Wozu ist das Stören gut?

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #7

Träumen Sie auch manchmal vom Fliegen? Nein, nicht in Flugapparaten, sondern davon, dass Sie einfach schwerelos in die dritte Dimension schweben wie Schwalben oder Bussarde. Ich habe das oft erlebt, auch Abstürze, die erfreulicherweise nicht im harten Aufschlagen sondern höchstens im Erwachen endeten. Dem Geheimnis hinter dieser körperlichen Erfahrung bin ich noch nicht auf die Spur gekommen – das „leibliche Gedächtnis“ birgt noch viele Rätsel mitten im Alltagsverhalten. Versuchen Sie mit mir, das eine oder andere zu lösen. 

Haben Sie schon einmal die Flugkünste der Mauersegler bewundert? Mich begeistern diese Akrobaten der Luft immer aufs neue, nicht nur wenn sie im Sturzflug in die Höfe und Gassen neben meinem Balkon abtauchen, kaum mehr als eine Armlänge entfernt, sondern wegen ihrer Jubelschreie, Signale schierer Lebensfreude und Lust an der Freiheit. Ich beneide sie darum, auch wenn mir klar ist, dass ich über ihre Gefühle eigentlich nichts weiß. 

Den überwiegenden Teil ihres Daseins verbringen sie im Flug. Nur während der zwei Monate Brutzeit suchen sie Felsspalten und Mauerwinkel auf.  Sie überwinden zweimal im Jahr -zigtausend Kilometer zwischen Winterquartieren in Afrika und Brutplätzen im sommerlichen Europa, weichen Gewittern aus und sind auf allerlei Störungen eingestellt. Sie schlafen sogar beim Segeln mit immer noch 23 Stundenkilometern. Und damit wären wir beim heutigen Thema:

Wozu ist das Stören gut?

Jede Lebensstrategie sucht die Form und Funktion erhaltenden, verstärkenden und meidet die zerstörerischen Einflüsse. Die „Störung“ aber ist zugleich unentbehrlicher Teil der Dynamik – wie beim fliegenden Vogel, der im dauernden Strömen und in den störenden Turbulenzen der Luft Auftrieb und  Schwerkraft beherrscht. Sinne, Hirn, Muskeln und Gefieder sind ganz auf diese Interaktion eingestellt. Sie sind darin noch der genialsten denkbaren Flugzeugkonstruktion überlegen. Und „Störungen“ fordern und fördern die Lernfähigkeit des Systems; wobei „lernen“ hier alle trainierbaren Fähigkeiten umgreift, mit denen ein Vogel – oder ein Mensch – auf seine Umgebung reagieren und sich anpassen kann. 

Es ist eine interessante Frage, ob nicht gar die Suche nach Störung ein elementares Verlangen ist. Ob nicht die seltsame „Lust an der Angst“ für positive Rückkopplungen in gefährlichen Situationen sorgt und Menschen zu „Wagemut“ oder „Risikobereitschaft“ treibt. Das Extrem wäre der „Todestrieb“, ein Streben nach rauschhafter Befreiung aus einem Zustand, den das Selbst als unbeherrschbar chaotisch erlebt – oder genau entgegengesetzt als erstarrt und blockierend, als „verstopfte Zukunft“. An beiden scheitert die Antizipation – oft tödlich. 

Wenden wir uns wieder den Ausdrucksphänomenen zu: Die ursprünglichen Mienen, Gesten und Phonen werden – ebenso wie der sprachliche Ausdruck – alsbald von kulturellen Einflüssen überformt. Einem Kind wird schon im Mutterleib eine Rolle zugewiesen; seine Entwicklung wird beobachtet, bewertet, die Familie reagiert auf Störungen. Aber während der Schwangerschaft wird die Wechselwirkung zwischen Mutter und Kind normalerweise klar dominieren: Physiologische Vorgänge, die mit Emotionen einhergehen, übertragen sich von der Mutter auf den Fötus: beschleunigter Puls, hormonelle Schwankungen, nervliche Turbulenzen. Das ändert sich mit der Geburt.

Erschüttert und Gerührt

Schon in der Reaktion auf ein Neugeborenes zeigen sich drastische kulturelle Unterschiede: Ein Mädchen wird nicht überall begeistert aufgenommen. Anfangs gibt es wenige spezifische Unterschiede im Ausdrucksverhalten, aber die Unterschiede in der innerfamiliären Rollenzuweisung sind – je nach Kultur – zwischen Mädchen und Jungen womöglich himmelweit verschieden. 

Wie stark allein schon solche geschlechtsspezifischen Überformungen wirken können, sei am Beispiel zweier Ausdrucksphänomene belegt, die wir willentlich so gut wie nicht beeinflussen können und denen der Ausdruckspsychologe Karl Leonhard das Attribut „physiologisch“ hinzufügte: es geht um das Weinen und das Erröten.

„Jungen weinen nicht“ – das muss man den kleinen Männern nur oft genug einbläuen und abweichendes Verhalten mit Abwendung oder gar sozialer Ächtung („Schwächling“, „Weichei“, „Heulsuse“) quittieren, dann hat „man(n)“ früher oder später jene Blockaden verinnerlicht, die nach außen hin „Rührung“, den „Aufruhr der Gefühle“verstellen.

Das beengt die Interaktionsmöglichkeiten – nicht bloß in schmerzlichen Momenten, denn Tränen sind keineswegs nur Signal von Schmerz oder gar Trauer: Menschen weinen auch, wenn Glück sie überwältigt oder ein überdimensionales Gelächter sie hilflos macht. Tatsächlich sind ihre Körperkräfte in solchen Momenten fast paralysiert. Sie trotzen der Schwerkraft kaum, und selbst die Internetgemeinde huldigte dem Phänomen mit der Einführung des Kürzels „rofl“ (rolling on the floor laughing). 

Mit dem „display rule“ „Jungen weinen nicht“ ist vor allem ein Weg verbarrikadiert, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen, und es ergibt sich ein Paradox: Die  starke Emotion wird zum  Ausweis einer „schwache Rolle“: wir treffen hier auf einen Fall in dem soziale und biologische Konfiguration des Ausdrucksverhaltens konkurrieren – und in dem die soziale sich meist als stärker erweist. Die biologische wird dadurch nicht endgültig ausgeschaltet. Denn der „schwache Moment“ kann für manchen hartgesottenen Gesellen zum stärksten – und schlimmsten – seelischen Beben werden.

Wie verhält es sich mit dem seltsamen Phänomen des Errötens? Gemeint ist nicht die Zornesröte, die langsam aufsteigt und Blutgefäße an Hals und Kopf sichtbar anschwellen lässt. Gemeint ist vielmehr jene leichte, so unvermittelt wie unbeherrschbar das Gesicht „überfliegende“ Röte, die menschliche Erfahrung mit dem Begriff der Scham verbindet. Dabei wird offenbar ein empfindlicher Punkt angerührt, den der (oder die) solcherart „Entblößte“ gar zu gern verborgen hätte. 

Körperliche Blöße kann sich mit einer inneren verbinden, Nacktheit kann ein Zustand sein, dessen sich vor allem Mädchen und Frauen schämen – sie muss es aber nicht. Familie, Religion, Kultur: auch hier konditioniert anhaltende Wechselwirkung das Ausdrucksverhalten. Wer hierzulande unter der „roten Birne“ leidet, kann durch den regelmäßigen Gang in die Sauna oder an den Nacktbadestrand sich zumindest  für diese Situation abhärten. Auch ein mehrfach ertappter Dieb wird irgendwann die lästige Signalfarbe abstreifen. „Die Scham ist vorbei“ gilt aber nur, bis die Schichten der – kulturellen oder sozialen – Überformung von einem tiefer gehenden Erleben weggesprengt werden.

Schämen? – Wozu? 

Hier wäre die Gelegenheit, eigenes Erleben zu prüfen. Erinnern Sie sich noch an Momente der Scham? Was genau ist Ihnen geschehen? Welche Menschen waren beteiligt und in welcher Beziehung standen Sie zu Ihnen? Vielleicht können Sie sich gar nicht erinnern, jemals errötet zu sein, dann lohnt es sich vielleicht, Eltern, Geschwister, Schulfreunde oder ihren Lebenspartner – gleich welchen Geschlechts – einmal zu befragen. Ich garantiere Ihnen: aus einer solchen Frage kann sich Stoff für einen unterhaltsamen Abend ergeben.

Sie werden vielleicht festgestellt haben, dass es für das Erröten und das Weinen auch positive Rückkopplungen gibt. Wer die Erfahrung macht, dass Tränen ihn vor Unbill schützen und sein Wohlbefinden mehren können, weint was die Drüsen hergeben. Wessen Signalrot auffordert: „Ich fühle mich so entblößt, bitte schone mich!“, und wer dann, wenn er noch ein scheues Lächeln hinzufügt, die gewünschte einfühlsame Aufmerksamkeit erntet, wird seine natürliche Ampel immer wieder einmal leuchten lassen. 

Wieder findet sich ein Paradox: dass ein „Ausdruck der Schwäche und Angreifbarkeit“ – das Erröten – als strategische Stärke funktioniert. Fast „auf Knopfdruck“ springt ein bestimmtes Ausdrucksmuster an – und ebenso spontan reagiert sein Adressat in Bruchteilen von Sekunden. Er könnte sich nur temporär und mit erheblichem Aufwand an Reflexion und Training beherrschen. 

Führen und führen lassen

Das trainierte Signalgeschehen kann ins Unbewusste einwandern, es sorgt dort automatisch für den Erhalt der dynamischen Form im Innern, weil es den Partner der Interaktion in einer bestimmten Richtung stimuliert und diese Richtung ist nicht beliebig. Aktion und Reaktion variieren im Signalaustausch nicht frei: sie sind „gequantelt“ zu ganz bestimmten der Form nach charakteristischen Wirkungs-“Paketen“, wie der Energieaustausch zwischen Elementarteilchen in der Physik. Das heißt, die innere Konfiguration bestimmt wie bei einem Atom oder Molekül, was von einem Partner überhaupt wahrgenommen – also „empfangen“ – werden kann und welche Antwort er anschließend „sendet“. 

Auch dabei  antizipiert der Sender jenes Verhalten, das er vom Empfänger erheischt. Es ist einigermaßen schwierig, die Rolle von Sender und Empfänger sauber zu trennen, denn jede Interaktion ist komplex und dynamisch, die Rollen können wechseln, „Führen“ und „Geführt werden“ gehen unmerklich ineinander über. 

Der folgende Test ist Ihnen vielleicht unter dem Titel „Spiegeletüde“ – oder so ähnlich – bekannt. Falls Sie keine Lust haben, ihn schon wieder auszuprobieren, überspringen Sie den Absatz. Für alle anderen hier die Anleitung:

Diesmal brauchen Sie einen Partner oder eine Partnerin. Sie (er) sollte etwa gleich groß sein, dann wird es einfacher. Stellen Sie sich gegenüber auf, etwa um doppelte Armlänge voneinander entfernt. Der eine Partner sollte nun mit sehr langsamen und ruhigen Körperbewegungen beginnen, der andere sie – wie ein Spiegel – mitmachen. Sie helfen ihrem Spiegelbild, wenn Sie deutliche und wie in Zeitlupe ablaufende Veränderungen ausführen, ihm so Gelegenheit geben, sich einzufühlen, zum Beispiel in Ihre Gewichtsverlagerungen von einem Bein aufs andere. Wenn Sie etwas Geduld haben, werden Sie fast zur Übereinstimmung sogar in komplizierten Abläufen finden. 

Tauschen Sie die Rollen. Wenn sich beide mit Führung und Spiegelung gut zurechtfinden, dann versuchen Sie, während des Spiegelns spontan zu tauschen – ohne besondere Signale, einfach indem Sie sehr genau erspüren, was der andere will. Sie werden es spüren und Sie werden dazu weder blinzeln noch miteinander reden müssen.   

Dass diese Etüde so gut funktioniert, wenn Sie sich den Bewegungen Ihres Mitspielers hingeben und er Sie nicht mit abruptem und chaotischem Firlefanz quält, liegt an der Fähigkeit zu antizipieren und daran, dass unsere visuelle Wahrnehmung auf diese Fähigkeit hin sehr gut programmiert ist. Hier sei noch einmal auf wissenschaftliche Arbeiten zum Thema „Spiegelneuronen“ verwiesen.

Wie gestalten sich Gestalten

Schauen Sie auch gern den Wolkenzügen, dem unvergleichlich beleuchteten Himmelstheater zu? Dann „sehen“ Sie vielleicht einen Faun einer nackten Nymphe nachstellen. Die dralle Schönheit schafft ihr Hinterteil in die nächste Wolke, alsbald folgt eine andere Szene: Sie sehen, was der eigenen Bilderfahrung – vor allem menschlichen Gestalten und Handlungen –entspricht. 

Eine zum großen Teil zerstörte Schrift entziffern Sie, weil Ihr Gehirn sie ergänzt. So auch bei der Spiegeletüde: ganz „frei“ sind nur willkürliche, abrupte Bewegungen; solange sich die menschliche Gestalt nur mäßig verändert, kann fast jeder dank der starken Kopplung von visuellem und Körperprogramm über die Spiegelneuronen gefühlsmäßig extrapolieren und antizipieren, was sich verändern wird. Das gelingt bei den Ausdrucksphänomenen sogar besser. 

Menschen antizipieren die Formen, die „Quanten“, die das charakteristische Spektrum menschlichen Verhaltens bilden, besonders genau.

Was ich anhand der physiologischen Phänomene „Weinen und Erröten“ möglichst plastisch beschreiben wollte, gilt für jede andere Miene, Geste oder Phone. Es gibt dabei eben kein einfaches Schema von Ursache und Wirkung.  

Nehmen wir als Beispiel das „quengelnde Kind“. Die Unlustphone, begleitet meist von beleidigter Miene („Schippe“), ertönt beim Quengeln hörbar ohne den echten Leidensdruck, wie er sich mit einer Beule am Kopf verbindet. Gequengelt wird anhaltend, zielstrebig und mit gut dosierter Kraft. Ich habe – anders als beim wirklichen Schreien – noch kein Kind erlebt, das sich dabei verausgabte. 

Ab wann geschieht das „bewusst“? Schon diese Frage ist schwer zu beantworten, aber es ist sicher, dass quengeliges Verhalten mit dem Kindesalter nicht endet. Und wenn jemand quengelig erscheint, dann gehört dazu eine ganze Menge von Signalen, die sich zu einem Gesamteindruck verbinden und nicht detailliert zu steuern sind. Sie laufen ebenso wenig isoliert voneinander ab, wie die Sonne isoliert blaue, grüne, gelbe, rote und für uns unsichtbare Lichtquanten abstrahlt. 

Rückschlüsse auf „innere Ursachen“ werden fast immer fehl gehen. Das Kind im Erwachsenen antizipiert vielleicht eine Reaktion, die für die Wechselwirkung mit den Eltern prägend war, für sein aktuelles Gegenüber aber befremdlich wäre. Vielleicht kokettiert es, vielleicht will es einer unangenehmen Situation mit solch regressivem Verhalten ausweichen. Gesteuert wird das Ausdrucksverhalten jedenfalls von dem komplexen dynamischen System, das sich in Form und Funktion erhalten will, während es mit dem sozialen Umfeld wechselwirkt.

Der quengelnde Regisseur

Anstelle eines neuen Selbstversuches können Sie sich hier entspannt der Vorstellung hingeben, wie der neunmalkluge Autor in eine Falle tappt, die ihm seine eigenen regressiven Verhaltensmuster stellen.

Vor einem Vierteljahrhundert, anlässlich des bedrohlichen Datumswechsels vom 31.12.1999 zum 1.1.2000, rumorte es in den Medien gewaltig wegen eines Programmfehlers in den Computern dieser Welt. Von abstürzenden Flugzeugen, Ausfällen bei Strom, Heizung und Trinkwasser wurde orakelt und viel Geld ausgegeben, die Gefahr abzuwenden. 

Die Wissenschaftsredaktion, für die ich damals  arbeitete, kam darauf, unser Fernsehmagazin den Rechenmaschinen, ihrer epidemischen Ausbreitung und ihrer zu befürchtenden Herrschaft zu widmen. Der „Millennium-Crash“ – so die Idee eines Kollegen – wäre ein schöner Auftaktfilm, wenn wir ihn in Form eines satirischen Clips an den Anfang der Sendung setzten. 

Wer sich mit Fernsehen befasst, weiß um den Aufwand, den besonders kurze, flippige und witzige Glossen verursachen. Den konnten wir mit unseren Mitteln nicht treiben, aber der besonders einfallsreiche Kollege meinte, Improvisation und Engagement richteten viel mehr aus als geballte Technik und überbezahlte Profis, und so ließ ich mich breitschlagen. 

Zum Objekt der Glosse sollte ein Mann werden, der sich im Keller mit Wasser- Holz- und Nahrungsvorräten verbarrikadiert – heute würde man ihn „Prepper“ nennen – um sich vor den Auswirkungen des Computerausfalls in der Silvesternacht zu schützen. Ein Praktikant mit hinreichend origineller Physiognomie wurde zum Darsteller erkoren. „Wir drehen das in meinem Keller“, meinte der Kollege Großimprovisator, „Kamera, Requisiten und Licht besorge ich!“ Da saß ich schon in der Falle.

Die Besserwisserei, die mir seit meiner Kindheit übles Ansehen einträgt, überwältigte mich: „Wenn ein Stück in einem Keller spielt, heißt das nicht, dass man es in einem engen Raum drehen muss. Im Gegenteil. Licht, Bildausschnitt und Kamerabewegung schaffen im Film die Enge, aber wir müssen reichlich Platz zum Arbeiten haben“. 

Der Kollege winkte ab: „Mein Keller hat mindestens 16 Quadratmeter, das wird ja wohl reichen“.

Ein seriöser Kameramann hätte die Sache jetzt mit ein paar gezielten Fragen beendet. Auf mich als Autor aber richteten sich die Augen einiger Kollegen mit der stummen Frage: „Du bist doch nicht so bekloppt, zu diesem Keller zu fahren?“ Andererseits wusste ich, wenn ich Nein sage, bleibe ich der Besserwisser, bin aber obendrein auch noch der Verhinderer und Spaßverderber. Es kam wie es kommen musste.

Der Keller war kalt und eng, es dauerte Stunden, ehe wir alle Requisiten zusammen hatten. Danach hätte sich der Praktikant weder auf witzige noch auf irgendeine andere Art vor einer Kamera bewegen können; obendrein fehlte es an geeigneten Lampen, die Szene filmisch halbwegs spannungsvoll zu beleuchten. 

Je länger ich mit Wasserkesseln, Kaminholz, Kerzen und einem wackligen Weihnachtsbaum umherstolperte, desto knurriger und muffiger wurde ich und jeder merkte es. Ich merkte es auch und ärgerte mich noch mehr. Ich biss die  Zähne zusammen und jeder merkte es. Alles was ich herausbrachte hing mit der Unmöglichkeit zusammen, unter solchen Umständen zu drehen, aber niemand stimmte mir zu. Ich war ein bockiges, quengelndes Kind, das alles besser weiß, widerwillig mitspielt und erwartet, dass die anderen ihm Recht geben. Taten sie aber nicht. 

Am Ende sagte ich den Satz: „So hat das keinen Zweck, lassen wir’s sein“. 

Ich hatte eine Menge Zeit in ein Drehbuch gesteckt, war dreihundert Kilometer gefahren und hatte einen Arbeitstag ohne einen Pfennig Honorar investiert, um diesen Satz zu sagen. 

Das Ergebnis war, dass ich mir obendrein alle Sympathien verscherzt hatte: Bei dem Kollegen, von dem die Idee stammte, bei dem Praktikanten, dessen ungebrochenen Eifer ich brüskierte, bei der Frau des Kollegen, die nicht verstand, warum wir stundenlang in ihrem Haushalt herum geräumt hatten. Das Ergebnis war nicht die Einsicht, dass das Vorhaben unter den vorliegenden Umständen unsinnig war, sondern dass man mit jemandem wie mir nicht zusammenarbeiten kann. 

Nachäffen nicht empfohlen

„Aufreizend altklug, mit beleidigter Miene anderen signalisierend, dass sie ihm eine Zumutung sind“: so habe ich meine Mutter und manchen Lehrer zur Weißglut gebracht. So sehe ich immer noch aus, wenn  ich unter Druck gerate. In all den Jahren ist es mir allenfalls gelungen, es mit Humor zu kommentieren, wirklich geändert hat sich dieses „typische Display“ nicht.

Falls Sie mich jetzt auch nicht mehr mögen und Ihnen die Lust vergangen ist weiterzulesen: meine erste Frau hat versichert, dass ich mich in den Jahren unseres Zusammenlebens gebessert habe. Sie hatte ein eindrucksvolles Mittel gegen das Stunkgesicht: einen Trick, den ironischerweise Kinder einsetzen. Sie ahmte einfach meine beleidigte Miene nach. Es sah unmöglich aus, brachte mich aber zum Lachen, und das half aus mancher verfahrenen Situation heraus. Ich empfehle Ihnen trotzdem nicht, die Methode zu übernehmen, insbesondere nicht gegenüber Vorgesetzten. 

Unsere Ehe scheiterte übrigens an anderen Problemen.

Die Geschichte der verunglückten Millenniums-Glosse illustriert vor allem eines: emotionale Eindrücke beherrschen Situationen und die Erinnerung daran. Meinem Kollegen war egal, wie viel Zeit ich ins Drehbuch investiert hatte und wie weit ich gefahren war. Im Nachhinein behauptete er sogar, der „freie Mitarbeiter“ sei für den vergeudeten Arbeitstag bezahlt worden, was einfach nicht stimmte. 

Antizipieren: Nützlich, aber nicht verlässlich

Menschliche Wahrnehmung ist eben nicht unbestechlich, nicht jeder Sinneseindruck wird von neuem vollständig aufgearbeitet, sondern ganze Systeme („Ganzheiten“) werden antizipiert und von da ab werden Informationen zugeordnet – und zwar selektiv. Einige wesentliche Züge des Gegenübers werden blitzschnell ergänzt und zwar so, dass eine Reaktion erfolgen kann, bevor unser langsames Denken zu eingehender Auseinandersetzung mit Details imstande ist.

Wenn Sie inzwischen einen „Spielpartner“ gewonnen haben, können sie sich durch eine einfache Beobachtung überzeugen.

Stellen Sie sich wie bei der Spiegeletüde gegenüber auf. Achten Sie darauf, dass Sie Ihre Füße gleichmäßig belasten, aufrecht stehen und genau parallel zueinander ausgerichtet sind. Sehen sie ihrem Partner ins Gesicht.  Lassen Sie seine Züge auf sich wirken und vermeiden Sie unbedingt, ihn anzulächeln. 

Gar nicht so einfach, ohne Interaktion zu verweilen, nicht wahr? Fragen Sie ihn, wie es ihm geht, ohne dass er darauf antworten muss. Er sollte anschließend mit ihnen das Gleiche tun. 

Nun drehen Sie Ihr Gesicht um ein paar Zentimeter aus der Parallelstellung nach links, so dass Sie ihm nicht mehr direkt in die Augen sehen, sondern seitlich (extrem wäre „aus den Augenwinkeln“). Achten sie bitte darauf, dass sich die übrige Körperhaltung nicht ändert – auch Ihr Partner sollte unverändert in der aufrechten und unbeteiligten Stellung verharren. Nun fragen Sie ihn abermals – genauso interessiert aber leidenschaftslos – nach seinem Befinden. Tauschen Sie dann die Rollen.

Wiederholen sie das Spiel, indem Sie diesmal bei der Frage statt einer seitlichen Drehung das Kinn etwas heben, so dass Sie „von oben nach unten“ schauen, die nächste Runde absolvieren Sie mit leicht gesenktem Kopf. 

Tauschen Sie zwischendurch Ihre Beobachtungen über das geänderte Frageverhalten aus. Scheint nicht zugleich mit der äußeren Haltung sich auch die Absicht des Fragers zu ändern? 

Sie können sich des Unterschiedes zur „normalen“, parallelen Gegenüberstellung zwischendurch noch einmal versichern und ausprobieren wie viel oder wenig Kopfdrehung oder -neigung erforderlich ist, um veränderte Wirkung zu konstatieren. 

Noch zwei weitere Bewegungsrichtungen können Sie für das Spiel benutzen: das seitliche Neigen des Kopfes und das Vorschieben bzw. Zurückziehen (verbiegen Sie sich bitte nicht den Hals; einige Millimeter, womöglich schon eine Muskelspannung in die entsprechende Richtung genügen).

Der Angesprochene wird sicherlich deutlich verschiedene Absichten hinter Ihrer gleichbleibenden Frage vermuten und Sie können sich einen Spaß daraus machen, alle möglichen Variationen durchzuprobieren. Vielleicht gesellt sich dann ganz von selbst zu der geänderten äußeren auch eine geänderte innere Haltung, die im Tonfall hörbar wird. Nur aufgrund einer Kopfstellung wurde hier der Charakter einer Interaktion antizipiert, eine Situation geschaffen, die von Misstrauen oder von Herablassung oder auch positiven Haltungen bestimmt scheint.  

Die Antizipation hat eine polarisierende Tendenz: feindlich oder freundlich, anziehend oder abstoßend und dirigiert Reaktionen in Richtung „Erlangen“, „Dulden“, „Abwehren“ oder „Vermeiden“. Alle folgenden Wahrnehmungen werden gefiltert, sie müssen „ins Bild passen“. Auf diese Weise wird insbesondere der wichtigste Sinn, das Sehen, auf Stereotype programmiert. Die Mediengesellschaft treibt den Umgang mit visuellen Stereotypen auf die Spitze, und langsam beginnen immer mehr Menschen zu verstehen, dass eine entwicklungsgeschichtlich erfolgreiche Strategie zu bedrohlicher Einseitigkeit führen kann. Das ist durchaus zweckmäßig, es erspart, bei jeder Begegnung alle Details neu sortieren und bewerten zu müssen – aber es birgt auch die Gefahr allzu rasch gefasster Vorurteile.

Sie können sich jetzt vielleicht vorstellen, welche enorme Bedeutung die starken, unbewussten Effekte nonverbaler Kommunikation im Zeitalter allgegenwärtiger, dank KI bald womöglich beliebig zu manipulierender Bildermedien haben. Damit werden Sie auch in weiteren Folgen dieser Reihe immer wieder konfrontiert. Bleiben Sie dran! 

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