Protokolle der Aufklärung # 24
In meinem Sandwirt-Beitrag „Der richtige Weg“ habe ich im Anschluss an eine Reihe von Pressemeldungen an den desolaten Geisteszustand erinnert, der in unserer Gesellschaft aktuell vorherrscht. Eine menschengerechte Persönlichkeitsentwicklung klappt auf den derzeit begangenen Wegen offensichtlich nicht.
Das Aufwachsen des Menschen ist in den Lebensjahren, in denen es sich am intensivsten vollzieht, wesentlich geprägt durch Schulen. Andere Einflüsse wirken zwar auch mit. Aber das Bildungsgeschehen an Schulen ist maßgeblich und auch symptomatisch für das Lernen der jungen Generationen im Abendland, und dies schon seit Jahrhunderten.
Der Schultunnel
Die Beschulung beginnt schon im Kindergarten, also in einer Art Vorschule, zu welcher der Kindergarten längst geworden ist. (Er verdient deshalb seinen Namen nicht mehr!) Dann geht es weiter in Grundschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen, Oberschulen, Berufsschulen und Hochschulen. Der derzeit übliche Weg der Persönlichkeitsbildung während der Jugendzeit ist die Fahrt durch den Schultunnel.
Vielleicht war die Schule einstmals eine historische Notwendigkeit. Heute ist jedoch zu fragen: Erreicht Schule das von ihr proklamierte Bildungsziel, freiheitlich gesinnte und mündige Menschen hervorzubringen? Erkennen deren Organisatoren überhaupt noch, was es bedeutet, ein solches Ziel zu verfolgen?
Angesichts der heutigen Situation auf dem Bildungssektor besteht der Verdacht, dass die Stätte der Persönlichkeitsbildung par excellence, nämlich die Schule, Anteil daran hat. Der Verdacht erhärtet sich, wenn man fragt: Kann ein lernender Mensch eine freiheitliche Gesinnung erlangen, wenn er eine lange Wegstrecke seines Lebens durch eine Art Tunnel fahren muss? Zu fragen ist aber auch: Kann man die Freiheitsdefizite, die das Leben in der heutigen Gesellschaft kennzeichnen, allein der Schule anlasten?
Mit der Schulpädagogik und ihrer Theorie steht es nicht zum Besten. Das hat man vor langer Zeit aber auch schon gesagt. Erinnert sei an Philipp Melanchthons Klage in seiner Schrift „De miseriis paedagogorum”. Früher hatte man noch einigermaßen passable, wenn auch nicht immer intelligente Lösungen parat, um gegenzusteuern. Die heutige Misere hingegen verunsichert die Öffentlichkeit beträchtlich. Ängstliche und auch schonungslose Kritik ist seit Jahren an der Tagesordnung. „Die Schule brennt“ skandierte vor nicht allzu langer Zeit wieder die ZEIT (5/2023; s. auch SPIEGEL 14/2009).
Beckmesserei im Hinblick auf das Schulwesen ist inzwischen richtig schick – und einträglich. Eine Suada bedrohlicher Visionen schwappt an die Öffentlichkeit. Pulverfass-Literatur pädagogischen Inhalts boomt – ein gefundenes Fressen für‘s verängstigte und nach Heilung dürstende Publikum. Viele einschlägige Bücher kann man getrost der Rubrik „Schundliteratur“ zuordnen (Heinrich Kupffer „Pädagogischer Kitsch“).
Es gibt aber auch Autoren, deren Argumente ernst zu nehmen sind. In der Vergangenheit gab es hervorragende Männer und Frauen, welche die Bildungspraxis an Schulen radikal in Frage stellten. Immanuel Kant („Jugendsklaverei“), Max Stirner, Gerhard Hauptmann, Franz Grillparzer, Fritz Mauthner, Hermann Hesse, Albert Einstein, Margaret Mead, Hannah Arendt, Thomas Mann und unzählige andere können nicht alle im falschen Boot gesessen haben, weil sie den im Abendland tradierten Schul- und Bildungsbetrieb vehement verfemten. Welche Gründe hatten sie? Inwiefern hat ihre Feindseligkeit gegenüber der Schule mit menschlicher Freiheit zu tun?
Der Schulunterricht
Das Freiheitsdefizit heutiger Persönlichkeitsbildung ist erkennbar bereits am Aufbau des Schulunterrichts. Lassen wir die Fülle der Literatur zur Schulpädagogik einmal beiseite und schauen uns unvoreingenommen an, wie sich Lernen an Schulen vollzieht:
- Es findet en bloc statt, und zwar in Gruppen von ca. 20 bis 30 gleichaltrigen Schülern („Schulklassen“).
- Es erfolgt zu festgelegen Zeiten in eigens dafür geschaffenen Räumen („Schulzeiten“ und „Klassenzimmern“)
- Es hat die Form der frontalen Unterrichtung, die in normierte Zeiteinheiten gestückelt ist („Unterrichtsstunden“).
- Innerhalb der Zeiteinheiten werden die verschiedenartigsten Lerninhalte („Fächer“) im stündlichen Wechsel dargeboten.
- Die Unterrichtsinhalte sind sowohl hinsichtlich ihrer Gegenstände als auch hinsichtlich der Reihenfolge der Vermittlung in einem Plan („Lehrplan“) festgeschrieben.
- Jeder Schülergruppe ist im stündlichen Wechsel eine Lehrperson zugeteilt („Fachlehrer“).
- Nach bestimmten Wegstrecken des Lernens wird das Gelernte von den Lehrpersonen oder deren Vorgesetzten geprüft und bewertet. Die Prüfung hat die Form des Abfragens (Durchführen von „Tests“) und die Bewertung die Form der Benotung (Vergabe von „Zensuren“ bzw. „Punkten“)
Die Aufstellung zeigt: nicht nur die Inhalte, sondern auch die Zeiten und Räume des Lernens, das Tätigwerden der Lehrer und die Lernmotivation folgen einem festgefügten Schema. Betrachten wir eine solche pädagogische Praxis vor dem Hintergrund der Freiheit, dann zeigt sich unverkennbar das Zwanghafte an ihr.
Beim schulischen Lernen „werden Kinder zu Planungsobjekten, deren Lebenswelt vom grünen Tisch aus reglementiert wird“, meint der Hamburger Psychiater Hermann Rosemann. Die Pläne legen sowohl die Ziele als auch die Wege des Lernens fest, z. T. bis ins kleinste Detail. Die Heranwachsenden dürfen nicht nach individuell und spontan sich entwickelnden Lernplänen, sondern müssen nach fremdgefertigten Lehrplänen lernen.
Individuelle Lernpläne sind die Gespenster der Didaktikspezialisten. Deshalb müssen sie wie Gespenster aus dem Lernprozess ausgetrieben werden – zugunsten der Lehrpläne. Maßgeblich dafür ist eine „Grundhaltung, die allen Schulen gemeinsam ist: die Vorstellung, dass das Urteil einer Person entscheiden soll, was und wann eine andere Person lernen muss“ (Ivan Illich).
Das Problem ist nicht so sehr der „Stoff“, der über die Lehrpläne vermittelt werden soll. Der mag für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durchaus interessant und wichtig sein. Das Problem ist die Art, wie er vermittelt wird: nach einem vorbestimmten Programm, bei dem den Lehrern die Rolle von „Lehrplanknechten“ zukommt (R. J. Wolf).
Hinter der Planlernmethode steht eine trivialpädagogische Ideologie, die sich als Cooky-Cutter-Theory einen Namen gemacht hat. In dieser „Theorie“ verlebendigt sich die Vision vom „idealen Menschen“ (s. mein oben genannter Beitrag) in ihrer bis ins Banale und Profane hinein gesteigerten Form. Hier geht man davon aus, dass man Heranwachsende quasi mit Keksförmchen zu gut gebildeten Erwachsenen stanzen kann. Der kleine Mensch soll zur DIN-Person werden. Die Schule macht das Klonen überflüssig. Und man kann nicht verstehen, warum immer noch Millionen an Forschungsgeldern in die Klontechnologie fließen, wo es doch Schulen gibt.
Das Lehrplanlernen kann nichts anderes sein als Drill und Dressur. Es bewegt sich außerhalb der aktuellen Lernbedürfnisse der Heranwachsenden. „Drill ist eine besondere Art von Lernen, von Lernen allerdings, das weniger den Menschen kennzeichnet als das Tier. Drill und Dressur richten sich beim Menschen gegen die Lernfreude. Dressierte Menschen verlernen das Denken, entarten zu blind gehorsamen Verhaltensautomaten“, sagt neben anderen auch Hermann Rosemann (s. o.).
Die Lebensfremdheit
Beim Lehrplanlernen kann das Individuum nicht nach eigenem Impuls lernen, d. h. wann und wo es ein Bedürfnis danach verspürt. Der natürliche Lernwille und die echten Lernanstöße werden in der plangesteuerten Lernwelt außer Acht gelassen. Das bedeutet letztlich: Die Lernenden sind immer nur Objekt und nicht Subjekt der Bildung.
Schon das gemeinsame Lernen mit zwanzig bis dreißig gleichaltrigen Schülern in vorbestimmten Zeiteinheiten und in vorbestimmten Räumen macht deutlich, dass individuelle Geistesstrukturen sich nicht frei entfalten können. Dabei ist Lernen – so der Schulkritiker und Propagandist des Homeschooling Jan Edel – „das Allerindividuellste auf der Welt“. Der auf schulische Weise organisierte kollektive Unterricht hingegen ist nichts anderes als „Massenspeisung“. So sieht es der Gymnasialprofessor Walther Borgius schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Borgius verdanken wir ganz wichtige Anregungen für das Lernen in freien Gesellschaften.
Der Unterricht findet zu Zeiten und in Räumen statt, welche die Lernenden nicht beeinflussen bzw. sich nicht aussuchen können. Außerdem behindert das Zusammenfassen zu Jahrgängen die für ihr Sozialverhalten außerordentlich wichtige Interaktion zwischen Älteren und Jüngeren.
Beim Schulunterricht ist jeder Lerngruppe im Zeittakt der Unterrichtsstunden je eine Lehrperson zugeteilt. Eine freie Auswahl der Lehrer ist den Schülern nicht möglich. Ihnen ist verwehrt, sich dauerhaft denjenigen Bezugspersonen anzuschließen, zu denen sie das größte Vertrauen haben und von denen sie sich den meisten Lerngewinn versprechen. Der vorbestimmte stündliche und am Ende jährliche Wechsel des Lehrpersonals in Verbindung mit dem Gruppenunterricht in knapp bemessenen Zeitabschnitten behindert die für das Lernen so wichtige interpersonale Kommunikation.
Wegen der zeitlichen und räumlichen Inanspruchnahme durch die Schulen wird das natürliche außerschulische Lernen stark eingeschränkt. Da gibt es aber immer einen selbst durch die beste Schule nicht zu befriedigenden Lernbedarf. Diesem stehen nur Nischen jenseits der Schulwelt zur Verfügung – für eher dürftige Lernfortschritte an TV-Geräten und Computern, überdachten Bushaltestellen, in Hinterhöfen zwischen Mülltonnen, auf alten Bahngleisen, Autofriedhöfen und Diskotheken.
Der Eindruck der Lebensfremdheit verstärkt sich noch dadurch, dass das schulische Lernen als diskontinuierliche Unterrichtung im Stundentakt erfolgt. Ein zusammenhängender Lernfortgang ist nicht möglich. Das Lernen ist in sogenannte „Unterrichtseinheiten“ zerstückelt. Diese wechseln sich mit ständig anderen Lerninhalten in schneller Folge ab. Das stundenweise Unterrichten unterdrückt die eigentlich fruchtbare Form des Lernens, nämlich das freie und kontinuierliche Erforschen der Sachen- und Mitwelt.
Gerade dann, wenn sich ein Schüler an einem für ihn interessanten Problem festgebissen hat und sich auf einer Spur befindet, die eine brauchbare Lösung erwarten lässt, schellt die Pausenglocke. Die Sache kann vielleicht erst in einer Woche weiterverfolgt werden. Dreimal dürfen die Leser raten, ob bis dahin der momentan wache Antrieb zum Finden einer Lösung bei einem Kind noch vorhanden ist.
Freies Lernen bedeutet eben auch eigenrhythmisches Lernen, d. h. einer Sache nachgehen dürfen, ohne dabei durch einen vorgegebenen Takt unterbrochen zu sein. „Wir Erwachsenen haben die Tendenz, den Kindern unseren Rhythmus aufzuzwingen“, beobachtet die Jugendpsychologin Verena Kast. Die Schule ist eine besonders krasse Ausprägung dieses Verhaltens.
Die Bildung an Schulen ist die einem Fremdrhythmus unterworfene Lehrplandressur. Sie erfolgt in einem Zeittakt, der von oben her gewünscht und bestimmt ist (Jahrgangsdurchlauf, Unterrichtsstundenfolge, Prüfungen usw.). Weder die Lehrenden noch die Lernenden können sich auf die aktuellen Lernbedürfnisse einstellen. Sie haben sich den Planvorgaben zu fügen.
Der Nürnberger Trichter
Lehrplandressur heißt, die Vorstellungsmassen für die beabsichtigte „Bildung“ sollen auf die im Plan vorgeschriebene Weise in die Köpfe der Lernenden. Die Methode ist offenbar dem legendären Nürnberger Trichter abgeguckt. Der Trichter wird – so ein bekanntes Gemälde – zum Abfüllvorgang auf der Schädeldecke des Opfers aufgesetzt. Dann gießt man die flüssige Wissensmasse hinein, mit der Absicht, dass sie im Hirn fruchtbar wird. „Sicher und schnell – macht er die Köpfe hell“, ist das Motto auf diesem Gemälde. „Wissensbefüllung“ nennt Rudolf Schmidheiny den Vorgang.
Das Lehrplanlernen ist nichts anderes als das Abfüllen der Köpfe mit dem Nürnberger Trichter – vielleicht nicht so sehr an den Primarschulen, auf jeden Fall aber an den Sekundar- und Hochschulen. Mit solchem Abfüllvorgang muss sich arrangieren, wer schulisch, und dann später beruflich, nicht „total daneben liegen“ will. Die Lehrpläne beanspruchen, das angeblich Beste für die Lernenden zu liefern. Was aber das Beste ist, entscheiden die psychologisch geschulten „Feldgeistlichen der Manipulation“ (Reinhard Sprenger). Es mag sein, dass die gebotenen Lerninhalte großen aufklärerischen Wert haben. Die Art ihrer Vermittlung hingegen widerstrebt jeder Vernunft.
Im Kindergarten- und Grundschulalter ist bei den meisten Kindern zu beobachten, dass sie es gläubig ertragen, vom Bildungssystem zu Objekten herabgewürdigt zu werden. Weil sie nichts anderes kennen, empfinden sie es als ganz normal, dass ihnen das Wissen mit dem Nürnberger Trichter in den Kopf gegossen wird. Außerdem genießt in dieser Altersgruppe das kindgemäße spielerische Lernen auch an Schulen noch eine gewisse Wertschätzung.
Ganz anders entwickeln sich die Dinge, wenn die Kindergläubigkeit aufhört, wenn sich eine innere Unstimmigkeit bei den Heranwachsenden breit macht, wenn sie spüren, was es heißt, von Anderen zum Lernen gezwungen zu werden. Dieser Zeitpunkt tritt in der Regel erst im Jugendalter und nicht bei allen Schülern auf. Hier kann die Persönlichkeitsentwicklung in eine ernsthafte Krise geraten. Die Heranwachsenden leiden. Sie haben große Schwierigkeiten, sich im System zu behaupten.
Deshalb funktioniert Schulbildung nur dort optimal, wo zwischen Lehrstoffsender (Lehrer) und Lehrstoffempfänger (Schüler) ein Konsens darüber besteht, dass der „Stoff“ nur irgendwie ins Hirn muss, und zwar bis zum Tag X, an dem er abgefragt wird. Danach darf sich das Hirn des „Stoffs“ wieder entledigen. Das geschieht dann auch recht schnell, wie einschlägige Untersuchungen zeigen. „Aufgedrängtes Wissen haftet nicht“, stellt Borgius fest. – Ein Freiheitsdefizit beim Lernen wirkt sich eben auch auf die Qualität des zu erwerbenden Wissens aus.
Schon Aristoteles, der berühmte Lehrer Alexanders des Großen, wusste: „Einen jungen Menschen bilden heißt nicht, einen Eimer füllen, sondern ein Feuer entfachen.“ Ihm ist das bei seinem Zögling Alexander und dessen Kameraden vorzüglich gelungen.
Es ist vorstellbar, dass sich jemand, aus welchen Gründen auch immer, der Nürnberger-Trichter-Prozedur freiwillig unterwirft. Die angehenden Juristen tun dies z. B. beim Gang zum Repetitor anlässlich ihrer Examensvorbereitungen. Sie haben kein Problem damit, weil es ihr eigener freier Entschluss ist, sich unter das ihnen vom Repetitor dargebotene Curriculum zu knechten.
Überhaupt ist zu betonen, dass Pläne in Gestalt von Curricula durchaus Sinn machen. Jedes Wissensgebiet hat ein Curriculum – mehr oder weniger intelligent abgefasst in einführenden Lehrbüchern. Darin sollte der aktuelle Stand eines Fachgebiets für den, der in das Fachgebiet eindringen will, in überschaubarer Weise dargestellt sein. Am Lernenden wäre es dann, sich dieser Vorgabe zu unterwerfen und sich in das dort Dargebotene einzuarbeiten. Für einen echten Lernerfolg ist dabei aber zuvor der freie Entschluss erforderlich. Der Lehrplan hingegen ist ein Programm für geistigen Zwangskonsum.
Die benoteten Tests
Die Abhängigkeit der Schüler von einem vorbestimmten Lernduktus vergrößert sich noch dadurch, dass auf den verschiedenen Teilstrecken der Lernerfolg getestet wird (d. h. mündlich oder schriftlich abgefragt). Die Schultests werden mittels eines schultypischen Benotungssystems bewertet. Die Bewertung wird am Ende auf sogenannten „Zeugnissen“ dokumentiert.
Das Benotungssystem lenkt ab vom wahren Bildungsstand der Schüler. „Die Benotung lügt und verbiegt und verdirbt, was sie zu erreichen behauptet: Leistung und Gerechtigkeit“, sagt Hartmut von Hentig. „Das Zeugniswesen ist eine Art von Marktmanipulation und erscheint nur einem verschulten Geist einleuchtend“ (Ivan Illich; so auch Hubertus von Schoenebeck und R. J. Wolf).
Das Benotungssystem verlangt, dass man vermeiden muss, sich als Lernender zu zeigen. Man muss sich als Wissender präsentieren. Es zählt nicht der Lernprozess, der einer Leistung zugrunde liegt, sondern das Produkt, das abgeliefert wird, durch welche „Tricks“ es auch immer zustande kommt.
Der Erfolg beim Bestehen der Schultests zeigt den Toleranzgrad der Schüler gegenüber ihrer Fremdbestimmung an, d. h. er beweist die Größe der Bereitschaft, sich von sich selbst wegdrücken zu lassen. Überprüfungen der Testergebnisse – ein paar Jahre nach Schulabschluss durchgeführt – offenbaren eine abenteuerliche Absence des einstmals „Gewussten“.
Das Prüfungs- und Benotungssystem der Schule schafft eine Bewertungssituation, die später vor allem auf die Karrierewegstrecken des Staatsapparats, vielleicht noch einiger Großkonzerne passt – und besonders beim Personal des Schulapparats selbst. Die durch Benotung bewirkte „Vorbereitung aufs Leben“ heißt, sich auf eine Beurteilungsperson einstellen, die Plus- und Minuspunkte verteilt. Und das ist oft eine, die aufgrund ihres Ausbildungsgangs selbst aus einem Benotungssystem hervorgegangen ist.
Die Motivation beim schulischen Lernen
Die an der Schule Lehrenden sind aufgrund ihrer Vorgaben sowohl für die Vermittlung der Lehrplaninhalte zuständig, als auch für die dafür erforderliche motivationale Einstimmung. Das bedeutet: die Lernenden sind darauf angewiesen, sich an deren Duktus, also einem Fremdrhythmus, auszurichten. Der orientiert sich am Lehrplan und wird angetrieben durch ständig wiederholte Tests. Die benoteten Tests sind die Peitschenhiebe des Nürnberger-Trichter-Lernens. Sie werden als Drohung benutzt, um die Schüler motivational bei der Stange zu halten.
Dass die Lernenden für die zu vermittelnden Unterrichtsinhalte eine eigene Motivation entwickeln könnten, ist im Lehrplan nicht vorgesehen. Schön, wenn es sie trotzdem gibt. Beabsichtigt ist sie aber nicht. Beabsichtigt ist, dass die Lehrer zum Lernen motivieren – dem didaktisch durchgestylten Fortgang des Unterrichts gemäß. Insofern ist das Lernen von außen, vom Lehren her bestimmt und nicht von innen, vom Lernenden.
Die Lernenden sind systemisch dazu verurteilt, sich emotional manipulieren zu lassen. Ihr Lernantrieb folgt nicht ihrem Eigenrhythmus, ist also nicht „intrinsisch“ (innengeleitet). Sie werden immer nur „extrinsisch“ (außengeleitet) motiviert. Die eigenen Freuden und Nöte als Lernanstoß werden entwertet zugunsten künstlich geschaffener „Motivationsketten“. Die benoteten Tests sind es, die die Schüler beim Lernen vorwärtstreiben: einerseits aufgrund von Furcht vor Misserfolg, wie Rosemann richtig schreibt, andererseits aufgrund von Ehrgeiz hin zum Erfolg.
Für die Motivation wird in jedem Schulfach ein umfangreiches Arsenal von Aufreißern bereitgehalten und ständig neu aufgefüllt. Dabei steht den Lehrern die Psychologie als intellektuelle Einbläserin zur Seite. Ist das Arsenal eines Tages erschöpft, bleibt nur noch der Lehrer als Motivator. Er wird zum „Entertainer“ (R. J. Wolf). Als solcher muss er eine ganze Schulklasse bei Laune halten. Und die Klasse ist oft nichts anderes ist als eine Bande von Gelangweilten in Zuschauer- und Zuhörerpose. Eigenschöpferisch, d. h. aus innerem Antrieb heraus, passiert kaum etwas an Schulen und wenn doch, dann nicht nach den im Plan vorgesehenen Abläufen.
Möglich ist auch, dass eine besonders authentische Lehrerin oder ein besonders mitreißender Lehrer die Herzen der Schüler zu gewinnen vermag. Aber das hat mit deren Persönlichkeitsstruktur zu tun und nichts mit der Attraktivität der Lehranstalt Schule.
Wir erinnern uns an den Grundsatz, der in den ersten vier Sandwirt-Beiträgen von mir erarbeitet wurde: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. Dieser Grundsatz ist das Naturrecht der Freiheit. Er ist das Axiom für alle Menschenrechte, die echte Freiheitsrechte sind. Ein Derivat des Axioms ist der Satz „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Persönlichkeitsbildung“.
Das Lehrplanlernen mit seiner Nürnberger-Trichter-Methode, seinen benoteten Tests und seiner extrinsischen Motivation widerstreitet diesem Satz komplett. Es steht dem Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) in exorbitanter Weise entgegen. Die Schule ist schon von ihrer Grundkonzeption her keine menschengemäße Lernstätte – und dies schon seit ihren Anfängen.