Die Freiheit des Ich

Protokolle der Aufklärung #2

Freiheit ist ein wohlklingendes Wort. Es ist in aller Munde. Es gibt Leute, für die ist Freiheit das höchste Gut. Sie nehmen dafür mancherlei Unannehmlichkeiten in Kauf. Für andere ist sie ein unerfüllter bzw. unerfüllbarer Wunsch. 

Viele Fragen zum Thema „Freiheit“ sind menschheitsgeschichtlich schon früh gestellt und im Großen und Ganzen auch stimmig beantwortet worden. Deshalb verlangt ihr Wiederaufgreifen und die Suche nach Antworten einen Rückgriff auf bereits Gedachtes. Dies aber nicht im Sinne eines kruden Konservativismus, sondern als Zurück an die Quellen menschlicher Welthabe und menschlichen Weltverständnisses. In mancher Überlieferung ist das Sprudeln dieser Quellen deutlich zu hören. 

Die frostige Seite

Die größte Nähe zur Realität hat immer noch jene Freiheitsvision, welche die klassische europäische Aufklärung erarbeitet hat. Im folgenden Text versuche ich, dieser Vision Kontur zu verleihen. Dabei ergeben sich viele Parallelen zu den Spätschriften Kants. Für Kant war Freiheit „seine wichtigste Denk- und Lebensmaxime“ (Ernst Cassirer, Manfred Geier, Matasaka Oki). Dafür nahm er persönliche Nachteile und Risiken in Kauf. Kant war es auch, der herausfand, dass es einer radikalen geistigen Verwandlung bedarf, um das Wesen der Freiheit und die Folgen daraus für das persönliche Handeln und dessen Normen vollständig zu erfassen. Die Folgen sind nicht immer für jeden erfreulich.

Ein rigoroser (der eigentliche!) Freiheitsbegriff versetzt in eine Welt, die den meisten von uns fremd ist, manchmal sogar unheimlich und bedrohlich erscheint. Wir führen das Wort „frei“ zwar oft im Munde, ignorieren aber gern die Folgen, die aus dem Einstehen für die Freiheit und bei der Verwirklichung eines wahrhaft freien Lebens erwachsen. Freiheit hat auch eine frostige Seite. Mit dieser konfrontiert, fliehen wir schnell in Stallwärme und Sicherheit. Noch immer gilt das Wort des Jean Paul Sartre: „Freiheit ist ein Gut, dessen Anwesenheit weniger Vergnügen bereitet, als seine Abwesenheit Schmerzen“. 

Direkt zu sehen bekommen wir die Freiheit nicht. Als etwas Bestimmtes vorstellbar ist sie auch nicht. Sie entzieht sich jeder konkreten aktiven Zuwendung. Freiheit ist nirgends zu entdecken, jedenfalls nicht im Sinne eines Phänomens. Sie gehört nicht zur empirisch erfassbaren Natur des Menschen. Von manchen wird deshalb behauptet, Freiheit sei pure Fiktion. Es gäbe sie nicht. Dagegen spricht: Sie ist intensiv und innigst erlebbar, und zwar anlässlich ihres Nichtvorhandenseins, etwa bei der Behinderung der eigenen Aktivitäten durch andere Menschen. Wir leiden überall dort, wo unser Wollen unzulässig durch Andere behindert ist – in Gefangenschaft, bei Unterdrückung, unmäßiger Gängelei oder auf dem Folterstuhl. Die Sehnsucht nach Freiheit entsteht „aus dem Gefühl des Mangels derselben“ (Wilhelm von Humboldt). Deshalb spricht man von ihr auch von einer Kerkerblume. Sie erblüht, wenn wir in Knechtschaft leben. 

Freiheitsbegabte Wesen

So wie es für das Ich kein Sinnesorgan gibt (siehe mein Beitrag „Die zwei Seiten des Ich“), gibt es ein solches auch für die Freiheit nicht. Insofern lässt sie sich wissenschaftlich nicht erforschen. Einige Highbrows meinen dies zwar, wenn sie mit hochkomplizierter Gerätschaft nach der Freiheit in unseren Köpfen suchen. Demgegenüber kann nur immer wieder betont werden: Freiheit ist nur an ihren Auswirkungen zu erkennen und dann auch nur negativ, nämlich als Leiden. Sie ist trotz ihrer Unerforschbarkeit eine durchaus spürbare Kraft. Und jeder muss sich fragen: Wie kann diese Kraft so nachhaltig auf uns einwirken, obwohl wir nichts von ihr erkennen? Wie kann sie ganze Gesellschaften in Aufwallung versetzen? Wie kann sie das Verhältnis des Ich gegenüber der Gesellschaft gar völlig zerstören?

Wir werden aggressiv, wenn wir von anderen bevormundet werden. Wir wenden uns ab, wenn jemand versucht, uns zu manipulieren. Bei Verhandlungen setzen wir voraus, dass unser Verhandlungspartner willens ist, „nachzugeben“. Er setzt Gleiches bei uns voraus, wodurch wir uns bedrängt fühlen. Das alles sind reale Erscheinungen und Erlebnisse. Aus dieser Realität heraus schließen wir, dass es etwas in uns gibt, das bestimmte Beschränkungen nicht erträgt. Wir nennen es Freiheit und sehen in ihr eine Gabe der Natur. Wir unterstellen beim Menschen zumindest so etwas wie Freiheitsbegabung.

Der Versuch, Freiheit real dingfest zu machen, endet –wie David Hume und Immanuel Kant gezeigt haben – in der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit (Kausalität). Diese Antinomie ist der Kern des Freiheitsproblems. In ihr tritt der Gegensatz der Wirkkette mit unendlichem Fortgang und der Wirkkette mit einem ersten Anfang voll ans Licht. Die Antinomie ist bis heute nicht widerlegt und wohl auch nicht widerlegbar. Sie ist offenbar zwingend. Mit dem Hinweis auf die Antinomie baut hauptsächlich Kant vor der eilfertigen Wissbegierde in Sachen Freiheit eine Mauer auf: Unser Geist mag zwar über unser angestammtes und klar umgrenztes Erkenntnisfeld hinausschweifen (was er übrigens gern tut), aber Freiheit wirklich erkennen, das können wir nicht. 

Wir sehen immer nur notwendige Zusammenhänge und Abläufe in der Natur und in unserem Leben. Also sind alle Versuche, Freiheit mit den Mitteln der Naturerkenntnis, z. B. auch mit Hilfe entsprechender technischer Geräte, beweisen oder zu bestreiten zu wollen, nichts als vorschnelle Anmaßungen. Jedes Ansinnen, Freiheit mittels der Sinne oder der Vorstellungskraft zu erfassen, endet in der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit. 

Selbstbewirkt

Um angesichts dieser misslichen Situation weiterzukommen, führt uns Kant einen langen Weg, den wir hier nur grob nachzeichnen können. Auf diesem Weg hat er die Fußangeln beseitigt, die die Antinomie umschlingen. Zunächst erinnert er uns daran, dass der Freiheitsträger immer ein bestimmtes Ich ist, und nicht ein Verein, eine Gruppe, eine Gesellschaft oder Ähnliches. Welche Beobachtung liegt hier zugrunde? 

Wie oft am Tage sagen wir „ich“! Wir sagen: ich laufe, ich esse, ich forsche, ich erkenne … und vor allem – ich will. Wir sagen nicht etwa „es läuft mich“, „es isst mich“, „es will mich“, sondern ganz dezidiert „ich laufe“, „ich esse“, „ich will“. Das heißt: ich bin es, der läuft; ich bin es, der isst, ich bin es, der will usw. Damit drücken wir einen bestimmten Erlebnisgehalt aus: ich erlebe mich selbst als Quell des Laufens, des Essens, des Wollens usw. Ich erlebe mich als Verursacher all dieser Aktivitäten. 

Ohne auf die Untersuchungsergebnisse des oben genannten Beitrags noch einmal einzugehen, halten wir fest: Wir sind nicht nur Auswuchs („habitus“), sondern auch Ausgang unserer Aktivitäten („persona“). Das dokumentieren wir im Ich-Sagen.

Das Ich-Sagen ist zunächst unreflektiert. Erst in der Reflexion erleben wir uns als spontan agierende Wesen. Sofern sich das Ich als „nacktes“ Ich sieht, weiß es von sich als einem Zentrum seines Lebens, weiß von sich als einem Erzeuger all seiner Handlungen und Reden. Aber nicht nur das: Wir erleben unser spontanes Handeln außerdem als selbstbewirkt, d. h. als autonomes Ereignis. Diese Autonomie im Blick, spricht Kant von Freiheit: „Mit der Idee der Freiheit ist … der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden“. Autonomie und Freiheit sind für ihn „Wechselbegriffe“. Sofern das Ich hinsichtlich seines Handelns spontan ist, ist es der Ort der Freiheit. Freiheit ist Spontanautonomie. 

Für das umfassende Verständnis der Freiheit ist ein klares und deutliches Ich-Bewusstsein unerlässlich. Die Freiheit gehört nicht zur empirisch erfassbaren Natur des Menschen, zu seiner Physis. Sie gehört zum Ich. Freiheit ist also – genau wie das Ich – meta-physisch (siehe mein oben erwähnter Beitrag). Dennoch ist sie für jeden irgendwie präsent – bei der Behinderung der eigenen Aktivitäten durch andere Menschen. Anlässlich solcher Behinderung erhalten wir zumindest ein Gespür für so etwas wie Freiheit. Dieses Gespür und schließlich das Wissen um die Freiheit ist eine Reaktion auf eine naturwidrige Aktion, die gegen das Ich gerichtet ist. Erst in der Folge dessen erlebt sich das Ich als Freiheitsträger. 

Die Möglichkeit nein zu sagen

Hinter der Antinomie „Freiheit und Notwendigkeit“ verbirgt sich ein Rätsel:  das Rätsel des ersten Anfangs. Was hat es auf sich mit dem ersten Anfang? Denn einen ersten Anfang müssen wir denken, wenn wir von Freiheit reden. In der Antinomie steht Freiheit gegen Nichtfreiheit. Dieser Widerstreit kann aufgelöst werden, und zwar dann, wenn die Geistesentwicklung an den Punkt gelangt ist, wo die beiden Ich-Aspekte physisches Ich (Ort der Notwendigkeit) und meta-physisches Ich (Ort der Freiheit) unterschieden werden können. Nur dann stehen sich Freiheit und Notwendigkeit nicht entgegen. Vor dem Hintergrund der Dualität des Ich lassen sich Freiheit und Notwendigkeit durchaus zusammendenken, und zwar ohne dass die prinzipielle Unaufhebbarkeit der Antinomie berührt ist. Das Ich ist frei nur als persona, nicht aber als habitus. Als habitus ist es stets der Naturkausalität („Notwendigkeit“) unterworfen. 

Freiheit bedeutet konkret: Wir können in eigener Regie Pläne schmieden und Verträge abschließen, in denen wir uns selbst Pflichten auferlegen. Wir können unabhängig von Anderen Entscheidungen treffen. Jede Preisverhandlung zwischen zwei Handelspartnern (Ermittlung des Wertes eines Tauschobjekts) wird u. a. von der Befürchtung umgetrieben, dass der Andere aus dem erwünschten Geschäft aussteigt. Diese Befürchtung, die immer auch die Freiheit des Anderen in Rechnung stellt, diszipliniert die Handelspartner. Freiheit zeigt sich hier als das Wissen um die Möglichkeit – sowohl von mir als auch von Anderen – nein zu sagen. 

Auch beim Abwägen, also dort, wo es um das Hin und Her einer Entscheidungsfindung geht, kommt Freiheit ins Spiel. Es ist unmöglich, den Entscheidungsvorgang z. B. zwischen dem Genuss einer Sahnetorte und dem Einhalten eines Diätplans ohne vorausgesetzte Freiheit zu beschreiben. 

Der Übergang in die Realität

Aber vor allem – und das ist der bei weitem wichtigste Aspekt in Sachen Freiheit – wir können uns unbeeinflusst Ziele setzen. In der Freiheit leben, das meint vor allem: in der Möglichkeit freier Zielsetzung leben. Das Ziel einer Handlung ist eine bestimmte Vorstellung, die nirgendwo sonst als in einem Ich ihren Ursprung hat. Ziele geben unserem Handlungswillen die Richtung vor. Kant betont immer wieder, dass die Spontanautonomie, so irreal sie uns auch erscheinen mag, eine Kausalität für den Realbereich darstellt. Das selbstgesetzte, nichtgegenständliche Ziel (Idealität) dient als Anweisung für gegenständliches Handeln (Realität). Die Zielvorstellung ist der Berührungspunkt zwischen Idealität und Realität. Mit dem Erzeugen einer solchen Vorstellung, d. h. einem Akt unserer Spontaneität, ist die Brücke geschlagen von der Welt des Geistes (Meta-Physis) in die Welt der Natur (Physis). 

Ist ein Ziel vorgegeben, dann bedarf es der Teilziele, die in Gestalt einer Kausalkette das Erreichen des Ziels ermöglichen. Das Finale hingegen (das Ziel der Handlung) ist frei gesetzt. Über die Zielsetzung wirkt die Freiheit (Spontanautonomie) in die Realität hinein. Damit ist der Übergang möglich von der Idealität in die Realität. Aufgrund dieser Setzung ist Freiheit als Realstimulanz erlebbar. Die Zielvorstellung ist der Beginn einer Kausalkette in der Realität. Hier zeigt sich: Freiheit ist nichts anderes als eine besondere Form von Kausalität. Dieser Umstand ist immens wichtig für die Instanz, die das menschliche Handeln steuert. Und das ist unser Wille. 

„Der Wille ist eine Art Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen ist, durch den Einfluss fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden“ (Kant). Der Wille ist das sogenannte „Begehrungsvermögen“. Frei ist dieses Vermögen nur, sofern es z. B. den frei vom Ich gesetzten Zielen folgen kann. 

Freiheit von, Freiheit zu

Freiheit bemächtigt den Willen, ein Handeln auch zu unterlassen und zu hemmen. Andernfalls folgten wir ungebremst den inneren und äußeren Anreizen, den bedingten und unbedingten Reflexen, und belästigten damit unsere Mitwelt. Anreize steuerten uns so, wie sie die Tiere steuern. Mit der Freiheit des Willens ausgestattet sind wir in der Lage, den Sinnesanreizen zu entkommen und die Steuerung selbst zu übernehmen. In der Lenkung unseres Willens sind wir autonom. So ist der freie Wille die wichtigste Voraussetzung für normgerechtes Verhalten. Es setzt voraus, dass die Kausalkette an einer Stelle unterbrochen ist, nämlich im Ich, in der Person. So ist zu verstehen, dass die Person selbst als Verursacherin bestimmter Handlungsvollzüge fungiert. Eine Freiheit, die in der Realität wirksam sein soll, basiert auf dem Zusammenspiel von Autonomie und Kausalität. 

Eigenspontaneität ist etwas, das wir auch für alle anderen Lebewesen annehmen. Wir können sie bei ihnen zwar nicht sehen. Aber aufgrund der bei uns selbst beobachtbaren Gegebenheiten setzen wir voraus, dass auch bei ihnen das Handeln durch Eigenspontaneität verursacht. Diese ist aber nicht autonom, wie mannigfache Experimente beweisen. Die Autonomie der Spontaneität (das, was wir Freiheit nennen, s. o.) finden wir allein beim Menschen, und zwar wohl deshalb, weil er in der Lage ist, seine Eigenspontaneität im Ich-Sagen zu vergegenständlichen. Der Mensch kann sein Ich und seine Freiheit nicht sehen. Er kann sie aber erleben und sprachlich, also rein symbolisch, zum Objekt machen.

Aus all dem ist ersichtlich: Das Ich ist zwar der Freiheit teilhaftig. Aber Freiheit ist kein Merkmal des Ich in dem Sinne, in dem wir von sinnlich präsenten Eigenschaften sprechen. Das Ich (als „intelligibles“ Ich!) lebt in der Freiheit. Es lebt darin, obwohl seine Freiheit als reale Erscheinung nicht zu fassen ist. Es lebt darin aber nur dann, wenn es aus seiner Freiheitsbegabung etwas macht. „Denn die Freiheit ist inhaltsleer. Wer sie nicht zu benutzen weiß, für den hat sie keinen Wert“ (Max Stirner). 

Willensfreiheit lässt sich – genau wie das Ich, dem sie angehört – nicht erkennen, auch wenn einige Wissenschaftler dies glauben. Die einstmals angestellten sog. Libet-Experimente werden so gedeutet, dass damit die Freiheitslosigkeit beim Menschen erwiesen sei. Bei den Experimenten wurde beobachtet, dass unser Hirn schon aktiv ist, bevor wir eine bestimmte Entscheidung treffen. Daraus folgerte man, dass es einen freien Willen nicht gibt. Diese Folgerung erscheint nicht nur voreilig, sondern geradezu absurd und darf angesichts sonstiger Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen, unbesehen verworfen werden. Willensfreiheit ist physisch nicht festzumachen, jedenfalls nicht im Sinne eines empirisch Fassbaren. Die intelligible Seite des Ich ist es offenbar, der wir unsere Freiheitsbegabung zusprechen müssen. Das gibt immer wieder Anlass zum Streit. Der Streit inspirierte die britische Hirnforscherin Susan Greenfield zu dem Bonmot: „Wer denkt, er habe einen freien Willen, der hat einen freien Willen.“ 

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