ruft er auf zu genau jenem Verhalten, von dem das aktuelle libertäre Milieu gekennzeichnet ist.
Die Formulierung «eine so strenge Sittenzensur würde das Volk in der absolutesten Monarchie zum Aufruhr bringen» verdient es, besonders betrachtet zu werden. Damals wie heute ist die politische und zu meisten Teilen sogar die soziologische Auseinandersetzung um die Frage von Demokratie und Diktatur auf den Aspekt der politischen Repression wie zum Beispiel die Einschränkung oder Negierung der Meinungsfreiheit reduziert.
Für weite Teile der Bevölkerung ist diese Frage allerdings kaum relevant, vielmehr stellt sich für sie die Frage, inwieweit ein Regime sie im täglichen Leben in Ruhe lässt, in Ruhe ihre Arbeit machen lässt, in Ruhe sich ihren Vergnügungen hingeben lässt, in Ruhe ihre Familienangelegenheiten regeln lässt. In dieser Hinsicht sieht die Bilanz der Demokratie schlecht aus, nicht nur bezogen auf die heutige Entwicklung, sondern, worauf Tocqueville hinweist, bereits im Anfang.
So weit, es als allgemeine Regel aufzustellen, dass Demokratien stets sich mehr in das tägliche Leben einmischen als Diktaturen, will ich keineswegs gehen: Diktaturen verbinden sich allzu gern mit religiösen oder säkularen Heilslehren, die Vorschriften bis ins kleinste Detail des täglichen Lebens machen. Doch bleibt festzuhalten, dass die Demokratie gegen diese Tendenz nicht schützt, sondern sie fördert.
Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Wider den Triumpf repressiver Egalität: Zur Anatomie gekränkter Herrschaft, Berlin 2023.