Der steigende Preis des Widerstands

Wer wäre ich in einer Diktatur? Wäre ich einer der Systemschergen? Wäre ich mutiger Widerstandskämpfer? Wäre ich kriechender Mitläufer?

Es ist noch nicht lange her, da war die Antwort auf diese Frage zwar auch nicht leicht, aber jedenfalls einfacher als heute. Vor 1989 nämlich, als die Mauer noch stand und die Welt geteilt war in West gegen Ost, Demokratie gegen Diktatur, American Way of Life gegen russischen Gulag. Es war insofern einfacher, als wenigstens klar war, was mit Demokratie und Diktatur gemeint war. Diktatur war die SED, die bis heute existiert und sich jetzt nur Linkspartei nennt. Diktatur war die Mauer, waren die Hundeläufe im Grenzstreifen, die Minenfelder und Wachtürme, die Grepos, immer zu zweit und so eingeteilt, dass sie aus verschiedenen Landesteilen kamen und sich möglichst nicht kannten, mit dem Befehl, jeden zu töten, der rübermachen wollte in den freien Westen.

1982 war das Jahr, in dem das letzte Kapitel der kommunistischen Ostblock-Diktatur begann. Da gründeten mutige Widerstandskämpfer in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc. Vier Jahre vorher war Karol Wojtyla zum Papst gekürt worden. Ein Pole als Papst! Das gab es vorher nie, aber es war eigentlich logisch, denn kaum ein Land ist katholischer als Polen, ein Problem für die Kommunisten seit jeher. Und jetzt auch noch mit Papst. Das hat ihnen Mut verliehen, den Arbeitern der Lenin-Werft in Danzig mit Lech Walesa als charismatischem Anführer. Das hat ein Momentum ausgelöst. 

Solidarnosc hatte wenig später zehn Millionen Mitglieder, bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen, Säuglinge und Greise eingerechnet. Die kann kein Diktator einfach so einsperren. Geht einfach nicht. Wenn die kritische Masse einmal überschritten ist, und das war sie in Polen, dann gibt es kein Zurück mehr. Dann ist es auch nicht mehr ganz so schwer, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, nämlich auf der der Freiheit gegen Diktatur und Unterdrückung.

Wie schwer muss es dagegen für Sophie Scholl gewesen sein! Sie und ihr Bruder Hans hatten kein Momentum auf ihrer Seite. Keinen Papst, keine charismatischen Führer, keine Massen und keine Ressourcen. Sie waren zuerst sogar angetan vom Nationalsozialismus, anders als die protestantisch-liberalen Eltern in Ludwigsburg und Stuttgart. Sophie hatte dann 1941 Reichsarbeitsdienst zu leisten und las während dieser Zeit Werke von Augustinus von Hippo. Der war einer der wichtigen frühen Kirchengelehrten. Die kirchliche Sexualmoral ist beispielsweise sein Werk. Dass Sophie Scholl angesichts der atheistischen Grundstimmung und zotiger Sitten im Nazireich bei ihren Dienstgenossinnen belächelt wurde, kann man sich denken.

Ernst wurde die Sache aber dann nach dem Umzug nach München und dem Beginn des Studiums. Hans hatte ein paar Freunde gefunden, die immer entschiedener gegen den Nationalsozialismus eingestellt waren und Sophie durfte mitmachen, nachdem der Bruder sie zuerst raushalten wollte. Als „Weiße Rose“ verfassten sie Flugblätter. Es gab ja noch kein Internet. Aber auch ohne X oder Instagram verbreiteten sich die Botschaften: Schluss mit dem Krieg, Schande über die Ermordung der Juden. 

Tatsächlich gehörte die Weiße Rose zu den wenigen Widerstandsgruppen, die sich überhaupt mit dem Massenmord an den Juden befassten und ihn verurteilten – als „fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen“. Das sechste und letzte Flugblatt gelangte in die Hände von Helmuth James Graf von Moltke, der es nach England mitnahm. Dort wurde es nachgedruckt und aus Flugzeugen über Deutschland abgeworfen – nachdem Hans und Sophie Scholl sowie der Mitangeklagte Christoph Probst schon hingerichtet worden waren. Sophie Scholl war erst 22 Jahre alt. Gefasst wurde sie, weil der Hausmeister der Uni sie und ihren Bruder beim Auslegen von Flugblättern erwischte und bei der Gestapo meldete.

Wer also bin ich in einer Diktatur? Sophie oder Hans? Der miese Denunziant? Der befehlsgehorsame Soldat?

Die Frage ist heute noch schwieriger zu beantworten als bis 1989, weil die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie heute verschwommener erscheinen. Galt Russland unter Gorbatschow und Jelzin als wenigstens irgendwie halbdemokratisch, rutschte es in der westlichen Wahrnehmung erst unter Putin wieder zurück ins diktatorische Lager, wo es auch schon war, als der deutsche Kanzler Schröder Putin ironiefrei noch als „lupenreinen Demokraten“ lobte. Anderseits schmäht die deutsche Linke (und nicht nur die) die USA unter Trump als Hort autoritärer Herrschaft bis hin zu Faschismus.

Und in den Corona-Pandemiejahren haben westliche Demokratien quer über den Globus demokratische Grundrechte mal eben so suspendiert und rücken sie seitdem bisweilen nur widerwillig wieder raus. Wer sich dagegen wandte, gilt in den besseren Kreisen bis heute als Außenseiter.

Andererseits schmücken sich gern ausgerechnet die mit den Insignien mutigen Widerstands, die in Wahrheit auf der populären Zeitgeistwelle surfen und deren einziges Risiko sich auf einen zweistelligen Euro-Betrag bemisst. Im Juli 2019 protestierten Eltern des Mannheimer Geschwister-Scholl-Gymnasiums gegen Bußgeldbescheide, weil deren Kinder für Proteste bei „Friday For Future“ den Unterricht schwänzten. Die Eltern schrieben: „Wie kann eine Schule, die sich nach Sophie und Hans Scholl benennt, so mit Kindern umgehen, die sich politisch interessieren und engagieren?” 

Wäre es nicht so anmaßend und geschichtsvergessen, man müsste laut lachen. Alberne 88,50 Euro aufgewogen gegen den Galgen. Billigstmut gegen Todesmut, und die selbsternannten Widerstandskämpfer gern mit Gesichtsmaske als Zeichen edler Gesinnung, wie man es bei Friday For Future auch draußen im Freien immer sehen konnte, also auf Seiten derjenigen, die das Lesen eines Buches draußen auf einer Parkbank unter Strafe stellten.

Wer also wäre ich in einer Diktatur? Ich weiß es nicht. Ich musste mich nie entscheiden. In einer Demokratie – und noch sind wir eine – Widerworte zu riskieren, ist keine große Sache. Aber Guido Westerwelle hatte recht: Die Freiheit stirbt zentimeterweise. Und zentimeterweise rückt die Diktatur also näher. Und irgendwann, vielleicht hat man es zuerst gar nicht bemerkt, ist die Freiheit weg. 

Dann, und wirklich erst dann, weiß man, was für ein Mensch man ist. Aber schöner und leichter ist das Leben ohne diese Erkenntnis.

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1 Kommentar. Leave new

  • Mit Ihren Zeilen haben sie den Finger tief in die Wunde gebohrt und es ist gut so. In meinen jüngeren Jahren wäre mir der Widerstand, in Art und Weise der Geschwister Scholl, sogar eigen gewesen. Heute, in einem Alter welches mir meine Grenzen mit jedem vergehenden Jahr immer mehr aufzeigt, wäre ich aber noch dazu bereit, zum Widerstand mit den destruktiven Werkzeugen „Des braven Soldat Schwejk“ beizutragen.

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