Die Gesellschaftlichkeit des Ich

Protokolle der Aufklärung #3

Gesellschaft sei ein „Gespenst“; so etwas wie Gesellschaft gäbe es nicht, sagt der Gesellschaftskritiker Max Stirner. Sein Gesinnungsgenosse Murray Rothbard ergänzt: „‘Gesellschaft‘ wird manchmal als etwas Höherstehendes und Quasi-Göttliches mit vorrangig eigenen Rechten betrachtet.“ Stattdessen fehle ihr jegliche Entität. Die Gesellschaft sei reine Fiktion.

Bestünden solche Aussagen zurecht, dann wären Redewendungen wie „Anliegen der Gesellschaft“, „Anforderungen an die Gesellschaft“, „Vergesellschaftung von Eigentum“ usw. völliger Nonsens. 

Die Frage ist also: Handelt es sich bei den oben zitierten Sätzen um Ansichten mit Wahrheitsgehalt oder nur um effekthascherische Statements übergroßer Egos, die darauf aus sind, ihrem Ärger über „die Gesellschaft“ lauthals Luft zu verschaffen? – Wir wollen der Sache nachgehen.

Die Wir-Konstitution

Die Äußerungen Stirners und Rothbards provozieren die Frage: Was ist „Gesellschaft“ überhaupt für ein Ding? Um die Frage hinlänglich genau zu beantworten, sollten wir uns an das Untersuchungsergebnis meines Beitrags Die zwei Seiten des Ich erinnern: Das sinnlich Fassbare, das Physische, ist nur ein Teil des an uns Erlebbaren. Mit dem Bewusstwerden unserer Spontaneität, der Ich-Konstitution, geht unser Erleben über das Physische hinaus. Das Erleben unserer Spontaneität kann nur im Wort „Ich“ zum Objekt werden, also nur symbolisch. Es ist auch dort objektiv präsent, wo es als einzelnes Wort nicht ausgesprochen wird, z. B. beim lateinischen „cogito“ (ich denke) oder beim spanischen „espero“ (ich hoffe). Aber auch bei solchem Wortgebrauch erlebt sich das Ich als Zentrum seiner Aktivität.

Nun hat der Mensch das Ich nicht nur als sein eigenstes. Er lernt, dass er etwas hat, was die Anderen in seinem Umkreis ebenfalls haben. Denn er beobachtet: Auch sie sagen ständig „ich“, „ich“, „ich“. Alle Menschen haben dieses Ich offenbar gemeinsam. Infolge der Erfahrung, dass sein Gegenüber auch „ich“ sagt, findet schon beim Kind eine Art Du-Konstitution statt. Dabei entsteht zugleich etwas, das es dem Ich erlaubt, von einem Wir zu sprechen. Die Du-Konstitution ist insofern zugleich Wir-Konstitution. Weil der Geistesakt „Wir-Konstitution“ auf dem Weg hin zur Gesellschaft die Hauptweiche stellt, kann man in ihm den sozialen Grundakt schlechthin sehen. 

Aber was ist dieses Wir? Was verbirgt sich hinter dem Du, das zusammen mit mir ein Wir bildet, und zwar derart, dass wir beide in gleicher Weise „ich“ sagen können? Der Sozialwissenschaftler Antony de Jasay stellt die seltsam anmutende Frage „Who is We?“ – „Wer ist die Person, die ihr ‚Alle‘ nennt?“, fragt gleichen Sinnes viel früher schon Max Stirner. 

Wer auf solche Fragen schnell antwortet, hat schon verloren. Sie werden zu Recht gestellt, und zwar mit der stillen Aufforderung zum Nachdenken. Es gibt verschiedene Ebenen, auf der sie zu beantworten sind. – An das physische Zusammensein von Menschen, also an eine Gruppe, denkt Jasay offenbar nicht, wenn er seine merkwürdige Frage stellt – jedenfalls nicht nur. Was kann er über den rein physischen Aspekt des „Wir“ hinaus gemeint haben? Was ist das Du, mit dem das Ich zusammen ein Wir bildet, über seinen materiell präsenten Körper außerdem noch? Jasay und Stirner mögen die Antwort nicht gefunden haben. Aber ihre Fragestellung bezeugt, dass sie hier ein Problem sehen. 

Die Kernfragen menschlicher Sozialität

Der Mensch lernt schon früh, dass nicht nur er von einem Ich spricht, wenn er sich selbst meint, sondern dass dies auch alle anderen tun. Später lernt er, dass mit dem Ich-Sagen aller etwas zur Sprache kommt, das nicht nur schlechthin, sondern auf eine besondere Weise auf das Wir verweist. Dieses (besondere) Wir ist offenbar nicht jenes, das durch Aufaddierung zu einer Gruppe entsteht. Von welchem Wir reden wir jetzt also? Kann das Ich dem Du nicht nur als Körper, sondern ganz bewusst auch als Person (im Sinne von persona!) begegnen? Gibt es ein originäres Erleben, das sich auf ein Du in dessen Rolle als Ich bezieht? Ein Wir setzt doch voraus, dass es ein anderes Ich gibt, dem ich als Du gegenübertreten kann. Sinkt ohne dies nicht jede Form menschlichen Miteinanders in sich zusammen? Gibt es auch beim Du – und damit beim Wir – den Dualismus „physisch-nichtphysisch“ und damit eine Ebene, auf der Ich und Du auch unkörperlich eins sind? 

Die soeben gestellten Fragen sind keine geringeren als die Kernfragen menschlicher Sozialität. An ihnen gehen die meisten Gesellschaftstheoretiker achtlos vorbei. Andere, die ihre grundlegende Bedeutung erkennen, klammern sie absichtlich aus (z. B. Alfred Schütz). Die Antworten auf die Fragen werden vor allem dadurch erschwert, dass unser Wissen, das wir sowohl über das Ich als auch über das Du haben, nicht aus einem Erkenntnisakt stammt (im Sinne von Naturerkenntnis). Deshalb liegt das eigentümliche Verhältnis des Ich zu sich selbst und zum Du (zum Wir) bei Vielen bis heute im Dunkeln. 

Nun habe ich zweifellos ein Du. Es muss also für uns Menschen außerhalb unseres Erkenntnisvermögens noch einen Weg geben, zum Du zu gelangen. Einen solchen Weg gibt es. Das ist die Übertragung des originären Ich-Erlebens auf den ansonsten nur sinnlich erlebbaren anderen Menschen. Das Du (als das andere Ich) entsteht durch einen Ich-Transfer. Wie kommt also das Ich dazu, von einem Du als von einem anderen Ich zu sprechen? Nicht anders als dadurch, dass es ihm ein Ich – sein eigenes, originär erlebtes – schlichtweg unterschiebt, es ihm gewissermaßen einpflanzt. Ich verwende dafür auch Redeweisen wie „Projektion des Ich in das Du“ und „Hinaustreten des Ich hin zum Du“, ohne dabei an eine Erkenntnis zu denken. Den in diesem Zusammenhang oft gebrauchten Begriff „Einfühlung“ lehne ich aus erkenntnistheoretischen Gründen ab. Mit diesem „Fühlen“ ist ja wohl nicht gemeint, dass uns der Tastsinn ein Wissen über das Ich des Anderen verschafft!

Das Ich schenkt quasi dem Du sein Ich. Von da an ist nicht nur das Ich „zweimal da“, sondern auch das Du – und damit auch das Wir. Das Wir ist offenbar etwas, das genau wie das Ich dual existiert: einmal als physisch präsente Gruppe, über die wir dezidiert Aussagen machen können und zum anderen als ein Wir, über das uns lediglich unser gemeinsames Ich-Sagen Kunde gibt. 

Die Zwei Seiten des Begriffs „Menschheit“

Ich kann zwar selbst mein eigenes Ich nicht erkennen. Aber ich kann es als Spontanzentrum meiner Aktivitäten erleben. Das Du hingegen – aufgefasst als eigenständiges Ich – bleibt nicht nur meinem Erkennen, sondern auch meinem Erleben verborgen. Von seinem Ich kann ich nur immer das aussagen, was ich von meinem Ich weiß. Ich höre zwar das Wort „Ich“, welches der Andere über sich sagt. Aber ich habe das Du nur immer so, wie es mir rein äußerlich erscheint: als Körper, als Eigenschaftsträger, als Handelndes, als Sprechendes und – mit Hilfe von Geräten – als neuronal Aktives. Aber ich erlebe es nicht originär als Ich. Bei meinem Nachbarn kann ich ein Spontanzentrum nicht entdecken, auch wenn der noch so oft „ich“ sagt oder wenn ich noch so gerätebewaffnet in sein Hirn hineinschaue. 

Nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim Ich-Sagen seiner Mitmenschen erlebt das Ich das Wir als etwas, das über die rein körperliche Existenz hinausweist, genauso wie sich das Ich selbst über das Körperliche hinaus erlebt. Wir haben unser Wir nicht nur physisch, sondern offenbar auch meta-physisch. Die Menschen in ihrer Gesamtheit sind deshalb nicht nur ein physisches, sondern auch ein meta-physisches Kollektiv, eine persona-in-toto sozusagen. Dieses im doppelten Sinne existente Kollektiv bezeichnen wir als Menschheit. 

Mit dem Wort „Menschheit“ meinen wir nicht nur die Gesamtheit der Menschen als erdumfassendes Haufengebilde. In diesem Wort hört man ein Wir mit, das durch die Identität des Ich-Sagens aller zustande kommt. Denn das Wort meint zugleich auch jenes Wir, bei dem jeder aufgrund seines Vermögens, von seinem Spontanzentrum zu wissen, mit jedem anderen identisch ist. Der Begriff „Menschheit“ enthält beide Aspekte unseres Erlebens, den körperlichen und den geistigen. – An dieser Stelle zeigt sich, dass die Frage des Antony de Jasay, die uns zunächst als ziemlich sinnlos erscheint, durchaus zu Recht besteht. 

Die Antwort auf die Frage Jasays in Bezug auf die physische Seite des Wir ist trivial. Man kann durch additives Zusammenfassen einzelner real existierender Menschen Summen bilden. Dadurch entsteht eine Gruppe. Die Gruppe ist ein physisches Kollektiv. Aber auch dieses Kollektiv ist – genau wie das meta-physische – kein Ding für sich. Auch in der Gruppe sind es immer nur Einzelne, die wir vor uns haben, nicht aber die Gruppe als solche. 

Und ohnehin: Das physische Kollektiv allein ist eben nicht das, was wir meinen, wenn wir das Wort „Wir“ gebrauchen (s. o.). Der Mensch bildet sein Wir in zweierlei Hinsicht: einmal als eine die Einzelnen zusammenfassende Gruppe (physisch), zum anderen als das Identitätsgebilde „Wir-alle-als-Ich“ (meta-physisch). Die Wir-Konstitution hat insofern zwei Seiten: Addition und Identifikation. Beides sind Geistesleistungen des sich selbst erlebenden Ich. Vom epistemologischen Standpunkt aus sind also – wenn man nur die nichtphysische Seite des Menschen betrachtet – Ich, Du und Wir ein und dasselbe. An Stelle von „Who is We? hätte Jasay genauso gut fragen können: „Who is I?“ oder „Who is You“? 

Der „soziale Organismus“ des Auguste Comte

Gewöhnlich stellen sich die Menschen das Wir vor als einen Organismus, dem viele Individuen wie Zellen angehören. Diesem Organismus geben sie den Namen „Gesellschaft“. Dabei machen sie sich nicht klar, dass Gesellschaft niemals von einem Ich getrennt in der Welt sein kann. Eine in dieser Hinsicht unklare Sichtweise finden wir schon bei Auguste Comte, dem Begründer der Soziologie. Auch Comte widerstand der Versuchung nicht, die Gesellschaft für ein eigenständiges Wesen zu halten. Sein „sozialer Organismus“ entstammt Anleihen, die er – nach seinen eigenen Worten! – der Biologie entnommen hat. Die von ihm geschaffene neue Wissenschaft definiert er denn auch als eine spezielle Abteilung der Biologie. 

Demgegenüber ist festzuhalten: Gesellschaft erleben wir immer nur als Eigendynamik einzelner Individuen. Bei ihnen können wir beobachten und erforschen, wie sie miteinander umgehen. Gesellschaft als solche gibt es nicht. Sie ist in der Tat so etwas wie ein „Gespenst“ (Stirner), eine „fiktive Entität“ (Rothbard). Wenn das Wort überhaupt etwas bedeuten soll, dann „Gesellschaftlichkeit“, ein Merkmal real existierender Menschen. 

Der jeweilige Umgang der Individuen miteinander offenbart ihre spezielle Art von Gesellschaft(lichkeit). Jedes Individuum baut sich seine je eigene Form von Gesellschaft auf – dies nicht nur in physischer, sondern auch in meta-physischer Hinsicht. Dass es sich dabei nicht um ein besonderes Ding handelt, nämlich um den Gegenstand „die Gesellschaft“, sondern um ein Merkmal am Menschen, wusste schon Aristoteles. Er definierte den Menschen als zoon politikon, als Lebewesen mit der Eigenschaft Gesellschaftlichkeit. Sie ist eine neben vielen anderen Eigenschaften des Menschen.

Gesellschaft ist also nicht einfach da, quasi als eigenständiges Gebilde, das die Menschen von Geburt an einfängt. Die Beziehungen zu anderen entstehen nicht – wie hin und wieder behauptet – durch einen „Hineinwurf in die Gesellschaft“. Das Ich entwickelt seine Gesellschaftlichkeit im Laufe seines Heranwachsens selbst, und zwar als eine seiner wichtigsten Eigenschaften. Er erwirbt sie aufgrund einer ganz natürlichen Du-Konstitution. Das ist eine zuerst unbewusste, später bewusst inszenierte Aktivität.

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