Farben, Symbole, Signale der Macht

Rangordnungen finden sich überall in der belebten Welt – sie organisieren soziale Systeme. Es gibt sie bei staatenbildenden Insekten ebenso wie bei Fischen, Vögeln, Säugetieren. An ihnen lässt sich trefflich zeigen, was der Naturphilosoph Bernd Olaf Küppers auf die knappe Formel Leben = Materie + Information brachte. 

Er übernahm nach den verfinsterten Jahren von Nationalsozialismus und SED-Herrschaft an der Universität Jena den Lehrstuhl des berühmten Ernst Haeckel. Sein Buch „Die Berechenbarkeit der Welt” (2012 bei Hirzel verlegt), empfehle ich gern.

Materie – dazu lässt sich nach der Einsteinschen Relation E=mc2 auch die Energie rechnen – und Information sind komplementär, d. h. keine der beiden Größen lässt sich durch die andere ersetzen; zugleich treten sie nur in Wechselbeziehungen miteinander auf. Eine Ameisenkönigin ist nur in ihrem Staat Königin; sie lebt und kommuniziert – vor allem mit ihren Antennen, aber auch über genetisch jeweils einzigartige chemische Duftstoffe – mit den Arbeiterinnen und Männchen. Sie ist ihnen durch informelle Impulse auf Leben und Tod verbunden. Und ja: auch diese für meine Augen ununterscheidbaren Insekten haben Individualität: keine Arbeiterin, Königin, kein Männchen gleicht vollständig einem anderen. Insektenforscher werden Ihnen das bestätigen. 

Eine Kolonie in Europa

Die Königin könnte allein nicht überleben, die Kolonie wäre andererseits nicht fähig, sich zu reproduzieren, denn Arbeiterinnen haben zwar Ovarien, legen aber nur bei Abwesenheit einer Königin Eier, aus denen lediglich Männchen schlüpfen. Übrigens erstaunt nicht nur die enorme Artenvielfalt der Ameisen, auch die Variabilität der Strategien. 

Während es in einem Nest meist friedlich zugeht – außer wenn sich eine neue Königin gegen Konkurrentinnen durchsetzen muss – führen die Insekten heftige Kriege ums Territorium sowohl gegen artverwandte Nachbarn wie gegen fremde. Zu Beginn des Jahrtausends breitete sich eine aus Argentinien eingeschleppte Art, obwohl kleiner als die einheimischen, rasch an der Mittelmeerküste von Spanien über Frankreich bis nach Italien aus. Die inzwischen über 6000 Kilometer lange Kolonie wurde zur größten je beobachteten: ein Superorganismus. Inzwischen sind sie auch in Baden-Württemberg angekommen; die schwäbischen Krabbeltiere scheinen ihnen ebenso wenig gewachsen wie die an der Costa Brava, Côte d’Azur, Riviera. Beweis für besondere kollektive Intelligenz?

So sehr sie sich von Säugetieren, Menschen zumal, unterscheiden mögen – Insekten haben mit ihnen zwei Grundimpulse gemeinsam: Erlangen und Vermeiden. Und sie kommunizieren. Nein, ich will nicht auf Vergleiche zwischen dem originalen und dem nicht selten beschworenen menschlichen „Ameisenstaat“ hinaus. Aber egal ob bei Schwärmen von Vögeln und Fischen, Herden von Elefanten, bei Wolfsrudeln und Familie Fuchs: überall etablieren sich Rangordnungen, also der informelle Aspekt der Macht. Sie sind nie unumstritten, immer aber zeitlich begrenzt. Den entscheidenden Unterschied zum Menschen macht die Sprache.

Rituale und Rollenmuster: Macht wird verteilt

Rangordnungen führen mich nicht zufällig auf die Frage nach sozialen Rollen und Ritualen. Wann und wie wird jemand zum Helden? Zum Mörder? Zum Anführer oder Subalternen, zum Propheten, Priester, Scharlatan, Verräter, …

Die von der Natur angebotenen Rollen der Mutter, des Vaters, des „α-Tieres“, des Einzelgängers, des Mitläufers sind ubiquitär; sie gestalten sich nach Mustern der Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld, und aus dem „Genotyp“ der veranlagten Handlungs-Möglichkeiten und Impulse wächst der „Phänotyp“ des handelnden Individuums. 

Seine besondere Art zu kommunizieren verläuft zum größten Teil nonverbal – d. h. über Mienen, Gesten, Laute: Sie sind menschenallgemein, tiefer verwurzelt und erscheinen „spontan“, sie laufen dem sprachlichen Ausdruck voraus. Das ist nicht verwunderlich, denn die Sprache des Menschen ist evolutionsgeschichtlich viel jünger. Niemand spricht „ausdruckslos“ – es sei denn, besondere Umstände hemmen, behindern oder schmälern die nonverbale Interaktion, was etwa bei der Mimik von Geburt an Blinder zu beobachten ist. Mehr darüber findet sich in meinem Buch „Der menschliche Kosmos“.

Mit ihrem Auftreten war Sprache aber auch Teil des Etablierens von Rangordnungen – also der informellen Macht. Besonders deutlich ist das anhand des chinesischen Mandarin-Systems zu erkennen. Einerseits konnten in der kaiserlichen Hierarchie nur Personen aufsteigen, die möglichst viele der komplizierten Zeichen beherrschten, andererseits wuchs mit den Anforderungen der Beamtenprüfung die Anzahl und Komplexität der Schriftzeichen – einschließlich ihrer künstlerischen Form als Kalligraphie. Das Schriftsystem war Teil des Machtsystems.

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf Insignien der informellen Macht.

Pomp and Circumstance

Wer Macht gewinnt, will sie alsbald demonstrieren. Er muss es, um nicht ihren Verlust zu riskieren: Palast und Dienerschaft, der einzigartige Kopfschmuck, seidene Gewänder in alleine ihm vorbehaltener gelber Farbe – dem „Mandaringelb“ – waren es beim Kaiser von China; europäische Könige bevorzugten Purpur zur Goldenen Krone. Ihre Porträts prangten auf Münzen aus Gold und Silber. Ausweise waren Petschaft und Siegel, Fälscher mit der Todesstrafe bedroht. Zahllose, einzigartige Kunstwerke füllten die Säle und Schatzkammern. Schon damals waren – neben Edelmetallen, -steinen und Perlen – Kunstwerke wie Rangabzeichen. In China gehörten dazu Kalligraphien, in Europa Handschriften.

Natürlich spricht auch die Architektur von Macht. Die der Paläste, Tempel, Kirchen und Moscheen, heute die der Wolkenkratzer und Bankpaläste, der Konzern-, Partei-, Regierungszentralen: sie sind Kathedralen des Korporatismus, angesichts derer sich der Einzelne sehr klein und verloren vorkommen kann. Ihr architektonischer Wert erreicht selten den historischer Denkmäler, nur sehr wenige werden zu Museen, wenn die Mächtigen woanders ihren Geschäften nachgehen. Ihre Lebensdauer zählt nicht nach Jahrhunderten. 

Es adelte Wertobjekte jedenfalls, wenn sie zum Besitz der Mächtigen gehörten. Mit deren Untergang, wenn Reichtümer – Gold, Silber, Schmuck und Waffen – geplündert waren, fielen aber die Insignien informeller Macht – Schriften, Kunstwerke, Schlösser, Kultstätten oft der Zerstörung anheim. Texte wurden verbrannt, Würdenträger und Priester massakriert. Solche Exzesse forderten in Revolutionen – während Maos Kulturrevolution zumal – unermessliche Opfer. Jüngste Beispiele in Afghanistan, Syrien, im Irak und bei der Christenverfolgung belegen, dass Kampf um die Macht keine moralischen Schranken kennt und selten nach dem Preis fragt.

Opportunismus gewinnt

Machtwechsel bedeutet durchaus nicht automatisch Personalwechsel. Rang muss sich in der jeweiligen Gesellschaft beweisen und behaupten. In der Bundesrepublik kamen etliche hohe Beamte, Richter, Wirtschafts-, gar Heerführer der Nazizeit wieder zu Amt und Würden. In der „antifaschistischen“ DDR auch. Sie wechselten einfach die Weltanschauung. Ähnliches wiederholte sich nach dem Zerfall der UdSSR in deren Satellitenstaaten, darunter dem von der SED geführten. Die Partei überlebte samt Vermögen und Ideologie; ihre informelle Macht ist in den vergangenen Jahren zwar etwas geschrumpft aber keineswegs gebrochen. 

Mehr oder weniger Prominente kamen trotz früher bewiesener strammer Haltung, ob als NS- oder Stasimitläufer, wieder zu Ansehen – sie beherrschen die erforderlichen Rituale, sich zu inszenieren und haben die Masse der Mitläufer auf ihrer Seite. Wichtiger sind jene Gestalten, deren charakteristische Farbe das Grau ist. Sie bleiben gern unsichtbar. Und sie nutzen ihre informelle Macht, im Schatten der Galionsfiguren deren Zielen gemäß das Wertesystem der Gesellschaft zu beeinflussen. Die Sprache ist immer noch wichtigstes Instrument – im Zeitalter digitaler visueller Medien aber längst nicht mehr das einzige.

Der lange Marsch der Ameisen

Als in Europa Buchdruck und Aufklärung die Alphabetisierung beschleunigten, das Selbstbewusstsein der Bürger vorantrieben, sie in wachsenden Städten zu Reichtum kamen und mit dem Adel konkurrierten, griffen sie natürlich auch nach möglichst vielen Insignien. Bücher und Zeitungen stärkten ihren informellen Einfluss. Der Kapitalismus, der nach denselben Mustern Wert schöpfende Sozialismus, Papiergeld und Aktien, digitale Währungen und die immer stärkere Verbreitung von materiellem Wohlstand änderten nichts an der Gier nach Ansehen und gesellschaftlichem Rang, im Gegenteil: Die Informationsgesellschaft brachte eine Ökonomie der Aufmerksamkeit hervor, die noch in den letzten, privatesten Winkel der Individuen eindringen möchte.

Kennzeichen heutiger Konkurrenz ist sowohl das charakteristische Streben nach quantitativer Dominanz – als Auflage bzw. Quote bei den klassischen Medien, als Anzahl von Klicks, Views, Followern, Freunden bei den „Social Media“ des digitalen Zeitalters – als auch nach qualitativer Dominanz in Form möglichst unangreifbarer Moral. Die Mächtigen von „Big Money“ und Politik sind – das war während des Corona-Geschehens evident – umso nervöser, je stärker sich in Medien abweichende Meinungen und von ihnen nicht erwünschte Tendenzen abzeichnen. Sie sehen ihren gesellschaftlichen Rang gefährdet, ihre Propaganda nimmt hysterische Züge an. Bis hin zu paranoider Verfolgung jedes vermeintlichen Gegners erblühen Heuchelei, Panikmache, Verleumdung, Denunziation, Rufmord, Doppelmoral.

Hexenjagd, kommunistischer Klassenkampf und Kommunistenhatz, Imperialismus, Nationalismus und Globalismus, Antisemitismus, Rassismus in alle Richtungen: Da waren und sind Heere von Streitern, die alle möglichen Farben und Symbole mit sich führen und für sich noble Ziele und das Recht zur „Gegneranalyse“ reklamieren – eine hübsche Sprachmaske für gute alte Feindbilder.  

Ihr Anspruch kulminiert letztlich in Alleinstellung, in totaler Deutungshoheit. Die Kirche, ihre purpurgewandeten Kardinäle, ihr gekröntes Oberhaupt sind davon inzwischen so weit entfernt wie der Dalai Lama; derweil tritt Xi Jin Ping mit kaiserlichem Aplomb in Mao Zedongs Fußstapfen, Mullahs möchten die ganze Welt islamisieren, und im Westen verbünden sich Figuren wie Klaus Schwab, Bill Gates und andere Superreiche mit Politbürokraten und ihrem Gefolge in Medien und „NGO“, um mittels immer stärker global vernetzter Korporationen wie der UNO und der EU eine Weltregierung zu etablieren.

Werden sich acht Milliarden Menschen bereitfinden, sich zu einem „Superorganismus“ erziehen zu lassen, damit ihr Wohlergehen durch Freiheitsentzug, Kontrolle und Überwachung gewährleistet wird? Sehen sie – angestellt in staatlich verwalteter „materieller Sicherheit“ – darin die Zukunft? „Die Erschaffung des Angestellten“ enthält einige Gedanken dazu. 

Die Macht der Unsichtbarkeit

Ein Phänomen, das mit den Massenmedien und ihrer spezifischen Ökonomie der Aufmerksamkeit herangewachsen ist: Informelle Macht wird immer wichtiger – von wem, wann, wo und wie sie gemanagt wird, soll aber durchaus nicht immer öffentlich werden. Rangordnungskämpfe innerhalb von Korporationen etwa, können deren Ruf ebenso schaden wie schwere, nicht mehr zu leugnende Fehler. Nicht nur VW lieferte in den beiden vergangenen Jahrzehnten reichlich Beispiele. In der „Informationsgesellschaft“ wächst und gedeiht daher das Geschäft der Desinformation.

Für große Korporationen und ihre Angestellten ist es existenzbedrohend, wenn ihnen schwerwiegendes Versagen nachzuweisen ist. Angestellte werden deshalb nicht nur für Leistungen bezahlt, sondern auch fürs Vermeiden von Konflikten und Verschwiegenheit nach außen. Andererseits ist nicht nur unternehmerisches Handeln mit Risiken verbunden, sondern ebenso politisches: das von Parteien, Justiz, Medien und „NGO“. Zu ihrem Geschäftsmodell gehören moralische Ansprüche .

Werden sie denen nicht gerecht, hilft keine Versicherung. Bestenfalls lässt sich Schuld verschleiern. Die simpelste Strategie, Verantwortungslosigkeit vorab zu organisieren: Ich ignoriere einfach Einwände, Widerspruch, Kritik. Wer trotzdem unbequeme Fragen stellt, den speise ich mit reichlich Phrasen ab, oder lasse ihn nicht zu Wort kommen. Falls das nicht reicht, kann ich meinen Mangel an Argumenten dadurch verdecken, dass ich die Glaubwürdigkeit solcher Gegenspieler in Frage stelle. Das Wort „umstritten“ machte in diesem Sinne eine mediale Karriere ohnegleichen. 

Dem ersten Etikett lasse ich eine Serie weiterer Stempelattacken – etwa die Frage: Wollen Sie der Konkurrenz in die Hände arbeiten?“ – folgen, gern mit etwas Kontaktschuld geschärft, um das Vertrauen in Personen mit abweichender Meinung allgemein und des jeweiligen Kontrahenten im Besonderen zu schreddern.

Der Sündenbock – das symbolische Opfer

Da Aufmerksamkeit für Schlägereien und Hinrichtungen leichter erlangt wird als für zähen Austausch von Argumenten, bin ich schon im Vorteil, kann zusätzlich von dem im alten Rom gebräuchlichen Wort „Audacter calumniare – semper aliquid haeret!“ profitieren: „Nur dreist verleumden – es bleibt immer etwas hängen!“ So fand sich mancher Sündenbock. Das Ritual wirkt.

Es gibt nie genug Zahlen, Statistiken, Erhebungen, Umfragen, Studien, Expertisen, um nicht aus einem Konflikt etwas unentwirrbar Komplexes zu posamentieren, aus manipulierten Fragen, Aussagen, Zitaten dem Sündenbock Bösartiges zu unterstellen. Sehr hilfreich ist, mit einer möglichst unüberschaubaren Menge von widersprüchlichen Informationen das Publikum – oder auch ein Strafgericht – zu verwirren. 

Wenn’s schief geht – wenn sich etwa Zwangsmaßnahmen in einer vermuteten Pandemie als unsinnig, schädlich und nicht oder nur mit großem Aufwand reparabel erweisen, der Sündenbock obendrein als unschuldig – hebe ich bedauernd die Hände: „Tut mir leid, damals haben wir es nicht besser gewusst.“ Und füge gnädig hinzu: „Wir sollten einander verzeihen, denn wir haben nur für alle das Beste gewollt und unsere Arbeit gemacht. Jener aber war destruktiv. Oder wollen Sie behaupten, Sie hätten alles besser gemacht?“

Das geht meistens gut, das Vergessen ist mein Freund, des Applauses meiner Korporation darf ich mir solange sicher sein, wie für alle die Pfründe gesichert ist.

Unwillkommenen Informationen den roten Stempel „Verschwörungstheorie“ aufzudrücken, geht allerdings nach hinten los, wenn sich diese Informationen als zutreffend erweisen. Elon Musk hat mit der Veröffentlichung der „Twitter-Papers” in ein Wespennest gestochen: Das Zusammenspiel von Medien mit Politikern, Konzernen, im Mainstream navigierenden Profiteuren des Wissenschaftsbetriebs beim Ersticken solcher Informationen wurde offenbar. Was tun? Versuchen wir’s mit Ignorieren.

Es bedarf gar keiner Verschwörungen. Korporationen sind so aufgestellt, dass Krebswachstum und Intransparenz in ihre Gene eingeschrieben sind. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber wer eine Partei, einen Staat, Konzern, eine wissenschaftliche oder sonstige Institution finden will, die frei von Korruption ist, wird lange suchen müssen. Es geht ja nicht nur um Geld – also Habsucht – sondern immer auch um informelle Macht: um Rangordnungen. Da locken Titel, Orden, Aussichten auf Emporkommen dank Beziehungen statt Leistungsbezug.

Ohne den Wunsch zu gewinnen, geachtet zu werden, ohne Dominanzimpuls sind Menschen – vielleicht sogar Ameisen – kaum lebenstauglich. Ebensowenig ohne Bereitschaft, Kompromisse zu machen. Aber wenn ein einzelner Impuls über-„mächtig” wird, als Herrsch-Sucht, die nach immer mehr bürokratischen Regeln, Überwachung und Kontrollen verlangt – dann stirbt nicht nur die Freiheit, sondern mit ihr jedes Vertrauen. 

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