Das Diktatorische in der Gesellschaft

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts und im Televisor des Sandwirts: Hier.

Protokolle der Aufklärung #30

Mit dem Wort „Diktatur“ assoziieren wir alles Mögliche: gewalttätige Führernaturen, eine rücksichtslose Polizei, erdrückende Parteienoligarchien usw. In all diesen Fällen glauben wir, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, dass hier Recht mit Füßen getreten wird und in Richtung Faustrecht tendiert.

Ob es jemals ein Faustrecht in Reinkultur gegeben hat, darf bezweifelt werden. Jedenfalls steht eines fest: Bei niederen Entwicklungsstufen menschlicher Rechtskultur wird Recht von der stärkeren Konfliktpartei einfach gesetzt. Die andere Partei muss sich fügen. Sie muss die Pflichten übernehmen, welche bestimmte Rechte für die stärkere Partei ermöglichen. 

Man sollte meinen, dass die Menschheit die Faustrechtsepoche längst hinter sich gelassen hat, vor allem seitdem es sogenannte „Rechtsstaaten“ gibt. Bei ihnen wird die Freiheitskonformität des Rechts immer besonders lebhaft beteuert. Es ist jetzt zu prüfen, ob und inwiefern dies den realen Gegebenheiten entspricht. Dafür ist als erstes der Kern des Diktatorischen freizulegen, und zwar als ein Merkmal von Gesellschaftlichkeit überhaupt. 

Zulässiger und unzulässiger Zwang beim Recht

Um hier weiterzukommen, müssen wir uns auf die Untersuchungsergebnisse meines Sandwirt-Beitrags „Die Handlungsnormen“ rückbesinnen und daraus die entsprechenden Schlüsse ziehen. Darin habe ich zwei Grundformen von Handlungsnormen unterschieden: die auf positives Verhalten ausgerichteten Forderungen, als Gebot („Mach das!“), und die gegen positives Verhalten gerichtete Drosselungen, als Verbot („Lass das!“). 

Der funktionelle Unterschied zwischen Gebot und Verbot erscheint oft ziemlich verwischt. Schon das ist schlimm. Wir wollen es jetzt aber übergehen. Die Aufklärung eines anderen Sachverhalts ist wichtiger. 

Sowohl die Gebote als auch die Verbote können mit Zwang verbunden sein. Der Zwang muss nicht, kann aber fremdbewirkt sein. Es gibt auch selbstbewirkten Zwang, z. B. wenn ich mich zwinge, die von mir übernommene Pflichten einzuhalten. Fremdbewirkte Gebote und Verbote hingegen sind immer oktroyiert, also „Befehlsrecht“ (Hans Kelsen). 

Oktroyierte Verbote sind dann naturrechtsgemäß, wenn damit gebotenes („positives“) Recht geschützt werden soll. Denn wegen des Naturrechts der Freiheit (des Menschenrechts) muss das Jedem gewährte besondere Recht wahrgenommen werden können. 

Oktroyierte Gebote hingegen verstoßen immer gegen das Naturrecht. Gebotsrecht sollte aus freien individuellen Entscheidungen herauswachsen, z. B. anlässlich einer Schenkung oder eines Vertrags. Aus Geboten, die zunächst bloße An-Gebote sind, entstehen nach Annahme einerseits Pflichten, andererseits Rechte. 

In wahrhaft freien Rechtsgemeinschaften ist die Schöpfung des Gebotsrechts immer Sache der von ihm unmittelbar Betroffenen, in Gestalt einer Selbstgesetzgebung (Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant). Insofern ist Gebotsrecht stets privat und je nach Bedarf von anderem Privatrecht unterschieden. Verbotsrecht hingegen ist öffentlich, weil es für jeden gilt. Es muss auch dann wirksam sein können, wenn wir es nicht aus freien Stücken heraus beachten. Dann wird es mit Zwang verbunden. Nur in einem solchen Fall ist es „Befehlsrecht“. Imperatives Verbotsrecht schafft Gleichordnung, weil es für alle gleichermaßen gilt.

Oktroyiertes Gebotsrecht ist immer „Befehlsrecht“. Es ist ein Befehl für den Teil der Gesellschaft, der ihm unterworfen ist. Es bewirkt eine Über- bzw. Unterordnung der Rechtsgenossen, mit anderen Worten den berüchtigten Obrigkeiten-Untertanen-Status. In diesem Zusammenhang besonders beachtenswert sind die Normen des derzeit(!) „öffentlich“ genannten Rechts. 

Beim sogenannten „öffentlichen Recht“ tritt der Zwangscharakter sogar noch stärker hervor als beim übrigen Gebotsrecht. Es ist fast durchweg zwangsdurchwirkt. Es sieht seine Gebote nicht als unverbindliche Vorschläge für individuelles Verhalten an, sondern erscheint in ganz massiver Weise pressiv. Mit seinen Gesetzen geht ein unerbittliches Muss einher. Es ist nicht dispositiv (abdingbar), sondern imperativ. 

Öffentlich-rechtliche Imperative sind oft solche, bei denen z.B. die Durchsetzung nicht über ein Gericht, sondern aufgrund eines puren Verwaltungsakts erzwungen werden kann. Sie sind Ursache für die freiheitsfeindliche Schematisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. 

Beispiele für unzulässige Zwangsgebote

Ein Beispiel für das Korsett des oktroyierten Gebotszwangs im „öffentlichen Recht“ sind die Schulpflichtgesetze. Ein anderes ist die Regelung zur Gebührenerhebung für die „öffentlich-rechtlichen Medien“. Hier muss man auch dann bezahlen, wenn man sie nicht nutzt. Ein weiteres ist der Mitgliederzwang für Gewerbetreibende in der Industrie- und Handelskammer (IHK). – Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier läuft sich schon mal warm für die sogenannte „soziale Dienstpflicht“, die in Bälde für die Jugend eingeführt werden soll. Er scheint vergessen zu haben, dass schon die Nazis eine solche „Pflicht“ eingeführt hatten, den „Arbeitsdienst“. 

Auch die Industrie- und Handelskammern sind eine Schöpfung der Nazis – als Ersatz für die altehrwürdigen freien Gewerbeverbände, die im gleichen Zuge verboten wurden. Man wollte die Wirtschaft besser unter Kontrolle haben. Ein solches Instrument muss den Nachfolgern dieser „Sozialisten“ offenbar gut ins Konzept gepasst haben. Denn sie übernahmen es ohne Abstriche. Aber das nur am Rande. Wichtig hingegen ist: Die Verweigerung der Teilhabe an solchen Aktivitäten oder Einrichtungen wird mit Strafen bis hin zur Beugehaft geahndet. 

Das „öffentliche Recht“ und Teile des Privatrechts bewirken, dass die heutigen Bürger streckenweise wie unter dem Faustrecht leben. Schon unvernünftige, also nicht dezidiert eigentumsschützende Verbotszwänge können einen wütend machen. Ganz und gar abstoßend ist Zwang jedoch bei jenen Normen, die das sogenannte „öffentlichen Recht“ gebietet. Dessen Gebote sind oft mit Sanktionen verbunden (Strafen, Bußgelder, Beugehaft, Berufsverbot usw.).

Gebotszwang als Nötigung

Das gegenwärtige Rechtssystem kultiviert nicht nur den fremdbewirkten Verbotszwang, was ja in Ordnung wäre, sondern auch den fremdbewirkten Gebotszwang. Dieser ist stets Nötigung (siehe meinen o. g. Sandwirt-Beitrag). Die rechtsgebietende Nötigung nimmt zwar für sich in Anspruch, das „Beste“, „Vernünftige“, „Ideale“ für die Menschen zu wollen. Was das aber konkret bedeutet, definieren die bestallten Rechtsschöpfer, und zwar – wie es oft heißt – „nach bestem Wissen und Gewissen“. 

Weil in unserem Rechtsraum auch Gebote mit Zwang verbunden sind, spüren die Leute, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmt. Deshalb revoltieren sie, wenn sie einem solchen Zwang unterworfen sind, z. B. dem oktroyierten Impfgebot bei Pandemien. Das tun sie nicht, weil sie Zwang grundsätzlich ablehnen. Sie wehren sich, weil sie auf diese Art gezwungen werden, weil man ihnen nicht nur Verbote aufzwingt, was sie ja aus naheliegenden Gründen durchaus billigen würden, sondern auch Gebote, also positive Handlungsvorschriften. 

Im deutschen Rechtskreis übertrifft das Ausmaß der oktroyierten Gebote das Ausmaß der oktroyierten Verbote bei weitem. Man vergleiche den Umfang der einschlägigen Gesetzbücher! Daran ist erkennbar: Der Gebotszwang und nicht der Verbotszwang ist Vater der Gerechtigkeit. Trotz der Staatsaktivitäten anlässlich der Corona-Pandemie haben die Staatsbürger bisher kein klares Bewusstsein darüber, dass sie eigentlich schon seit Jahrzehnten in Rechtsdiktaturen leben. Genau genommen: Seitdem das (positive) Gebotsrecht nicht mehr nur dispositiv, sondern verpflichtend und mit Zwang verbunden ist. Übrigens: War das jemals anders?

Nicht nur in Deutschland ist der Gebotszwang die Seele des Rechtsstaats, sondern auch überall sonst, zumindest im Abendland. Er soll angeblich Chaos und Ungerechtigkeit verhindern. Das ist ernsthaft zu bezweifeln. Es ist zu unverkennbar, dass er sie fördert. Schon im Kindesalter beobachten wir das.

Gebotszwang und Gesellschaft

Gesellschaften mit oktroyierten Geboten diktieren das positive Handeln von Menschen. Sie sind insofern zweifellos Diktaturen, ob man dies wahrhaben will oder nicht. Eine Diktatur ist im Grunde keine Verbots-, sondern eine Gebotsdiktatur (a. a. O.). Nur im Zusammenhang mit oktroyierten Geboten ist der Wortgebrauch Diktatur schlüssig. Denn nichts anderes als oktroyierte Gebote diktieren ein Handeln. Die Leser bemerken an dieser Stelle, dass der Begriff „Diktatur“ wesentlich ein Rechtsbegriff ist und kein politischer. Zum politischen Begriff wird er erst, wenn man eine Gesellschaft beschreiben will, der die Grenzen fehlen, die den diktatorischen Tendenzen im Recht Einhalt gebieten.

Nun wird man die meisten heutigen Gesellschaften nicht schlichtweg Diktaturen nennen dürfen. Zumindest zeigen sie aber diktatorische Züge, und zwar dann, wenn es in ihnen oktroyierte Gebote gibt. Eine Gesellschaft ist solange eine Diktatur – zumindest in Teilen – als sie positive Handlungsnormen erzwingt.

Wieweit das der Fall ist, lässt sich an dem Umfang ablesen, in dem Zwangsgebote in Gesetzestexte einfließen. Hier sieht man im Falle Deutschlands schnell: Die oktroyierten Gebote überwuchern bei weitem die oktroyierten Verbote. Inzwischen tritt der Gesetzgeber in vielen gesellschaftlichen Bereichen als Gebotsdiktator auf, nicht zuletzt im Bildungswesen (Pflichtschulgesetz, zentrale Lehrpläne). 

Das Diktatorische beim Recht ist nicht immer irgendwelchen tyrannisch veranlagten politischen Funktionsträgern zuzuschreiben. Den Geist einer Gebotsdiktatur irgendwelchen einzelnen machtversessenen oder oberlehrerhaft veranlagten Leuten anzulasten, geht am Kern der Sache vorbei. Das Diktieren ist ein charakteristisches Merkmal heutiger Gesellschaftlichkeit überhaupt. Die meisten Bürger tragen das Gebotszwangswesen mit. Es ist tiefstens in heutigen Gesellschaften verwurzelt.

Die Gesellschaft im Kriegszustand mit sich selbst

Dass beim positiven Recht vielfach nicht nur „dispositive“, also abdingbare, sondern auch imperative, also zwingend verbindliche Rechtsvorgaben gemacht werden, wird von den meisten Menschen offenbar gebilligt. Sie glauben, wenn die Gesellschaft keinen oktroyierten Geboten unterläge, bräche das Chaos über uns herein. Und so basteln sie tagein und tagaus, ob in Kinderzimmern, in Schulhäusern oder im Berufsleben an immer neuen Zwangsgeboten, um ihren Nachwuchs und ihre Mitwelt zu disziplinieren. Sie glauben, dadurch ein bestimmtes positives Verhalten heranzüchten zu können. Sie beachten nicht, dass die Anderen – auch die Kinder – selbstbestimmte Lebewesen sind. 

Gebotszwangsinstanz ist vor allem die Obrigkeit. Aber auch Eltern können eine solche gegenüber ihren Kindern sein. Eigentlich ist die Gesellschaft von ihrem gesamten Denk- und Handlungsstil her gebotszwangsdurchwirkt. Sie bemerkt nicht, wie sie aufgrund ihres praktizierten Zwangs nur noch mehr Potential für das von ihr befürchtete Chaos schafft. Das Chaos wird sich ereignen, und zwar dann, wenn die Übereifrigen beim ängstlichen Festhalten am Gebotszwang die Kultivierung eines vernunftgerechten Verbotszwangs vernachlässigt haben. Genau das geschieht momentan. Es ist ablesbar an der ständig steigenden Gewaltkriminalität.

Jedes fremdbewirkte Zwangsgebot ist eine unzulässige Gängelei, sei der Zwang auch noch so sublim. Insofern ist die Gesellschaft ein sich selbst gängelndes Gebilde. Sofern Gängelei unter Androhung von Gewalt geschieht, ist sie ein krimineller Akt, nämlich Nötigung (s. o.). Die Gesellschaft nötigt sich gewissermaßen selbst. Um dagegen anzugehen, bedürfte es eigentlich einer Schutzeinrichtung der Gesellschaft gegen sich selbst.

Mittels Gewalt abgezwungene Gebote sind wohl ziemlich das Übelste, was Menschen ihren freiheitsbegabten Mitmenschen antun können. Fremdbewirkter Gebotszwang widerspricht einem sozialen System, das sich die Freiheit der Person auf die Fahnen geschrieben hat. Gebote gehören nicht als von irgendjemanden erzwingbare, sondern auf der Basis freier An-Gebote ins Recht.

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Der Staat als Diktator

1 Kommentar. Leave new

  • Mir ist natürlich klar, worauf Sie hinaus wollen, aber ich halte es für nicht sinnvoll, das am Unterschied von Ge- und Verbot festzumachen.
    Beispiel: daß Autos links oder rechts führen müssen, ist in sich nicht naturrechtlich begründet, aber niemand wird der Staat das Recht auf Setzung dieses Gebotes bestreiten.
    Ge- und Verbot sind oft nur Spiegelbilder. Im Beispiel wäre das Spiegelbild das Verbot, rechts oder links zu fahren.

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