In der Ukraine-Frage sind die Positionen verhärtet. Während die einen sofortigen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen wollen, fordern andere eine „maximal-invasive” Außen- und Sicherheitspolitik: Militärische Stärkung der Ukraine, Aufrüstung in Europa und die Einführung eines Militärzwanges, den sie euphemistisch als „Wehrpflicht“ bezeichnen. Debatten zwischen den beiden Positionen finden kaum statt; vielmehr werden die Befürworter einer sofortigen Waffenruhe – ganz in gewohnter Corona- oder Klimamanier – diffamiert und als Putin-Versteher, Trumpisten oder dergleichen abgekanzelt.
Dass der Angriff der russischen Föderation völkerrechtswidrig war, wird hervorgehoben, aber beispielsweise nicht diskutiert, ob das Völkerrecht de lege lata überhaupt apriorischen ethischen Prinzipien folgt. Die russische Seite beruft sich auf präventive Verteidigung beziehungsweise Nothilfe für die russischsprachige Minderheit, während die meisten europäischen Vertreter einen klaren Eroberungskrieg Russlands ausmachen, der vor allem durch neo-imperialistische Bestrebungen Russlands motiviert sei. Bald schon könne „der Russe” vor Berlin stehen, so die Drohkulisse, wenn man nicht „whatever it takes“ unternehme, also zur Kriegswirtschaft umschwenke – egal was die Kosten für die Gesellschaft sind.
Im Folgenden will ich in aller Kürze eine tiefere, handlungslogische Betrachtung des Krieges anstellen. Dabei ist zunächst zu klären, was das Wesen des heutigen Staates ist, was ihn ausmacht und wie er sich gegenüber den seiner Gewalt Unterworfenen verhält.
Der moderne Staat
Der moderne Staat ist tatsächlich auch eine moderne Erscheinung. Lord William Rees-Mogg (1928 – 2012), ehemals langjähriger Herausgeber der „The Times“ und stellvertretender Vorsitzender des BBC-Verwaltungsrates, und James D. Davidson, ein amerikanischer Investor und Autor, heben in ihrem Buch „The Sovereign Individual“ hervor, dass der Staat, wie wir ihn heute kennen, eine verhältnismäßig junge Organisation von Menschen ist, etwa beginnend nach der französischen Revolution 1789 mit der Idee des demokratischen Nationalstaates. Dieser demokratische Nationalstaat beansprucht alle Ressourcen des Staatsgebietes, inklusive Leib und Leben der Bewohner (Stichwort Militärzwang bzw. „Wehrpflicht”), für die Zwecke der Ausübung von Gewalt nach innen und außen. Prägend sei die Propaganda, dass – sinngemäß – Gemeinwohl vor Eigennutz gehe, man Teil der Nation sei und man für diese Nation auch sein Leben opfern müsse.
Bevor es Staaten nach heutigem Modell gab, gab es zahllose andere Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens: monarchische und aristokratische Strukturen, das Feudalwesen, freie Reichsstädte und freie Reichsdörfer, souveräne Ritterorden (wie z. B. der Deutsche Orden oder die „Krankenhausverwaltungsgesellschaft” des Malteser-Ritterordens, Letzterer übrigens auch heute noch souverän), Kaufmannsbünde (die „Hanse“) und anderes mehr. Der „Geltungsvorrang des Rechts” im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war umgekehrt wie heute, anti-zentralistisch und anti-etatistisch: Privatrecht bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landesrecht, Landesrecht bricht Reichsrecht.
Rees-Mogg und Davidson bezeichnen den Staat heutiger Prägung als „räuberische Institution“: „… the nation-state inherited from the industrial era is a predatory institution.“ („… der aus dem Industriezeitalter übernommene Nationalstaat ist eine räuberische Institution.“) Ein Staat, der die Bürger mit Gewalt bewirtschafte wie ein Bauer seine Viehherde. „The state has grown used to treating its taxpayers as a farmer treats his cows, keeping them in a field to be milked.“ („Der Staat hat sich daran gewöhnt, seine Steuerzahler so zu behandeln, wie ein Bauer seine Kühe behandelt, indem er sie auf dem Feld hält, um sie zu melken.“) Die Propaganda, dass „das Volk” der Souverän sei, bedeutet in Wahrheit, dass der Einzelne eben nicht-souverän ist. Er ist Gewaltunterworfener.
Die Klasse der Überschusskonsumenten, Rees-Mogg und Davidson sprechen in diesem Zusammenhang von „government controlled by its employees“ („eine von ihren Angestellten kontrollierte Regierung“), also Politiker, Beamte, Angestellte im öffentlichen Dienst, Auftragnehmer des Staates, Transferempfänger und dergleichen, erwirtschaften selbst per saldo keine finanziellen Überschüsse, wenn sie mehr aus dem Steuertopf herausnehmen, als sie wieder zurücklegen. Sondern die Produzenten solcher Überschüsse sind all jene, die mehr Steuern bezahlen als sie aus Steuermitteln erhalten – und deren Ersparnisse zusätzlich durch Inflationierung der Geldmenge durch den Staat geschmälert werden.
Der Doktorvater Ludwig Erhards (1897 – 1977), Franz Oppenheimer (1864 – 1943), bezeichnete Politik als das Bewirtschaften des Menschen mit dem politischen Mittel Zwang. Und sie kann nicht anders in die Welt gekommen sein, als dass eine siegreiche Gruppe eine unterlegene unterwarf.
Ludwig von Mises (1881 – 1973) wies treffend darauf hin, dass es unsinnig sei, vom Staat oder der Nation oder dem Volk wie von einer Person aus Fleisch und Blut zu denken und sprechen:
„Die Kollektivisten nehmen nicht wahr, dass das, was den Staat konstituiert, die Handlungen der Individuen sind. Die Gesetzgeber, diejenigen, die die Gesetze durch die Kraft der Waffen vollstrecken, und diejenigen, die den Diktaten der Gesetze und der Polizei gehorchen, konstituieren den Staat durch ihr Verhalten. Nur in diesem Sinn ist der Staat wirklich. Getrennt von solchen Handlungen individueller Menschen gibt es keinen Staat.“ (Theorie und Geschichte (1957, 2014), S. 263)
Völkerrechtlich sind Eroberungskriege zwar verboten, es besteht also insofern eine Friedenspflicht, aber das gestehen sich die „Staatenlenker” nur untereinander zu. Die oben aufgeführten Aggressionen gegen die eigene Bevölkerung stellen handlungslogisch klar feindliche Handlungen dar: Es werden die Mittel Gewaltandrohung und letztlich Gewalt eingesetzt, um friedliche Bürger zu einer Handlung, Unterlassung und insbesondere Zahlung zu zwingen, die sie aus freien Stücken nicht vornehmen würden.
Der amerikanische Jurist Anthony D’Amato beschreibt als die dramatischste Veränderung im internationalen Recht in jüngerer Vergangenheit, dass Eroberungskriege wechselseitig ausgeschlossen wurden, wie auch die Idee – wenn auch noch nicht erreicht –, Einzelnen den Status der Rechtspersönlichkeit im internationalen Recht zu verleihen, die ihre „Menschenrechte” selbst durchsetzen und verteidigen wollen. Letzteres würde bedeuten, den Einzelnen Souveränität „zuzugestehen”. Die Folgen wären weitreichend, denn in der Konsequenz müssten Übergriffe des Staates auf Einzelne als eine Vielzahl von „Mikro-Eroberungskriegen” betrachtet werden.
Kurzum, Staaten gab es zwar in der etwa 6.000-jährigen Geschichte der Zivilisation schon immer, aber bis zum 19. Jahrhundert machten sie nach Davidson und Rees-Mogg nur einen kleinen Anteil der Souveränitäten aus. Moderne Nationalstaaten führen – gemessen an einer universellen apriorischen Ethik – stets und ständig institutionalisiert und systematisch Mikro-Eroberungskriege gegen alle Individuen, die finanzielle Überschüsse produzieren, und sie führen diese weggenommenen Überschüsse ihren „Angestellten” (im weitesten Sinne) zu sowie Sonderinteressengruppen, die den Staatsapparat für ihre Ziele einzuspannen verstehen.
Die Ökonomik der Gewalt
Ökonomisches Ziel der „Angestellten” des Staates ist es, Gewalt einzusetzen, um an die Mittel der anderen zu gelangen. Ludwig von Mises schrieb: „Der Staat ist eine menschliche Einrichtung, kein übermenschliches Wesen. Wer ‚Staat‘ sagt, meint Zwang und Unterdrückung. … Die Anbetung des Staates ist die Anbetung der Gewalt. … Der Staat kann die Hauptquelle von Unheil und Katastrophen sein und ist es im Laufe der Geschichte auch oft gewesen.“ (Allmächtiger Staat (1944, 2023), S. 94)
Rees-Mogg und Davidson halten die technologischen „megapolitischen Bedingungen“ entscheidend dafür, ob sich Menschen erfolgreich in „räuberischen Institutionen“ wie dem modernen Nationalstaat organisieren können. Der Anreiz der Ökonomik der Gewalt, „something for nothing“, also dass man etwas am leichtesten erhält, wenn man es dem anderen einfach wegnimmt, ist nach ihrer Auffassung wohl zu groß, als dass sich die Menschen aus ethischen Gründen dazu entschließen könnten, davon abzulassen. Beziehungsweise selbst wenn dies viele Menschen täten, würden sich doch immer wieder Gruppen finden, die andere nicht in Ruhe lassen wollen, und mit den bisherigen Technologien des Industriezeitalters waren diejenigen, die moderne National- und Wohlfahrtsstaaten organisierten, anderen überlegen. Der demokratische Nationalstaat sei unter den bis vor kurzem vorherrschenden technologischen und ökonomischen Bedingungen im Hinblick auf Wirtschaftskraft und militärische Stärke nicht nur dem Sozialismus, Kommunismus und Faschismus überlegen gewesen, sondern auch dem Liberalismus.
Auswege
Rees-Mogg und Davidson sehen als „Ausweg” aus der Situation, dass sich die modernen Nationalstaaten infolge ihrer Überdehnung und Überschuldung, des Verlusts ihres Propaganda-Monopols durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien und wegen neuer Verteidigungswaffen und -prinzipien nicht werden halten können. Internet, soziale Medien, KI, „Smart weapons”, Kryptowährungen und Informationstechnologie im Allgemeinen würden ebenso sicher zum Ende des modernen National- und Wohlfahrtsstaates führen, wie Buchdruck und Schießpulver am Ende des 15. Jahrhunderts zum Niedergang der katholischen Kirche als der alleinseligmachenden und damit auch zum Untergang des Feudalismus führten. Die vorgenannten „megapolitischen“ technologischen und sozialen Revolutionen würden zu einer Anreizstruktur führen, die am Ende des Tages den Niedergang des demokratischen National- und Wohlfahrtsstaates mit sich brächten und eine Vielzahl von anderen, freundlicheren gesellschaftlichen Organisationen entstehen lassen würden, wie etwa „Mikrostaaten” oder freie Privatstädte – bis hin zum souveränen Individuum.
Ludwig von Mises – wie vor ihm Immanuel Kant – hielt die Menschen hingegen für befähigt, dem Anreiz „something for nothing“ zu widerstehen und die Falschheit der kollektivistischen Propaganda von Kommunismus, Faschismus und auch des bis heute scheinbar siegreichen „Etatismus” zu erkennen. Wenn genügend Meinungsführer unter den Menschen die Einsicht gewönnen, so Mises sinngemäß, dass Marktwirtschaft und Zivilisation, also Wohlstand und Freiheit für die Masse der Menschen, nur durch einen Verzicht auf institutionalisierte und organisierte Gewalt im Inneren und Frieden im Äußeren erhalten werden können, dann wäre Frieden möglich.
Fazit
Beim modernen Nationalstaat geht es um Herrschaft: Die Unterdrückung und Bewirtschaftung der Überschussproduzenten. Wenn die – wie Murray N. Rothbard (1926 – 1995) sich ausdrückte – psychologische Verwirrung, soziale Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung im Inneren verschwinden, dann verschwindet auch der Anreiz, Kriege um Herrschaft über Gebiete beziehungsweise deren Bewohner zu führen. Denn wenn es nichts mehr zu beherrschen gibt, macht es keinen Sinn, sich um das Beherrschen zu streiten.
1 Kommentar. Leave new
Zu „völkerrechtswidrig“.
Das Völkerrecht entwickelt sich aus Präzedenzfällen. Seit rd. 1995 hat sich in der US-Politik die Ansicht durchgesetzt, daß man als einzige verbliebene Großmacht global schalten und walten kann. (Stichwort NeoCons) Um das Ziel „Machtausdehnung“ zu tarnen, wird der Kampf für Menschenrechte und Demokratie vorgeschoben, dann werden bunt benannte Revolutionen angezettelt, die zu Bürgerkriegen führen.
UN-Mandate werden von den USA nicht mehr für notwendig befunden, Serbien und Irak werden – mit Unterstützung der NATO-Partner – drangsaliert, bombardiert und überfallen.
Das ist das „völkerrechtliche“ Umwelt von Russlands Angriff Febr. 2022.