Die Probleme im Bildungswesen sind zum großen Teil einer entbürgerlichten Gesellschaft geschuldet und lassen sich mit mehr Geld kaum kompensieren. So ist die Organisation des Schulbetriebs an Voraussetzungen gebunden, die nicht monetarisiert werden können. Dazu gehört, dass Kinder und Jugendliche ausgeschlafen, angemessen gekleidet, pünktlich und mit einem Pausenbrot versehen einigermaßen motiviert das Klassenzimmer betreten. Eine Selbstverständlichkeit, die vor drei bis vier Jahrzehnten noch gegeben war.
Zum bürgerlichen Habitus gehören unter anderem Pflichtbewusstsein, Loyalität, Fleiß, Verlässlichkeit, Sorgfalt. Diese inzwischen oft als „rechts“ apostrophierten Zuschreibungen waren der Garant, um das Schulsystem am Laufen zu halten. Natürlich gab es schon vor 40 Jahren faule und renitente Schüler, aber ein gewisser Autoritarismus in der Lehrerschaft und die Homogenität der Schüler, die sich im wesentlichen an die oben genannten Zuschreibungen hielten, sorgte dafür, dass die Schule bis vor wenigen Jahrzehnten als Ort der Wissensbildung galt und zumindest einigermaßen gebildete Absolventen entließ.
Der Unterrichtsablauf beruht auf den genannten bürgerlichen Grundlagen. Sind sie nicht mehr vorhanden, kann es keinen geordneten Unterricht geben. Für Schüler, die nicht stillsitzen und zuhören können, die nicht zum Bedürfnisaufschub fähig sind, das Lernen verweigern, über jede Zurechtweisung gekränkt sind, denen der Schlaf fehlt und die daheim einen Großteil ihrer Zeit vor digitalen Endgeräten sitzen, bringt der klassische Schulbetrieb nichts. Der Verbleib im Klassenzimmer hat dann nur noch Verwahrcharakter, damit Eltern arbeiten können und Jugendliche nicht auf der Straße herumlungern.
Liberalisierung und zunehmende Demokratisierung von Bildungsprozessen und Werten haben dazu geführt, dass das Einhalten von Regeln in Verbindung mit inzwischen geschmähten Begriffen wie Disziplin und Leistung ins Hintertreffen geraten ist – zu Lasten einer sinnvollen Lernkultur. Die Überbewertung mündlicher Leistungen und fragwürdiger Gruppenarbeiten verwässern den tatsächlichen Leistungsstand des einzelnen Schülers und demotivieren leistungsstarke Schüler, die schriftlich und im Alleingang ihr Können viel besser unter Beweis stellen könnten.
Schüchterne Schüler, die sich mündlich nicht gerne beteiligen, aber ihr Wissen in Klausuren oft fulminant darlegen, geraten ins Hintertreffen und kassieren schlechte Zensuren, obwohl sie oft mehr Wissen haben als Selbstdarsteller, die sich mündlich geschickt ins rechte Licht zu setzen verstehen – aber eben oft nur heiße Luft produzieren. Mehr Eigenarbeit und schriftliche Leistungen geben den Lernstand jedes einzelnen Schülers viel besser wider.
Die Antwort auf die wachsende Heterogenität der Schülerschaft, gepaart mit einer Entwicklung hin zu mehr verhaltensauffälligen Schülern und solchen mit Lernschwierigkeiten kann zudem nicht das Lernkollektiv sein. Es braucht mehr Personal für kleine Gruppen, die einen ähnlichen Wissensstand und ein gemeinsames Lernziel haben. Inzwischen werden in vielen Grundschulklassen unter der Hand ohnehin längst drei bis vier Niveaustufen unterrichtet – die guten Schüler bekommen Sonderaufgaben, die lernschwächeren gehen zum Förderunterricht.
Leider fehlt das Personal für kleinere Klassen. Bürokratiemonster und teils absurde Vorschriften verhindern das Einstellen von qualifiziertem Personal. Dabei ist es längst ein Gemeinplatz, dass gute Lehrer, die den Kindern pädagogisch angemessen Wissen vermitteln können, nicht unbedingt ein langes Studium absolviert haben müssen.
Ideologie und krude Lehrmethoden verhindern zusätzlich Lernerfolge. Man könnte zum Beispiel dazu übergehen, den Kindern in der ersten Klasse konsequent das Lesen beizubringen, bevor die Schüler schreiben lernen. Kopfrechnen darf auch gerne wieder modern werden. Wer das kleine 1×1 auswendig kann, hat auf der weiterführenden Schule bei den komplizierter werdenden Aufgaben einen Vorteil.
Die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems wird oft bemängelt, doch wie sollen Schüler, die noch in Klasse 4 nicht angemessen lesen und schreiben können, gemeinsam mit Kindern unterrichtet werden, die bereits dicke Bücher alleine lesen und fehlerfrei Aufsätze verfassen? Ein gemeinsames Lernziel und ähnliche Fortschritte kann es für beide Gruppen nicht geben, warum soll man sie also in ein Klassenzimmer setzen, wenn sie ohnehin unterschiedlich beschult werden müssen? Unterschiedlichen Lernbedürfnissen muss auch unterschiedlich begegnet werden, am besten in unterschiedlichen Räumen. Das schließt ja nicht aus, dass es weiterhin Sportevents und naturwissenschaftliche oder künstlerische Projekte gibt, bei denen alle gemeinsam mitmachen.
Es wäre unter diesen Umständen nötig, die lerntechnisch und ideologisch entkernte Realschule auf ihren ursprünglichen Stand zurück zu bringen. Nämlich eine Schulform für Schüler mit solider Begabung zu sein, die mit den Anforderungen an einem Gymnasium aber nicht gut zurecht kommen würden. Lernschwache und Schüler mit herausforderndem Verhalten gehören weder an ein Gymnasium noch an eine Realschule, sondern müssen gut betreut und ihren Möglichkeiten entsprechend in Kleinstgruppen unterrichtet werden. Das muss nicht unbedingt an einer Förderschule passieren, sondern kann auch an Mittelschulen mit geeignetem Personalschlüssel erfolgen. Immer mit der Möglichkeit, bei guten Leistungen die nächsthöhere Bildungsstufe erklimmen zu können bzw. an eine Realschule oder ein Gymnasium zu wechseln.
Der problematische Massenandrang hin zu den Gymnasien könnte auf diese Weise elegant behoben werden, denn viele Eltern lehnen die Realschule nur deshalb ab, weil sie ihren Nachwuchs nicht gern mit verhaltensauffälligen Schülern in einem Klassenzimmer sitzen sehen möchten. Eine Realschule, die konsequent nur Schüler aufnimmt, die solide Zeugnisse aufweisen und ein Mindestmaß an Verhaltensregeln befolgen, würde wieder zu einer Schule führen, die 16Jährigen nach Klasse 10 eine echte Mittlere Reife attestiert.
Es gibt viel zu tun, um das marode Schulsystem vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dazu braucht es weniger Ideologie, mehr gesunden Menschenverstand, mehr Personal sowie vor allem die klare Sicht darauf, was einzelne Schüler leisten können und was nicht, gepaart mit deutlich mehr Verschriftlichung und Herausstellung von Einzelleistung, damit jeder Schüler weiß, wo er selbst wirklich steht.