Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung”

Protokolle der Aufklärung #12

Am 24. Mai wird die deutsche Bundesverfassung 75 Jahre alt. An verschiedenen Orten wird an diesem und den Folgetagen gefeiert. Im Internet lesen wir dazu (aus dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung): Das „wichtigste Buch Deutschlands“ habe uns „Freiheit, Frieden und Demokratie“ gebracht. Die Entwicklung auf der Basis des „Grundgesetzes“ sei „eine Erfolgsgeschichte“. 

Die Leser meiner bisherigen Sandwirt-Beiträge wissen, dass ich eine Vorliebe für Erörterungen grundsätzlicher Art habe. Das führt oft zur Ernüchterung bei der Einschätzung aktueller Situationen und Aussagen. Zu diesen zählt die Rede von der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und dass man sie auf jeden Fall erhalten müsse.

Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (Nach dem Wortlaut des „Grundgesetzes“ müsste es eigentlich heißen: freiheitliche demokratische Grundordnung) ist das politische Qualitätssiegel unserer Zeit. Für ihre Befürworter wird mit diesem Begriff alles Gute der Zwischenmenschlichkeit zum Symbol. Andere sehen in ihr einen Baum, an dessen Krone die Blätter verwelken. 

Der Zwiespalt zwischen beiden Auffassungen ist Anlass, zu fragen: Was hat es auf sich mit der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“? – Die Frage richtet sich nicht nur an unser, sondern an das allgemein im Abendland verbreitete politische System. Sowohl die Entstehungs-, als auch die Organisationsregel dieses Systems sind im Großen und Ganzen überall gleich. Um Rückschlüsse auf den Charakter der in Deutschland gerade gefeierten „Grundordnung“ ziehen zu können, werfen wir noch einmal einen kurzen Blick auf diese Regeln. 

Die Entstehungsregel des Systems

Die Entstehungsregel des „Systems“ ist die kandidatengebundene Listenwahl. Auf diesem Weg wird die politische Obrigkeit bestallt – zunächst in den Parlamenten. Mit der kandidatengebundenen Listenwahl wird, das hatte ich in früheren Sandwirt-Beiträgen („Protokolle der Aufklärung” #5 bis #9) gezeigt, das Grundrecht der Freiheit (das so genannte „Menschenrecht“) in gröbster Weise verletzt, vor allem durch die Missachtung so elementarer Rechtsprinzipien wie Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit. 

Die kandidatengebundene Listenwahl ist – anders als behauptet – nicht unmittelbar. Sie ist ein anonymer Vorgang, jedenfalls keine Auswahl im natürlichen Sinne. Sie verunmöglicht das Eigentliche an einer Wahl, nämlich ein Entscheiden aufgrund umsichtiger Prüfung und Bewertung. Wer auf die Wahllisten kommt, bestimmen irgendwelche machtbegünstigte Individuen im Hintergrund. Die den Wählern einzig verbleibende Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, gerät zur stupiden Akklamation. 

Außerdem: Die Entstehungsregel für das Parlament ist so konzipiert, dass man oft „Koalitionen“ braucht, um politische Entscheidungen fällen zu können. In den Koalitionen sieht man den Anderen oft als Gegner, denn als Partner. Ständige Blockaden und faule Kompromisse sind die Folge. Auch in den Stunden der Not, in denen man unpopuläre Entscheidungen treffen muss, wird nach dem Profilneurosenprinzip verfahren. Jeder positioniert sich als eifriger Verfechter der Sonderinteressen seiner Klientel.

Die meisten Menschen leben in der unausrottbaren Überzeugung, ihre Obrigkeit aufgrund souveräner Entscheidungen ins Amt zu heben. Sie wissen nicht, dass auf dem Weg der kandidatengebundenen Listenwahl eine freiheitskombatible Sozialstruktur prinzipiell nicht entstehen kann. Eine „Elite“ ist am Ende zwar da, aber nicht eigentlich gewählt und wohl auch deshalb in einem beklagenswerten Zustand. 

Aus der Analyse der üblichen politischen Wahlmethode geht hervor: Die vielzitierte „Kontrolle der Kontrolleure“ (der Parlamentarier), die nur eine Kontrolle durch die Wähler selbst sein kann, und zwar aufgrund sachgerechter Auswahl, findet nicht statt. Es ist erwiesen, dass und warum Demokratie in der Art, wie heute Repräsentanten ermittelt werden, prinzipiell nicht entstehen kann. Deshalb gibt es sie bisher in Großgesellschaften auch nicht. Was hier Demokratie genannt wird, ist lediglich eine Fassade.

Die Organisationsregel des Systems

Das „System“ ist heute weltweit ein Parteienstaat (siehe meine Sandwirt-Beiträge „Protokolle der Aufklärung” #10 und #11). Für die Politik im Parteienstaat gibt es neben der Entstehungsregel auch eine Organisationsregel. Ein schlüssig-human aufgebautes Gesellschaftskonzept verlangt, dass die Organisationsregel durch das Prinzip „Gewaltenteilung“ bestimmt ist. Den Monopolen, welche die kollektiven Güter liefern, sollten Antimonopole als Kontrollinstanzen gegenüberstehen. Sie sollten von diesen völlig getrennt sein. Den abendländischen Gesellschaften ist es bis heute nicht gelungen, diese Trennung konsequent vorzunehmen. Auch bei der in dieser Hinsicht fortschrittlicheren Staatsorganisation der Briten ist sie nie wirklich durchgeführt worden. Sie stand nur auf dem Papier. So konnte auch in Britannien nicht verhindert werden, dass am Ende ein Parteienkonsortium in allen kollektiven Einrichtungen das Sagen hat.

Im Parteienstaat sind es – wie ich in meinem Beitrag „Das System“ gezeigt hatte – nicht zwei Machtzentren, nämlich exekutiver Betrieb (als Monopol) und Parlament (als Antimonopol), die als Gegenspieler auftreten. Das Parlament ist in Wahrheit nicht das Regie- und Kontrollorgan, für das man es halten sollte. Es tritt eher in der Rolle des Helfers als in der Rolle des Gegenspielers auf. Brücke und Bindeglied zwischen Parlament und staatlichem Betriebsmanagement sind die politischen Parteien. 

Es gibt in Deutschland zwar eine Reihe von Verbraucherschutzverbänden, die auch Monopole im Visier haben. Aber gegen den stärksten und wildesten Monopolisten schützen sie nicht. Denn dieser alimentiert sie. So sind viele dieser Verbände die gut gefütterten Kettenhunde der Obrigkeit. Sie dürfen jedes Angebot auf dem Markt zerpflücken, nur das Angebot des Monopolkonzerns „Staat“ nicht.

Aufgrund des durchgängigen politischen „Parteiismus“ (Wolfgang Kinsky), der Exekutive, Legislative und Judikative zu einer Einheit zusammenschweißt, gibt es innerhalb der so genannten „Parlamentarischen Demokratie“ keine effektive Kontrollinstanz. Alle staatlichen Instanzen sind Teile ein und desselben Systems. Die Mitglieder des Parlaments werden zusammen mit dem staatlichen Monopolmanagement von den politischen Parteien an dessen Spitze gestellt. Eine Parteienoligarchie usurpiert die Unternehmen, die die kollektiven Güter liefern, und dies vor allem auf kommunaler Ebene. Die angebliche Regie-, Aufsichts- und Kontrollfunktion über die Führungskader der Monopole ist geschwächt bzw. gar nicht erst vorhanden. 

Parlament und Jury sind in Wahrheit nicht die Funktionsorgane, für die man sie halten sollte. Sie treten eher in der Rolle von Helfern als in der Rolle von Gegenspielern des Monopolismus auf. Brücke und Bindeglied zwischen staatlicher Kontrollinstanz und staatlichem Betriebsmanagement sind die politischen Parteien. Ihre Funktionäre sitzen sowohl im Parlament, als auch an den Schalthebeln des exekutiven Staatsbetriebs und in den oberen Etagen der Justiz. Dabei sind Erscheinungen zu beobachten, die an Zeiten erinnern, von denen man glaubte, sie seien längst vergangen.

„Die politischen Großparteien … sind in den letzten Jahren dramatisch in Verruf geraten … Denn ihnen ist es gelungen, die staatliche Gewaltenteilung auszuhebeln, Justiz, Parlamente, Ministerien in den Griff zu nehmen … Das Politische … vollzieht sich im nationalstaatlichen Demokratieverständnis …ausschließlich als ein regelgeleiteter Ringkampf der Personen um die Futtertröge und Steuerungshebel der Macht.“ (Ulrich Beck)

Das Ausbleiben der allfälligen Monopolkontrolle im Parteienstaat zeitigt Folgen, die inzwischen offensichtlich sind. Es bilden sich jene Verzerrungen und Verfälschungen gesellschaftlicher Herrschafts-Knechtsschafts-Verhältnisse, die von mir in den genannten Sandwirt-Beiträgen angedeutet werden und an anderer Stelle – meinen Werken zur Gesellschaftstheorie – detailliert beschrieben sind. Nichts stellt die Untauglichkeit der parteienbestückten Parlamente unter dem Gesichtspunkt „Bändigung gesellschaftlicher Macht“ in grelleres Licht als die trockene und schonungslose Analyse ihrer Grundgestalt. 

Obrigkeiten und Untertanen

Neben der nicht vorhandenen horizontalen und vertikalen Machtaufteilung beim Staatsmonopolismus, die einerseits durch Dezentralisation, andererseits durch Subsidiarität realisiert sein müsste, ist dort auch die Kontrolle durch Antimonopole verunmöglicht, die die Parlamente leisten sollten. Zweck des Antimonopols wäre eigentlich: Sicherung der „König-Kunde“-Position der Abnehmer der Monopolprodukte und -dienstleistungen des Staatsapparats. Denn nur dann wäre seine Funktion dem Naturrecht der Freiheit (dem „Menschenrecht“) gemäß.

Die Monopolisten innerhalb der Gesellschaft, vor allem jene, welche die kollektiven Güter anbieten, können nahezu ungehindert agieren. Ihre Tauschpartner sind ihnen ungeschützt ausgeliefert. Es entsteht ein politischer Apparat, „der nunmehr wieder als Obrigkeitsstaat die Untertanen beherrscht“ (Hermann Scheer). 

Der Parteienstaat bringt eine Gesellschaft hervor, die durch Trennung der Bürgerschaft in „oben“ und „unten“ gekennzeichnet ist. Ungebremster Monopolismus generiert zwangsläufig den Aufbau einer solchen Gesellschaft. Deshalb ist sie vom Wesen her eine Zweiklassengesellschaft. Die heutige politische Entstehungs- und Organisationsregel kann gar nicht anders, als ein solches Gebilde hervorbringen. Es ist den meisten Menschen nicht bewusst, dass sich genau aus der Konstellation des unkontrollierten Monopolismus ein Klassensystem in der Gesellschaft herausbildet, nämlich die vielbeschriene Obrigkeiten-Untertanen-Struktur.

Dieser Sachverhalt ist selbst denen nicht klar, die derzeit in der Gesellschaft den Ton angeben, die also selber die Obrigkeit sind. Auch sie glauben feste und allen Ernstes daran, dass der deutlich spürbare Zwiespalt in der Gesellschaft nichts mit Obrigkeiten und Untertanen zu tun habe, sondern damit, dass es arme und reiche Leute gibt. – Am besten gleich alle reich machen (oder alle arm?), damit es diese zwei Klassen nicht mehr gibt.

Um auf die eingangs erwähnten Feierlichkeiten zurückzukommen: Hier feiert die Obrigkeit sich selbst – zusammen mit vielen ihrer Kombattanten. Man kann ihr dafür nicht einmal böse sein. Jeder von uns würde eine Situation feiern, in der es ihm gut geht. Ekel und Übelkeit kommen erst auf, wenn bei den „System“-Feierlichkeiten ständig das Menschenrecht im Munde geführt wird – das „Naturrecht der Freiheit“, wie es in meinen Sandwirt-Beiträgen heißt.

Die Konzernstruktur des Staatsbetriebs und die Syndikatsstruktur des Parlaments sind für die Tauschpartner, die diesem Betrieb ausgeliefert sind (als Nutzer und Verbraucher kollektiver Güter und Dienstleistungen) ohnehin schon schlimm. Zu regelrechten Akzeptanzkretins werden sie, wo das Betriebspersonal der Monopole den Parlamenten selbst entstammt, wo also Legislative und Exekutive personell derart miteinander verbandelt sind wie im Parteienstaat. Hier ist eine Konstellation verwirklicht, die nur willenlose Mündel als Abnehmer der kollektiven Güter duldet.

Eine längst fällige Einsicht

Mit den Untersuchungsergebnissen, die in den oben genannten Sandwirt-Beiträgen bekannt gegeben wurden, ist der Traum vom sachgerechten Funktionieren eines Antimonopols im Parteienstaat (in Form eines Parlaments) endgültig ausgeträumt. Die dort aufgewiesenen Erscheinungen und Strukturen verantworten die Entwicklung, die aus den Parteien, die einstmals politische Bildungsvereine waren, Obrigkeitszünfte gemacht hat. Diesen Status dokumentieren sie auch symbolisch: Im Plenarsaal des deutschen Bundestags, in dem die Parteioberen versammelt sind, prangt ein monumentaler Adler, das Wappentier früherer Obrigkeiten. Der Raubvogel ist direkt hinter dem Rednerpult angebracht – in Megagröße und so prachtvoll ausgeleuchtet, dass er jedem, der den gewichtigen Gedankengängen der „Volksvertreter“ zu folgen versucht, deren Herrschaftsanspruch überdeutlich vor Augen führt.

Die Organisationsregel des Parteienstaats und ihre Entstehungsregel (die kandidatengebundene Listenwahl) mögen in der Vergangenheit eine gewisse Berechtigung gehabt haben. Aber in Zeiten kritischen Bewusstseins müssen wir erkennen: Eine „Grundordnung“ der Art, wie sie der Parteienstaat und die in ihm übliche Repräsentantenbestallung hervorbringen, ist das Gegenteil von dem, was eine menschengerecht organisierte Gesellschaft braucht. Es kann nachgewiesen werden, dass sowohl die Entstehungsregel als auch die Organisationsregel des Staats dem Naturrecht der Freiheit widerspricht. 

Eine Politik – durchgängig in der Hand von Parteien – ist so ziemlich das Widersinnigste für die Bevölkerung, die in einer freien Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft leben will. Nur die Situation in (unverhohlenen, aber authentischen!) Despotien ist schlimmer. 

Für diejenigen Leser, die meine bisherigen Sandwirt-Beträge über das „System“ aufmerksam verfolgt haben, brauche ich die folgenden Zeilen nicht zu schreiben. Sie wissen, was jetzt auf sie zukommt. Um es rundheraus zu sagen: 

Die so genannte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, die in vielen abendländischen Ländern verfassungsrechtlich festgeschrieben ist und die die politischen Parteien und ihre Oligarchien hoffähig gemacht hat, ist das Unglücklichste, was uns nach dem Zusammenbruch der früheren feudaloiden Systeme passieren konnte. Ihr Grundkonzept war von vorne herein eine intellektuelle Sackgasse. Diese „Ordnung“ ist im Kern faul. Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch ihre Hülle verwest. 

Die Sätze erscheinen in ihrer Apodiktizität befremdlich. Aber hier ist nur in aller Klarheit ausgesprochen, was viele längst denken, zumindest ahnen. 

Die Missbildungen der Politik, über die derzeit heftig gestritten und geschimpft wird, basieren nicht so sehr auf persönlichen Defiziten machtbegünstigter Mitmenschen, sondern auf dem Versagen und der Flickschusterei bei der Schöpfung von Staatsverfassungen. 

„Ich bin überzeugt, dass die Menschen eines Tages mit gleichem Schrecken auf die Körperschaft von Menschen blicken werden, selbst einer, die von der Mehrheit der Bürger autorisiert ist, die die Gewalt besitzt, alles anzuordnen, was ihr beliebt … Sie erzeugt Barbarei, nicht weil wir Barbaren Macht gegeben haben, sondern weil wir die Macht von den Beschränkungen durch Regeln befreit haben, wodurch wir Wirkungen erzeugen, die unvermeidlich sind, wer auch immer die Leute sein mögen, denen wir eine solche Macht überantworten.“ (Friedrich August von Hayek; Hervorhebung von mir)

Wenn das Freiheitliche und das Demokratische künftig nicht in hämischer Satire aufgehen soll, muss über die Begriffe Freiheit und Demokratie noch einmal gründlich nachgedacht werden. Erst ein ganz anders geartetes gesellschaftliches Organisationskonzept würde Machtstrukturen verhindern, wie sie sich überall in heutigen Staaten herausgebildet haben. 

Um zu dem Bild zurückzukehren, mit dem ich meinen Beitrag eingeleitet hatte: Am Baum der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ vergilben die Blätter nicht deshalb, weil irgendwelche bösen Buben heimlich am Wurzelwerk gesägt haben. Von Beginn an waren seine Säfte falsch gemischt. Mit anderen Worten: Der Baum war eine Fehlpflanzung. 

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