Karriere im System

Protokolle der Aufklärung #11

In meinem Sandwirt-Beitrag Das System ist die politische Organisation eines für heutige Verhältnisse normalen Staatsgebildes beschrieben, und zwar anhand des Beispiels Deutschland. Wie kommt man nun nach oben im „System“? 

Für die Antwort fehlen mir trotz meines einstmaligen Lebens in Bonn, dem früheren Standort des bundesdeutschen Parlaments- und Regierungsbetriebs, viele Beobachtungsdaten. Ich muss auf Insiderwissen zurückgreifen, insbesondere auf das Wissen von Personen, die durch langjährigen Aufenthalt in der Politik Erfahrungen aus erster Hand haben. Das ist beispielsweise bei Hans Apel und Wilhelm Hennis der Fall. 

Apel war – wie ich im oben erwähnten Beitrag schon andeutete – einer der erfolg- und einflussreichsten Politiker Deutschlands. Er war mit dem „System“ fünfundzwanzig Jahren eng verwachsen: im europäischen Parlament, im Bundestag und als Inhaber zweier Ministerposten. 

Auch sein Parteigenosse Hennis saß jahrelang im Bundesparlament. Wir können davon ausgehen, dass beide mit den Abläufen im „System“ bestens vertraut waren. Ergänzen möchte ich ihre Enthüllungen durch die inzwischen legendären Untersuchungsergebnisse des Staatsrechtlers Hans Herbert von Arnim.

Laufbahn der Parlamentarier

Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist deshalb wichtig, weil viele Menschen nur deshalb in eine politische Partei eintreten, weil sie im bürgerlichen Leben möglichst weit vorankommen wollen. Streben sie darüber hinaus eine politische Machtposition an, muss man erwarten dürfen, dass sie mit gebotener Professionalität die Interessen ihrer Klientel vertreten. 

Apel beschreibt die Laufbahn hinein in die Politik so: „Der Weg in ein parlamentarisches Amt führt … ausschließlich über die Parteien. Damit ist das Verhalten und das Karrieremuster der Bewerber vorgegeben … Ihr Leben und ihr Aufstieg in der Enge der Partei bringt sie in die Gefahr, sich von der Umwelt zu entfremden. Denn die Partei und nicht das Umfeld entscheidet, ob und wie es mit ihnen weitergeht … Berufliche Erfahrung fehlt ihnen weitgehend. Sie kann also nicht korrigierend wirksam werden … 

Wenn der frisch gewählte Abgeordnete nach Bonn kommt, wird er, falls das noch notwendig ist, einem Prozess der Sozialisierung unterworfen, in dem er lernt, das zu wollen, was von ihm erwartet wird. Fraktions- und Parteidisziplin werden schließlich so verinnerlicht, dass sie zu einem Wert an sich werden. Das bei jeder Erziehung so wichtige Element von Belohnung bei Wohlverhalten und Bestrafung bei Ungehorsam wird von den Fraktionen wirksam eingesetzt. Die Fraktionsführung hat entscheidenden Einfluss darauf, ob es für die von Natur aus ehrgeizigen Abgeordneten eine politisch-parlamentarische Karriere gibt … oder nicht“.

Der Anwärter für eine politische Karriere muss sich vor allem selbst verleugnen. „Seine Fremdbestimmung ist … unübersehbar … Wenn er seine Wiederwahl erreichen will, muss er sich anpassen. Weil er seine Wiederwahl braucht, weil das Mandat seine Existenz sichert … erzwingt allein schon diese materielle Abhängigkeit seinen Kotau vor dem politischen Willen seiner Partei.“ 

Das lässt „eine optimale Auswahl eher zufällig erscheinen … Die Bundestagsabgeordneten sind Teil des entwickelten Machtanspruchs der politischen Parteien und längst nicht mehr unabhängige politische Individuen.“ 

Auf dem Weg ins Parlament muss der Aspirant ein befehlsgehorsamer Musterschüler seiner Parteienideologie sein. Der Weg verwandelt die Menschen nicht in Persönlichkeiten, sondern in „merkwürdige Roboter“, meint Rory Stewart, ein ehemaliger britischer Parlamentarier und Minister. 

Da alle Parlamentsangehörigen Mitglieder politischer Parteien sind, ist zu vermuten, dass sie weniger aufgrund persönlicher Qualifikation, sondern eher wegen ihrer Ergebenheit zur Doktrin ins Parlament gelangen. Durch parteikonformes Verhalten und durch Einüben einer gewissen Eloquenz müssen sie ein zum Parlament passendes Profil entwickeln, um dort einen Sitz zu ergattern. Der Trend dahin wurde durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe verstärkt (Urteil vom 13. Juni 1983). Damit wurde das für die deutsche Politik typische Laufbahnmodell höchstrichterlich festgeschrieben. „Das Bundesverfassungsgericht will den Parteisoldaten“, resümiert Apel. Und: „Die Parteien dulden keine Götter neben sich. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie“, ergänzt Hennis.

Das Ergebnis

Was wir am Ende einer solchen Laufbahn vorfinden, ist „der neue Typ des smarten Parlamentariers“, der ständig „intellektuell-politische Hochstapelei“ betreibt, sagt Apel. 

Hennis sieht das ähnlich: Die Art, in der sich heute eine politische Karriere vollzieht, ist für „die verbreitete Kümmerlichkeit des politischen Personals“ verantwortlich und für den „Leerlauf des Bundestagsbetriebs“. 

Der heute übliche Karriereweg des Politikers lässt daran zweifeln, dass Leute in die Repräsentanz gelangen, die auf eine fachgerechte Kontrolle der exekutiven Monopole vorbereitet sind. Dreimal dürfen die Leser raten, ob ein Parlament, das mehrheitlich mit Behördenangestellten, (Hoch-) Schullehrern, Soziologen und Verwaltungsjuristen besetzt ist, einschlägige Praxistauglichkeit vorweisen kann. Man kann davon ausgehen, dass eine fundierte fachspezifische Kompetenz, z. B. ein Wissen über die ökonomische Struktur von Staatsmonopolen, die die die Parlamentarier ja eigentlich kontrollieren sollen, bei ihnen nicht oder nur in seltenen Fällen vorhanden ist. Selbst dann, wenn sie darüber verfügen, müssen sie an sich halten: „Sie riskieren ihr politisches Dasein, wenn sie die Wahrheit sagen“, wusste schon Karl Jaspers. 

Eine sorgfältige Betriebskontrolle bei Monopolen verlangt eine exquisite Kenntnis von Wirtschaftsabläufen, insbesondere in jenen Bereichen, welche die kollektiven („öffentlichen“) Güter liefern. Es ist zu beobachten, dass viele Parlamentarier diesbezüglich nicht im Geringsten vorbereitet sind, selbst dann nicht, wenn sie sich von der Ausbildung her Ökonomen oder Juristen nennen. In der Tat ist es so, dass der weitaus größte Teil von ihnen noch nie einen Wirtschaftsbetrieb oder eine Rechtsschutzeinrichtung von innen gesehen hat. Die Arbeitsstätten des an der Front arbeitenden Volkes kennen die „Volksvertreter“ nicht, geschweige denn die Wesensstrukturen der alltäglich dort ablaufenden Prozesse.

Da kann es schon mal vorkommen, dass ein ehemaliger Schullehrer als Wirtschaftsminister und ein weiterer als militärischer Oberbefehlshaber agiert, dessen Posten später eine Ärztin übernimmt. Das könnte für die Lehrer- oder Medizinerzunft sprechen, die offenbar solche Tausendsassas hervorzubringen vermag. Dem widersprechen die Aussagen der ehemaligen Insider Apel und Hennis (s. o.). 

Christoph Braunschweig diagnostiziert „schiere Borniertheit“, einen „Typus Berufspolitiker, dessen bildungsmäßiger … Hintergrund eine Karriere in der privaten Wirtschaft ausschließt“. 

Hans Herbert von Arnim spricht von geistiger Verzwergung in Bezug auf die Abgeordneten. Sie ließen sich von Halbwissen, koalitionsinternen Befindlichkeiten und der öffentlichen Meinung treiben, lesen wir in der Wirtschaftswoche.

Systemische Überforderung

Noch ein weiterer Aspekt in Sachen Professionalität des Parlaments ist zu erörtern: Der Staat ist nicht nur schlicht Monopolist, sondern Monopol-Konzern (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Das System“). Das bedeutet, er deckt eine reichhaltige Funktionspalette ab. Die deutsche Verfassung, das sogenannte „Grundgesetz“ (kurz: GG), gibt eine Übersicht über die wichtigsten staatlichen Dienstleistungsbereiche (Artikel 73 bis 75 GG). Diese Bereiche sollen insgesamt unter die Zuständigkeit eines jeden Parlamentariers fallen. Denn der soll bei seinen Entscheidungen nur einer einzigen Instanz, seinem Gewissen, verpflichtet sein (Artikel 38/1 GG).

Betrachtet man die Übersicht in den oben erwähnten Verfassungstexten genauer, dann fällt auf, dass Bereiche genannt sind, denen ganz unterschiedliche Anforderungsprofile entsprechen. In all diesen Bereichen soll der vom GG vorgesehene Idealpolitiker eigenständige Entscheidungen treffen. Das GG erwartet vom Parlamentarier, dass er sich in sämtlichen Funktionsbereichen des Staatsbetriebs auskennt. 

Die Überforderung im Amt ist also gar nicht so sehr das persönliche Problem von Einzelnen. Sie ist systemisch – fixiert in der Organisationsregel des Systems. Jeder Parlamentarier ist der Verfassungsvorschrift im Artikel 38/1 GG unterworfen. Er soll ganz aus sich selbst heraus entscheiden – „nur seinem Gewissen unterworfen“. Es wird vom „Grundgesetz“ etwas gefordert, das wohl nur der Allmächtige kann. 

So ist nicht verwunderlich, dass deutsche Parlamentarier (als die vom GG beabsichtigten Obergeneralisten) offiziell zwar für alles, in Wirklichkeit aber für nichts richtig gut sind. Ein noch so ernsthaftes Bemühen, in der Vielfalt einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, muss sich irgendwann totlaufen. Weil Parlamentarier nun einmal keine Übermenschen sind und sich daher durch das breit gefächerte Aufgabenfeld in ihren Jobs überfordert fühlen müssen, schalten sie eines Tages – und das ist nur verständlich – den Überlebensgang ein.

Die Scheinlösung

Die Organisatoren des „Systems“ versuchen, das Problem, das mit dem GG z. B. für Deutschland entsteht, mit dem Ausschusswesen zu beheben. Dieser Weg ist nicht nur umständlich. Er steht auch im Widerspruch zu der in 38/1 GG festgeschriebenen Forderung, Parlamentarier sollen bei ihren Entscheidungen unabhängig sein. Denn das muss auch heißen: nicht irgendwelchen Ausschusskompromissen oder Fraktionsmeinungen unterworfen. Die Spezialisierung der Parlamentsarbeit in Form von Ausschüssen kann selbst durch die unverfrorenste Rabulistik bei der Auslegung des 38/1 nicht gerechtfertigt werden. 

Im Parlament und seinen Ausschüssen sind Meister des großen Worts gefragt. Viel des dort Gesagten ist bilderreich in Szene gesetzter Blödsinn. Wer dort intellektuell den Ton angibt, entlarvt sich oft als Bonsai-Gelehrter. Außerdem: Eine weit verbreitete doktrinäre Verbohrtheit verhindert vernünftige Sacharbeit. Dies ist sicher einer der Gründe für die ächzenden Entscheidungsmechanismen, von denen uns die Parlamente eindrückliche Lehrstücke liefern – und auch für die abstruse parlamentarische Gesetzesproduktion.

Zu all dem passt, dass sich parlamentarische Ausschussarbeit hinter verschlossenen Türen vollzieht. Ein Ausschuss verhandelt „wie ein geheim tagender Staatsrat“ (Hennis). Was an „Argumenten“ und „neuen Vorschlägen“ durch dessen verschlossene Türen dringt, kommt oft im Gewande gnadenloser Schlichtheit daher. Schon die Rangskala der Dringlichkeit der behandelten Probleme macht einen verworrenen Eindruck. Bei solcher Gemengelage führt oft nur die „Tücke des Geschicks“ politische Regie. „Es ist manchmal schon grotesk, in welcher zufälligen oder tumultuarischen Art es hier [im Parlament] … zur Entscheidungsfindung kommt“, bemerkt Gerd Habermann, der jahrelang gewissermaßen vor der Tür des Bundesparlaments gesessen hat. 

Die Ersatzqualifikation

Ob mit oder ohne parlamentarische Ausschüsse, eine „Volksvertretung“, die so eingerichtet ist wie in Deutschland, stellt eine glatte Überforderung selbst äußerst begabter Menschen dar. Das „Grundgesetz“ mit seinem Artikel 38/1 mutet jedem Parlamentarier zu, Starökonom auf den verschiedensten Wirtschaftsgebieten und zugleich Staranwalt der Gerechtigkeit zu sein, ein Gigagoliath des Geistes sozusagen. „Mit der Realität der Parteiendemokratie steht dieser Artikel … kaum mehr im Einklang“, meint Apel. Mit der Einrichtung von Ausschüssen wird vertuscht, dass das „Grundgesetz“ ein empfindliches Manko hat – auch an dieser Stelle.

Wenn die Frage nach der Eignung der Parlamentarier als Kontrolleure des Staatsmonopolismus derart abwegige Antworten zeitigt, muss gemutmaßt werden, dass hier die Qualitätsfrage als irrelevant angesehen wird. Ein Parlamentarier muss offenbar gelernt haben, sich geschickt durchzulavieren. Ein Höchstmaß von einschlägigem Potential garantiert eine steile Karriere und ein langjähriges Überleben im Amt. Der Erwerb der dafür notwendigen „Fähigkeiten“ minimiert das Risiko des Berufspolitikers, also jenes Menschen, der aufgrund seiner Parlamentszugehörigkeit seine bürgerliche Existenz bestreitet. 

Mit dem Wegfall fundierter politischer Professionalität hat es keine Not. Es entwickeln sich Ersatzqualifikationen. Die sind bei weitem systemgerechter als gediegenes Wissen. Wichtig für das Überleben im Parlament ist die Fähigkeit, bei jedem noch so irrwitzigen Intrigenspiel mithalten zu können, im Ränkespiel der Kräfte und Animositäten einen guten Job zu machen. Die bevorzugte und auch effektivste Daseinstechnik ist das Hintenherum. Der langjährige Parlamentarier und Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble sprach in einem Interview ganz offen von Verrat, Treulosigkeit, Gerüchten, Verleumdungen, Intrigen, die er bei seinen Kollegen beobachtete. Schon Charles-Louis de Montesquieu wusste: Eine Gesellschaft wird vergehen, „sobald die legislative Befugnis verderbter als die exekutive ist“.

Viele Politiker sind „Menschen ohne Würde und ohne Scham“, bemerkt der Dichter John Henry Mackay. „Die schlimmsten unter den Zeitgenossen werden Politiker“, ergänzt der Erkenntnistheoretiker Gerard Radnitzky (2006). 

Eine deutsche Volkspartei hatte jahrelang einen Hehler an ihrer Spitze und einen anderen in ihren Reihen, der als Bürgermeister einer großen Stadt seine Bürger schamlos belogen hat. 

Dass es sowohl mit der Qualifikation, als auch mit der Aufrichtigkeit im Parlament nicht allzu weit her ist, wissen die Bürger inzwischen. Der Fernsehsender Phoenix gab bereits am 27.8.2013 die Ergebnisse einer Studie bekannt, nach der damals nur 11 Prozent der befragten Deutschen die Politiker für integer hielten, 89 Prozent hingegen von deren Unwahrhaftigkeit überzeugt waren. Das EMNID-Institut liefert seither regelmäßig ähnliche Ergebnisse. 

In Griechenland, dem Geburtsland der Demokratie, misstrauen sogar noch mehr Bürger ihren „Volksvertretern“ (96 Prozent; SPIEGEL, 28/2012): „Wir sind schon dankbar, wenn sie uns nicht bei der Arbeit stören.“

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