Gegen den Strich gelesen: Marcuse

Negerkuss, Zigeunersoße und Judenkuchen sind verschwunden. Der ethnische Hintergrund von Straftätern bleibt nach wie vor meist ungenannt. Toleranz wird zwangsweise in der Schule unterrichtet. Teilweise greift die «Korrektur» bereits in historische Texte ein. Sogar die Bibel gibt es mittlerweile in «gerechter Sprache». Gesetzliche Verbote der Diskriminierung von benachteiligten Gruppen wie Frauen, Alte, Homosexuelle, Vorschriften über eine geschlechter- bzw. gendergerechte Sprache nehmen täglich zu. 

Kritiker von Islamisierung, von Euro, von Kriegführung zur Sicherung der Humanität und Aufrechterhaltung eines Status quo staatlicher Grenzen, von Zuwanderung, von Asylmissbrauch, von Anerkennung homosexueller Ehen oder von schulischer Sexualkunde werden pauschal als «Nazis» klassifiziert. Dagegen kann das Christentum gefahrlos kritisiert werden. Den Kapitalismus muss man kritisieren. Den Klimawandel darf man so wenig «leugnen» wie Auschwitz; und jedes Kind weiß ja inzwischen, dass Auschwitz und der Nationalsozialismus ebenso wie der Klimawandel ein unmittelbares, unvermeidliches Ergebnis des Kapitalismus darstellen. 

Wer das nicht so sieht, sieht sich umgehend ebenfalls in die Nazi-Ecke gestellt. Satire darf zwar «alles», aber nur im Einklang mit der politischen Korrektheit. Also bitte ganz bestimmte Witze unterlassen, um nicht die Gefühle ganz bestimmter, favorisierter Gruppen zu verletzen.

Im Namen der Toleranz wird zunehmend sowohl von staatlicher als auch von medialer Seite Intoleranz ausgeübt und gefordert. Der Einsatz von staatlicher Gewalt und von öffentlicher Meinung, die die Toleranz zu fördern und zu verteidigen behaupten, ergibt einen Teufelskreis, der in die Hölle von gutgemeinter Intoleranz, Repression und Aufhebung der Freiheit treibt.

Vor 50 Jahren hat der neben Theodor W. Adorno prominenteste «Kulturmarxist» Herbert Marcuse (1898-1979) seinen einflussreichsten Essay mit dem Titel «Repressive Toleranz» veröffentlicht. Ihn heute zu lesen, ist ein Erlebnis besonderer Art. Denn über weite Strecken liest er sich, als sei er neulich geschrieben von einem Kritiker der politischen Korrektheit. 

«Wenn Toleranz in erster Linie dem Schutz und der Erhaltung einer repressiven Gesellschaft dient, wenn sie dazu herhält, die Opposition zu neutralisieren», schrieb er, «dann ist Toleranz pervertiert worden». Gesetz und Ordnung seien überall und immer Gesetz und Ordnung derer, die die etablierte Hierarchie schützen. Durch Medien, Schule, Politik und Gesetzgebung werde eine Sprache und ein Denken geformt, wie Marcuse weiter ausführt, welches die Mehrheit der Bevölkerung dahin bringt, die «Demokratie mit totalitärer Organisation« zu tolerieren und Abweichlern gegenüber intolerant zu sein. Marcuse geißelt schließlich auch ein öffentliches Werben für eine ungezügelte Form der «Selbstverwirklichung», die einen Nonkonformismus ermutigt, der die wirklichen Unterdrückungsmechanismen der gleichgeschalteten Gesellschaft unberührt lässt.

Wenn Marcuse seinen Essay beginnt mit der Formulierung, «dass die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen erheischen würde – sowie die Ausdehnung der Toleranz auf politische Praktiken, Gesinnungen und Meinungen, die geächtet und unterdrückt werden», so meinte er damit, wie später im Text deutlich wird, «befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links». 

Rechten die Toleranz entziehen und Linke begünstigen – ginge das so weit, linken und eventuell sogar islamistischen Antisemitismus zu tolerieren, gegen rechten jedoch mit der ganzen Härte des Gesetzes vorgehen? Marcuse kann das nicht gemeint haben.

Heute sind jene die Vertreter der Repression und des herrschenden Status quo, die sich den von Marcuse in seinem Essay immer wieder, wenn auch meist bloß stichwortartig erwähnten Inhalten verschrieben haben: Kampf gegen Rechts, gegen die ökonomische Macht der Wirtschaft, gegen den Betrug auf dem Markt, gegen Reklame usw. Nur seine Mahnung, dass militärische Interventionen, um Frieden und Freiheit zu sichern, nichts seien als «das Grundvokabular der Orwellschen Sprache», ist in der politischen Korrektheit auf der Strecke geblieben. Ironie am Rande: Marcuses Essay würde heute seinerseits unter die Zensur der herrschenden Linken fallen, da er an einer (inhaltlich unbedeutenden) Stelle von «Negern» spricht – damals, 1965, ein wertfreier Begriff.

Heute stellt sich der von Marcuse analysierte Mechanismus, mit welchem die «veröffentlichte und verordnete» Sprache den Zugang denjenigen «Wörtern und Ideen versperrt, die anderen Sinnes sind als die etablierten», folgendermaßen dar: Auf der einen Seite muss der anständige Deutsche für eine multikulturelle Willkommenskultur eintreten, auf der anderen Seite dem Realitätsprinzip Genüge tun und eine Abwehr von Einwanderungswilligen an den Grenzen der EU tolerieren, die der Todeszone der verflossenen Deutschen Demokratischen Republik alle Ehre macht. Dies gilt als die einzig vernünftige Haltung, der gegenüber Abweichungen entweder links- oder rechtsextremistisch, irrational und populistisch zu nennen sind. 

Oder man hat als Deutscher das marode staatliche Gesundheitswesen als das beste der Welt und als Krone des Sozialstaates zu preisen, während man gleichzeitig den Skandal der Zweiklassenmedizin geißeln muss. Solche und ähnliche Denkfiguren, die objektiv irrational bis hin ins Lächerliche sind, werden durch «die Reklame der bestehenden Mächte» etabliert «und in deren Praktiken» verifiziert. 

Es ist nicht möglich, 50 Jahre nach der «Repressiven Toleranz» ihren Begriff in dem von Marcuse gemeinten Sinne als Ganzes zu erhalten. Man kann entweder seinem Inhalt die Priorität geben. Dies ist der Weg des sozialdemokratisch-grünen Mainstreams mit seiner politischen Korrektheit. Dieser Weg kann sich durchaus auf Marcuses Text berufen. Ausdrücklich befürwortet Marcuse, dass «Gruppen und Bewegungen die Rede- und Versammlungsfreiheit entzogen» werde, die «eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen»; ja sogar von «neuen und strengen Beschränkungen der Lehren und Praktiken in den pädagogischen Institutionen» und von Intoleranz gegenüber ihm missliebiger wissenschaftlicher Forschung fantasiert er.

Wie die Entwicklung der letzten 50 Jahre gezeigt hat, hebt er auf diese Weise allerdings die kritische Bedeutung seines eigenen Begriffs von der «repressiven Toleranz» schlechterdings auf. Repressive Toleranz wird dann befürwortet, sofern sie die der heute herrschenden Klasse nützliche Politik stützt. 

Das Ergebnis ist jedoch nicht die von Marcuse erträumte Freiheit oder auch nur das Erwachen der Massen zu demokratischer Mündigkeit, vielmehr eine beispiellose Gleichschaltung und Degradierung der Bürger zu von der Bürokratie abhängigen, unmündigen Kindern. 

Man kann also entweder Marcuses Inhalt die Priorität geben, oder man kann die Struktur seiner Kritik an der repressiven Toleranz von ihren zufälligen, dem politischen Tagesgeschäft geschuldeten Inhalten ablösen und ihren befreienden formalen Kern erhalten. Was wir brauchen, ist eine kapitalistische außerparlamentarische Opposition, die der repressiven Toleranz 2.0 Widerstand leistet: Es geht darum, «die Sprache von der Tyrannei der Orwellschen Syntax und Logik zu befreien» und «die Begriffe zu entwickeln, welche die Realität erfassen».

Hinweis: Belegstellen für meine Lesart Marcuses finden sich in Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt (edition g. 110), S. 8-14.

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