Protokolle der Aufklärung #27
Die Fürsprecher der derzeit üblichen Form der Bildung berufen sich immer noch auf einen Begriff, der in einer Geistesströmung wurzelt, die Ende des 18. Jahrhunderts wiederbelebt wurde: den Humanismus. Die durch den Humanismus beflügelte Bildungsidee hat, vom Freiheitsstandpunkt aus gesehen, Vieles für sich. Was man aber in der Bildungspraxis darüber sieht und hört, stimmt absolut nicht erfreulich. Das Beharren des allgemeinbildenden Schulwesens auf dieser Idee ist in sich widersprüchlich. Inwiefern?
Humanismus und Schule
Wilhelm von Humboldt und seine freiheitsbegeisterten Zeitgenossen waren hinsichtlich einer humanen Persönlichkeitsbildung geradezu euphorisch: Auf allen Stufen seines Werdens soll sich der Mensch ungezwungen entfalten dürfen (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Der richtige Weg“). Zu einem radikalen Neubeginn im Bildungswesen unter dem Freiheitsfanal, das zu deren Zeiten vor allem durch die Revolution beflügelt wurde, konnten sie sich jedoch nicht durchringen. An Bildungsräume, die einem dazu passenden Lernen gerecht gewesen wären, wurde nicht gedacht. Es blieb weiterhin bei den damals schon vorhandenen Staats-, Kirchen- und Gemeindeschulen. Sie wurden lediglich reformiert, aber nicht ersetzt. Das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen ist deshalb bis heute das Leben in einer von oben her organisierten Schulwelt.
Weil die Freiheitsvorstellung der Humanisten sich mit dem bereits voll ausgebauten Schulwesen verband, trug ihr Bildungsideal den Keim seines Niedergangs von Anfang an in sich. Es hatte nie eine Realisierungschance. Denn es machte sich nicht immun gegen den Duktus der vor seinem Aufkommen schon bestehenden Bildungsanstalten.
Den humanistischen Klassikern gelang es nicht, zu den real existierenden Schulen kritisch Stellung zu beziehen. Die Schulen bemächtigten sich jedoch deren Ideen und schmückten sich damit, etwa in Gestalt sogenannter „humanistischer Gymnasien“. Dort wurde Bildung mit dem Einpauken alter Sprachen verwechselt. Das Leben in diesen Anstalten und die nach wie vor ehrenwerte Idee der humanistischen Bildung standen von Anbeginn in einem eklatanten Widerstreit. Ätzender als der Gymnasialpädagoge Alfons Grübener in seinem Buch „Wege nach Pisa“ kann man diesen Widerstreit kaum beschreiben.
Die Wortführer einer freiheitlichen Persönlichkeitsbildung stellten zwar das Individuum und sein Werden in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Ihnen verdanken wir auch, dass der Begriff „Bildung“ ausdrücklich und unwiderruflich mit dem Freiheitsbegriff verknüpft wurde. Sie lieferten aber keine Handhabe, wie man Humanität und Freiheit schlüssig im überkommenen Schulwesen verankern konnte. Typisch für ihr Vorgehen: Der emphatische Humanist Wilhelm von Humboldt schmiedete Schulpläne. So entwickelte sich, was sich entwickeln musste: Bildungseinrichtungen, die den Begriff „Humanismus“ in sein Gegenteil verkehrten, ihn aber nach wie vor für ihre Aktivitäten in Anspruch nehmen.
Humanität und „Nürnberger Trichter“
Irgendwann wird auch der großen Öffentlichkeit nicht mehr verborgen bleiben, dass der Stil des schulischen Lernens (im Wesentlichen mittels „Nürnberger Trichter“; siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Draufsicht auf das schulische Lernen“) der Freiheitsidee komplett entgegensteht. Viele Bildungsbeauftragte sind – und offenbar gerade aufgrund ihrer „Bildung“ – von sich und ihrer Vernunft soweit weggezogen, dass es für sie unmöglich ist, diesen Widerspruch zu erkennen.
Humanistische Bildung und Schule haben eigentlich niemals zusammengepasst. Wenn wir uns über die Persönlichkeitsstruktur humanistisch Beschulter Aufschluss verschaffen wollen, müssen wir uns vorrangig nicht dem zuwenden, was die Theorie verkündet, sondern dem, was uns die Praxis zeigt:
Heinrich Himmler, der im Nazireich federführend für die Judenvernichtung war, hatte eine vorbildliche „humanistische Bildung“ genossen. Und er stammte aus einem Elternhaus, dessen Bildungsstand seinerzeit nicht übertroffen werden konnte. Sein Vater war Gymnasialprofessor und Direktor eines überregional bekannten Bildungsinstituts. Als der junge Himmler seinem Elternhaus entwuchs, erlag er sofort der nationalsozialistischen Ideologie. Der Wiener Schriftsteller Franz Grillparzer bewies guten Instinkt, als er schon vor ca. 180 Jahren schrieb: „Der Weg der neueren Bildung geht – von der Humanität – durch die Nationalität – zur Bestialität.“
Unabhängig davon, ob es in Zukunft Schulen weiterhin geben wird oder nicht, die in ihnen veranstaltete Form des Lernens steht konträr zu dem von den Humanisten einstmals erhobenen Anspruch, freie Persönlichkeiten heranbilden zu wollen. Die Schule selbst wird diesen Anspruch nicht aufgeben. Er hat eine legitimierende Funktion für viele ihrer Aktivitäten und vor allem für ihren inzwischen riesigen Geldbedarf.
Die christlich-abendländischen Werte
Wenn einige Feuilletonisten klagend feststellen, dass im Laufe der Jahre ein „erschreckender Niveauabfall bei der Realisierung der christlich-abendländischen Werte“ stattgefunden hat, sind sie im Recht. Wenn sie damit sagen wollen, dass diese „Werte“, die ja kernhaft den Freiheitsimpuls in sich tragen, dadurch Schaden erlitten hätten, sind sie im Unrecht. Was von ihnen als Verlust der „Werte“ gedeutet wird, hat der Freiheit und ihren vorerst nur bescheidenen, mangels passender Geisteskultur manchmal aber auch groben Ausdrucksformen viel Auftrieb verschafft.
Nicht die „Proletarisierung der Bildungswelt durch Massenzuwachs“ (vor allem an den höheren Schulen), nicht das „unverantwortliche Kaputtsparen im Schulwesen“ bewirkt die Vernichtung der „Werte“, sondern der eklatante Widerstreit, in dem sie zur Form ihrer Vermittlung stehen und der immer intensiver empfunden wird. Denn bisher sollten die „Werte“ quasi mit Gewalt in die Köpfe des Nachwuchses.
Seit Jahrzehnten schmilzt der „warme unheimliche Atem des Tauwinds“ (Friedrich Nietzsche), der in der Aufklärungsepoche aufkam, die Eisblöcke der „christlich-abendländischen Werte“ Stück für Stück ab. Nicht zuletzt deswegen, weil sie seit Generationen mit Gewalt (Schulzwang) in die Bildungs-Objekte gedrückt werden sollten. Der „warme Tauwind“ bringt den Widerstreit, der unser Bildungswesen charakterisiert, unverhüllt ans Licht. Er weht einmal mehr, einmal weniger. Zeitweilig herrscht Windstille. Aber der Wind nimmt immer wieder Fahrt auf.
Eigentlich geht es den Bildungskritikern der verflossenen Jahrzehnte gar nicht um das Aus der „christlich-abendländischen Werte“. Die hatten ja ihre Position über Jahrhunderte hinweg im Bewusstsein der Öffentlichkeit gefestigt. Nicht die „Werte“ stehen zur Disposition, sondern die Form ihrer Tradierung, die Art und Weise, in der sie übermittelt werden. Diese Form steht ihrem Wesen diametral entgegen. Denn zu ihrem Wesen gehört der Freiheitsimpuls – dies besonders bei der Persönlichkeitsbildung.
Wieviel Wert messen wir unseren „Werten“ denn zu, wenn wir glauben, sie durch Beschulung optimal vermitteln zu können? Krasser kann der Widerspruch doch gar nicht sein, in dem sie zur Art ihrer Weitergabe stehen. Die Schule beweist: In der menschenunwürdigen Form, in der das Abendland seine Persönlichkeitsbildung organisiert, verrät es selbst seine bei jeder Gelegenheit hochgepriesenen „Werte“.
Dass jetzt bei radikalkritischen Leuten die „Werte“ als solche verworfen werden, war zu erwarten. Die Eliten unserer Gesellschaft, vor allem jene, die sich durch lauthalsiges Klagen über den Verlust der „Werte“ hervortun, haben versäumt, etwas dagegen zu tun. In ihrer übergroßen Angst um das Aus ihrer „Werte“ setzen sie nach wie vor auf die Nürnberger-Trichter-Methode bei deren Vermittlung. Jetzt müssen sie sich nicht wundern, wenn zusammen mit der „Bildung“ auch die Werte untergehen, mit dem Bad gewissermaßen auch das Kind ausgeschüttet wird.
2 Kommentare. Leave new
Die Konsequenz dessen, was Sie treffend beschreiben, ist doch, dass das überkommene politisch-staatliche Schulsystem verschwinden und ersetzt werden muss durch ein freies, von Staat und Wirtschaft unabhängiges Schulsystem, das sich selbst verwaltet. Nur freie Lehrer können Menschen glaubhaft zur Freiheit erziehen.
Vgl.: https://fassadenkratzer.de/2017/06/16/allmaechtiger-staat-die-fesselung-des-bildungslebens/
Genau das ist die Konsequenz. Wir sind allerdings nicht die Ersten, die das so sehen. Seit Jahrzehnten hören wir die Klagen. Bei all dem entsteht schnell auch die Frage: Was dann?? (Bei jeder Systemkritik immer meine „Gretchenfrage“). – Und genau hier wird es dünn in der Luft.