El Cid

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Es gibt Namen, deren Glanz die Jahrhunderte überdauert – nicht nur, weil sie mit makellosen Taten glänzen, sondern auch, weil sich in ihnen eine archetypische Vorstellung von menschlichem Widerstand verdichtet: Sie werden zu Projektionsflächen kollektiver Ideale, deren historische Gestalt hinter dem mythischen Echo schrittweise zurücktritt. Rodrigo Díaz de Vivar (ca. 1043–1099), besser bekannt als „El Cid“ Campeador, gehört unbestreitbar zu diesen Gestalten. Sein Leben, angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Loyalität und Rebellion, Idealismus und Pragmatismus, markiert nicht nur ein Schlüsselkapitel der spanischen Geschichte, sondern auch einen zentralen Topos europäischer Erinnerungskultur: den des selbstverantwortlichen Helden, der sich jenseits institutioneller Legitimität seine eigene moralische Ordnung erschafft.

Die Zäsur

Rodrigo Díaz wurde um 1043 im kastilischen Dorf Vivar, nördlich von Burgos, geboren. Er entstammte dem niederen Adel, einem Milieu, das im 11. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewann, da die Reconquista nicht nur militärisches Geschick, sondern auch lokale Führungsstärke erforderte, um den muslimischen Besatzern Schritt für Schritt spanisches Gebiet zu entreißen. Seine Erziehung am Hof des Infanten Sancho (später Sancho II. von Kastilien) ebnete ihm den Weg zu militärischen Ehren: Als „alférez real“, eine Art königlicher Standardenträger, stieg er zum engsten militärischen Vertrauten Sanchos auf und gewann in verschiedenen Grenzkonflikten Ruhm und Einfluß.

Der Tod Sanchos im Jahr 1072, vermutlich infolge eines politischen Attentats, brachte seinen Bruder Alfons VI. auf den Thron von Kastilien und León. Rodrigo, der Alfons’ Rolle in der Affäre um Sanchos Ermordung kritisch hinterfragte und den neuen König zwang, seine Unschuld eidesstattlich zu beteuern, wurde bald zur unbequemen Figur am Hof, und so wurde er 1079 zum ersten Mal vom neuen Herrscher verbannt – ein Bruch, der später im Epos harsch kritisiert wurde (Cantar de mio Cid: „Gott, welch guter Vasall – wenn er doch nur einen guten Herrn hätte!“). 

Rückblickend muß diese Verbannung freilich als die entscheidende Zäsur seines Lebens interpretiert werden, jener Moment, in dem Rodrigo über sich selbst hinauswuchs, beginnt hier doch der eigentliche Aufstieg zur Legende: nicht als loyaler Vasall, sondern als autonomer Akteur, der im iberischen Machtvakuum seine eigene Ordnung etablierte.

Der Warlord

In der Zeit seiner Verbannung wurde Rodrigo zum Prototypen eines pragmatischen „Warlords“. Zunächst trat er in den Dienst des muslimischen Fürsten al-Mu’tamin von Zaragoza und später seines Nachfolgers al-Musta’in II. Seine militärischen Unternehmungen zielten daher auch nicht auf die Rückeroberung „spanischen“ Bodens im Sinne eines religiösen Kreuzzugs, sondern auf strategische Allianzen, Beutezüge und politisches Prestige: Obwohl der Wunsch zur vollständigen Islamisierung bzw. zur Re-Christianisierung der Halbinsel unweigerlich eine wichtige Rolle spielte, waren die politischen Verhältnisse doch so zersplittert, daß es allen Beteiligten zunächst um das eigene politische Überleben und die schrittweise Vergrößerung des eigenen Herrschaftsbereichs ging, so daß der Glaubensfeind oft genug natürlicher Verbündeter wurde, wenn er sich nur gegen den eigenen nächsten Nachbarn und Rivalen in Stellung bringen ließ. 

So besiegte Rodrigo 1082 in der Schlacht von Almenar gleich eine Koalition aus christlichen und muslimischen Gegnern, was ihm den Respekt seiner muslimischen Verbündeten einbrachte. Seine bunt gemischte Gefolgschaft setzte sich mehr oder weniger zufällig aus Christen wie Muslimen zusammen; ein Faktum, das ebenfalls andeutet, wie sehr sein Handeln von konkreten Interessen und weniger von konfessionellen Dogmen geprägt war. Dafür spricht auch der Beiname „El Cid“; eine Verballhornung der arabischen Anrede „Sayyidī“, also „mein Herr“.

Trotz der Versöhnung mit Alfons VI. und wiederholter Rückkehr an den kastilischen Hof blieb sein Verhältnis zum König weiterhin ambivalent. Erst nach seiner endgültigen Entlassung aus königlichem Dienst wandte sich der Cid seinem letzten, kühnsten Ziel zu: der Eroberung Valencias, einer reichen Stadt an der spanischen Ostküste, die sowohl christlichen als auch muslimischen Nachbarn ein Dorn im Auge und damals politisch weitgehend isoliert war. 

1094 gelang ihm dann auch die Einnahme der Stadt, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1099 als faktisch unabhängiger Herrscher verwaltete. Valencia war unter der Herrschaft von „El Cid“ kein feudaler Staat im klassischen Sinne, sondern ein von militärischer Logik geprägter Machtapparat, in dem unterschiedliche Konfessionen – Christen, Muslime, Juden – unter relativer Toleranz koexistieren konnten. Die Verwaltung war geprägt von einem nüchternen, fast republikanischen Ordnungsdenken, das auf Funktionalität und Stabilität setzte. El Cid entfaltete sich hier nicht nur als Kriegsherr, sondern als Verwalter, Diplomat und Richter, dessen Führung in erster Linie auf Können und Autorität und nicht auf adliger Abstammung beruhte. 

Der Held

Gerade dieser Aspekt wirft ein kritisches Licht auf die spätere Rezeption seiner Figur: Der historische Rodrigo Díaz war wie so viele seiner Zeitgenossen kein Glaubenskrieger im Sinne der Reconquista, sondern eher ein strategisch denkender Machtpolitiker, dessen Loyalität stets dem konkreten Handlungsspielraum galt – nicht der abstrakten Idee eines konfessionellen Endziels. Und doch: In der kollektiven Erinnerung wandelte sich sein Bild schon ab dem 12. Jahrhundert dramatisch. Aus dem diplomatisch agierenden Söldner wurde ein katholischer Nationalheld, ein „Campeador“ (Kämpfer), der dem Islam die Stirn bot, das Christentum verteidigte und als „gottgesegneter Ritter“ Eingang in die Literatur fand. Diese Transformation ist nicht zufällig, sondern Ergebnis einer bewußten Umdeutung im Dienste einer neuen Identitätsbildung.

Bereits wenige Jahrzehnte nach seinem Tod wurde das Leben des Cid im „Cantar de mio Cid“, einem anonymen altkastilischen Epos aus dem frühen 13. Jahrhundert, dichterisch verklärt. Die dort entworfene Figur – tapfer, fromm, ritterlich, loyal und doch stets im Recht – steht in frappierendem Kontrast zur politischen Realität des historischen Rodrigo. 

Das Gedicht, geprägt von der Ideologie der Reconquista, tilgt nahezu jede Ambivalenz zugunsten eines glasklaren christlichen Heldenbildes. Berühmt ist etwa die Szene, in der die Witwe des Cid seine Leiche auf sein Pferd binden läßt, um das Heer ein letztes Mal in die Schlacht zu führen – ein weitgehend apokryphes, aber überaus wirkmächtiges Symbol unbesiegbarer Führung. 

Im Goldenen Zeitalter Spaniens wurde der Cid dann vollends zur patriotischen Ikone. Autoren wie Lope de Vega adaptierten seine Geschichte für Bühne und Literatur, und in dieser Gestalt wurde er dann im 19. Jahrhundert ebenso wie Jeanne d‘Arc in Frankreich, Friedrich Barbarossa in Deutschland oder Richard Löwenherz in England zur Galionsfigur eines romantischen Patriotismus – bis weit in den Franquismus hinein.

Gesucht: Ein Vorbild

Aus dieser Perspektive ist der Cid gerade deshalb so faszinierend, weil sich in ihm zwei Wirklichkeitsebenen überlagern: die des historischen Akteurs, der gegen unrechte Verbannung Widerstand leistet und aus der Peripherie heraus eine neue, pragmatische Ordnung etabliert, und die des Mythos vom spanischen Widerstand gegen den Islam, der eine ganze Nation zu prägen vermochte.

Gerade das zeigt aber auch, was dem modernen Abendland nottut: Ein neuer Mythos, bei dem es nicht so sehr um historische Akkuratesse geht, sondern die Wirkmächtigkeit einer Person oder einer Tat. Nur wenige Personen sind fähig, selbst die eigene Zivilisation um einer rein abstrakten, emotional oder symbolisch unbefriedigenden Idee willen zu verteidigen; die meisten Menschen brauchen die unmittelbare Verankerung der Idee in der Realität, der Anschaulichkeit und der Vorbildhaftigkeit, um dem eigenen Streben einen konkreten Sinn zu geben. 

Der „Cid“ wurde, auch wenn aus heutigem Maßstab historisch weitgehend unberechtigt, zum Symbol und zum Banner der spanischen Reconquista; blickt man aber im heutigen Europa, das eine solche zivilisatorische Reconquista dringender als je zuvor brauchen könnte, in den Schatz neuerer kultureller Archetypen, herrscht weitgehende Leere – ein Mensch, ein Buch, eine Tat könnten in dieser Hinsicht erheblich mehr bringen als alle politischen Manifeste, Gesetzesvorschläge oder Wahlsiege der Welt zusammen.

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